Auf die Sprache kommt es an

Das „Jahrbuch der Lyrik 2018“ stellt sich dem Zeitgeist entgegen

Von Maximilian MengeringhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maximilian Mengeringhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

2019 wird das Jahrbuch der Lyrik 40-jähriges Bestehen feiern. Der Begründer und ständige Herausgeber Christoph Buchwald darf sich auf Glückwünsche und würdigende Worte für vier Dekaden im Dienste der Poesie einstellen. Zum 50. Geburtstag des Epochenjahrs 1968 schenkt die diesjährige Ausgabe zumindest dem literarischen Erbe der Studentenproteste hingegen nichts. Der Mitherausgeber – Schrägstrich Kopilot, wie Buchwald ihn dezent prätentiös tauft – Nico Bleutge führt in seinem Nachwort zielgerichtet Thomas Klings wirkmächtige Vendetta gegen die betuliche Lyrik der 1970er Jahre weiter: „Im Gedicht geht es nicht um Gefühligkeit, sondern – um Sprache.“ Es sei dahingestellt, wie historisch gerecht das anmutet. Sicher hingegen sollte sein, dass es Sprache selbstverständlich um Natur gehen kann, um Tiere, Technik, den Weltraum, Kritik an allen und jedem und ja, auch Gefühle. Wie die Sprache gerade eben lustig ist, sie lässt sich ihre Sujets nicht diktieren. Einen entsprechend in verschiedene Richtungen weisenden bunten Strauß Gedichte über alles Mögliche hält man mit dem Jahrbuch der Lyrik 2018 in Händen.

Die von Buchwald und Bleutge herausgegebene Blütenlese ist nach der in Verbindung mit Ulrike Almut Sandig zusammengestellten Vorjahresnummer der zweite Band, der unter der Schirmherrschaft des Verlags Schöffling & Co. erscheint. Aus der Resonanz auf die Ausgabe von 2017 scheinen derweil Schlüsse gezogen worden zu sein. Mit der Sprache als ausgemachter Gedicht-Essenz vermeidet man, der heterogenen Auswahl an Texten ein Korsett zu verpassen, das notwendig gesprengt worden wäre. Im Vorjahr hatte sich das Jahrbuch dezidiert in politische Verantwortung genommen und damit die enthaltenen Gedichte vor eine Aufgabe gestellt, der sie mitunter nicht gewachsen waren – alleine schon, weil es ihnen häufig um etwas ganz anderes ging, als sich eindeutig in einem Feld zu positionieren, wo vieles schon gesagt ist. Die Zügel liegen diesmal laxer in den Herausgeberhänden, unterschiedliche Herangehensweisen des Schreibens dürfen sich in den insgesamt acht Kapiteln frei tummeln und mischen. Lediglich das abschließende Kapitel behält die in der Jahrbuch der Lyrik-Geschichte noch junge Tradition, auch Übersetzungen anderssprachiger Gedichte ins Deutsche aufzunehmen, erfreulicherweise bei und ist ausschließlich diesen Übersetzungen vorbehalten. In den übrigen Kapiteln lassen sich zwar jeweils rote Fäden ausmachen – in Kapitel 5 geht es teils dann doch sehr gefühlig zu; die Sektion 6 wiederum hat unübersehbar ein Faible für Textblöcke –, auf deren Linie sich aber keinesfalls alle Gedichte festlegen.

Vielmehr fällt auf, wie sorgsam die Herausgeber bei der Anordnung vorgegangen sind, wie die Gedichte ineinander übergehen, sich thematisch aufeinander beziehen, zum Ganzen verwoben sind. Sylvia Geists „Klärung“ spricht beispielsweise von einem „Strich so satt, / dass er bis nach Texas reicht“, was Marcel Beyers Triptychon „Texas“ mit dem „tiefe[n] Schwarz des Raums“, dem „haarfeine[n] Farbenschlauch“ aufzugreifen scheint. Der semantische Zusammenhang des US-Bundesstaats und seiner Ölindustrie flammt dann im anschließenden Gedicht von Sascha Kokot als „ein gleichmäßiges Raffineriefeuer in großer Höhe“ erneut auf. Solcherart Bezugnahme und Verflechtung stellt eher die Regel denn Ausnahme dar. Hendrik Rost schreibt: „Der Meridian des Obskuren deckt sich / zu großen Teilen mit der Strecke / von Lenins verplombtem Zug / ins Baltische und Gewaltige.“ Monika Rinck konstatiert eine Seite drauf: „Ich bin von innen verplombt und nutze den Nebel als Zelt.“

An weiteren Beispielen, die Interferenzen und Korrespondenzen zwischen den Gedichten aufzeigen, mangelt es keineswegs. Doch auch auf sich allein gestellt stechen einige Gedichte kraftvoll aus der Sammlung hervor. Zu nennen wären exemplarisch Carl-Christian Elzes Rückseite eines Palastes, das selbst für ein Gedicht über Venedig sich derart genüsslich in das Moribunde der Lagunenstadt verbeißt, dass es auch den Leser nicht so rasch wieder loslässt. Nadja Küchenmeisters es beginnt, wo es endet kommt weniger aggressiv, aber darum nicht minder eindringlich daher: ergreifend überführt Küchenmeister die mechanische Monotonie der Formel „es beginnt“ in die melancholische Einsicht, dass in Wahrheit natürlich nichts beginnt, sich lediglich wiederholt und sich darum gerade das dumpfe Gefühl, dass sich nichts verändert, der Status quo aber gleichermaßen keine Geborgenheit vermittelt, nicht abschütteln lässt. Dagmara Kraus‘ çatodas, das mit dem Vers „drei sprachen sind zu groß für deinen mund, mein kind“ einleitet, steht zurecht wie ein vorangestelltes Motto am Anfang des Bands – nachdem Kraus‘ Einsendung im Vorjahr in nahezu jeder Besprechung des Jahrbuchs der Lyrik 2017 als herausragend hervorgehoben wurde. Jürgen Becker indes gelingt – neben zwei im Vergleich schwächeren Beiträgen – ein im besten Sinne tiefsinniger und sprachbewusster Nachruf auf John Ashbery. Überhaupt sind viele bekannte Namen vertreten, die das Niveau der Texte hochhalten, wie die Beiträge von Friederike Mayröcker, Jan Wagner oder auch Ulf Stolterfoht gekonnt veranschaulichen. Letzterer wie gewohnt ein Meister des Settings: „wir steigen gleich voll ein: evan / parker überquert den derek bailey place und sieht genau / wie adolf endler aus. bei ungefähr drei ist auch dieser / satz auf dem baum.“ Eine Freude ist es zudem, wieder einmal von Dana Ranga lesen zu dürfen.

Bei aller Themenvielfalt tauchen irgendwann dann, vor dem Hintergrund der Lyrikdebatten der letzten Jahre, ob ein Gegenstand der Poesie Relevanzkriterien zu erfüllen habe und ob nicht gerade das Genre der Wald- und Wiesenpoesie im 21. Jahrhundert schlichtweg an Bedeutung eingebüßt habe, auch Gedichte über Äpfel wieder auf. Mit ihnen auf den Tisch kommt die Frage, ob man die Verwendung der Stoffe, aus denen sich Kompott, aber nicht zwangsläufig ein einnehmendes Gedicht machen lässt, bekritteln soll oder die Kritik daran im Bewusstsein verschweigt, dass es sich hierbei um eine Geschmacksfrage handelt. Man sollte Äpfel nicht mit Glühbirnen vergleichen. Im Jahrbuch der Lyrik 2018 wird entsprechend ungeachtet jedweder individuellen Vorliebe breit aufgetischt. Man kann die diesjährige Ausgabe gut und gerne als vielseitigen, weithin gelungenen Jahrgang betrachten.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Christoph Buchwald / Nico Bleutge (Hg.): Jahrbuch der Lyrik 2018.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2018.
232 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783895616815

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