Jede Story ein Blick auf die Schattenseiten des American Dream

Die Sammlung erstmals in Buchform veröffentlichter Kurzgeschichten „Keinem schlägt die Stunde“ zeigt die Entwicklung von Charles Bukowski als Autor

Von Rafael Arto-HaumacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rafael Arto-Haumacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Charles Bukowski hat längst seinen Platz in der amerikanischen Literaturgeschichtsschreibung gefunden. Seine durchaus widersprüchliche Bewertung spiegelt dabei die Polarisierung, die sein Werk bei Kritik, Wissenschaft und Leserschaft immer noch auslöst. Den einen gilt er als brillanter Begründer des „Dirty Realism“, der in unappetitlicher, aber präziser Direktheit das aussichtslose, inhaltsleere Leben der gesellschaftlich Ausgegrenzten nachzeichnete und die weniger schmeichelhafte Seite des American Dream-Mythos enthüllte. Die anderen stoßen sich an seiner derben Sprache, den oberflächlich gezeichneten Charakteren und den immer wiederkehrenden Themen, die zwischen Alkohol, Sex, Pferderennbahn und Schreiben changieren. Literarische Kunst? Bukowski-Kritiker schütteln verständnislos den Kopf.

An dieser ambivalenten Rezeption wird auch der vorliegende Band Keinem schlägt die Stunde nichts ändern. Er versammelt Kurzgeschichten, die Bukowski hauptsächlich in verschiedenen (Literatur-)Zeitschriften von 1948 bis 1985 veröffentlichte und die, erstmals ins Deutsche übersetzt, jetzt in Buchform zugänglich werden. Den Großteil bilden dabei 29 Storys, die in der Rubrik „Notizen eines Dirty Old Man“ in den Zeitschriften Open City, Nola Express und schließlich L.A. Free Press erschienen waren. Gelegentlich werden die Kurzgeschichten durch cartoonhafte Zeichnungen illustriert, die Bukowski selbst anfertigte.

Die Welt der Individuen am Rand der Gesellschaft, die Bukowski in seinem übrigen Werk in unzähligen Variationen entfaltet, begegnet auch hier wieder: Jede Story ist ein Blick in den Mikrokosmos abseitiger, menschlicher Existenz. Es geht um die Abgründe des menschlichen Charakters (Fly the Friendly Skies), um staatliche Kontrolle und Repression (Notizen eines Dirty Old Man, 01.-07.11 1968), um oberflächlichen Sex (Keine Quickies), um miese Jobs (Notizen eines Dirty Old Man, 20.12.1974) und fortwährend um verkorkste Beziehungen und die immer falschen Partner (Tanzen mit Nina). Daneben versucht sich Bukowski auch an abstrusen Einfällen, etwa wenn in Ein schmutziger Schachzug gegen Gott aus Blähungen in einer Badewanne außerirdische Kreaturen entstehen, welche die Kontrolle über die Welt erlangen möchten – eine eindeutige und bewusst respektlose Konterkarierung der Schöpfungsgeschichte.

In Bukowskis Welt gibt es wenig Emotionen, kaum Empathie und keine Schamgrenzen. Mit seiner präzisen Beobachtungsgabe und einer entwaffnenden Fähigkeit zur Reduktion seziert der bekennende Misanthrop – Tiere „haben wesentlich mehr Verstand als die Menschen“ – die Mechanismen der Dysfunktion menschlicher Beziehungen und gesellschaftlicher Solidarprinzipien. Liebe erweist sich dabei als romantisiertes Konzept, das chronisch „an der chemischen Zusammensetzung“ scheitert: „Es ist immer dasselbe. Einer, dem sehr daran liegt, und einer, dem nichts daran liegt oder nur wenig. Der, dem nicht so viel daran liegt, ist am Drücker. Die Beziehung endet, wenn der, dem nichts daran liegt, die Lust verliert.“

Die Kurzgeschichten zeigen durchaus die Entwicklung Bukowskis als Autor: Wirken frühe Werke mitunter schnell hingeschrieben (was sie auch waren) und wenig kunstvoll konstruiert (Die Welt retten), entwickelt Bukowski später eine Kunstfertigkeit in Konstruktion und Formulierung, die vielen seiner Storys mehr Stringenz und Wirkungskraft verleiht. In Einbruch beispielsweise entlarvt er in der Konversation zwischen primitivem Einbrecher und gut situiertem Hausbesitzer die Arroganz beider sozialer Klassen gegenüber der jeweils anderen, nur um in der Eskalation der Szene – der brutalen Vergewaltigung der Hausbesitzerin – zu zeigen: Es gibt keine Hoffnung, asoziale Gewalt schlägt Distinguiertheit, es gilt das Recht des Stärkeren.

Eingeleitet wird der Band mit dem von David Stephen Calonne verfassten Essay Charles Bukowskis Graphic und Pulp Fiction. Er ordnet die Kurzgeschichten werkgeschichtlich in das Schaffen Bukowskis ein und zeigt offensichtliche und weniger offensichtliche literarische Bezüge auf, etwa auf Ernest Hemingway, dessen Werk Bukowski in einer Art Hassliebe verbunden war (siehe etwa Keinem schlägt die Stunde). Calonne weist auf Bukowskis mühevollen Lebensweg als den einer „Variation der Heldenfahrt“ hin, ein Gedanke, der sich gut auf die Protagonisten der Storys übertragen lässt. Die Helden in Bukowskis Storys, nicht selten Hank oder Henry – Spitzname und Taufname Bukowskis – genannt, haben zwar weder Chancen noch Hoffnung, siegen aber dennoch über das Leben, in das sie das Schicksal hineingeworfen hat, und die widrigen Umstände – und das nicht durch Kampf, sondern einfach, weil sie nicht zugrunde gehen: weil sich der nächste Dollar zusammenkratzen lässt, weil die nächste Pferderennbahn nicht weit ist und sich der nächste Suff unausweichlich ankündigt.

Liest man die Kurzgeschichten nacheinander am Stück, können die sich wiederholenden Sujets und der charakteristische, aber wenig variantenreiche Sprachduktus Bukowskis die Leselust zunehmend trüben. Sicherlich waren die über Jahre entstandenen Storys nicht dafür vorgesehen, in einer Sammlung, chronologisch angeordnet, veröffentlicht zu werden. Man könnte fast meinen, in dieser Zusammenstellung büßten sie an Wirkung ein, welche die einzelne Kurzgeschichte, in einer Underground-Zeitschrift veröffentlicht und neben anderen Beiträgen sicherlich Kontrapunkte setzend, durchaus hatte.

Dennoch ist es erfreulich, dass das ins Deutsche übersetzte Œuvre um weitere, bislang in dieser Form nicht zugängliche Kurzgeschichten ergänzt wird. Neue Facetten am Schaffen des Dirty Old Man legen sie indes nicht frei. Bukowski-Einsteiger beginnen in dem Band besser mit den späteren Kurzgeschichten oder greifen gleich zu seiner größer angelegten Prosa, etwa dem Roman Der Mann mit der Ledertasche. Bukowski-Fans ist der Band aber bedenkenlos ans Herz zu legen, sie wissen ohnehin, was sie erwartet. Man muss ihn halt mögen, den alten Buk.

Titelbild

Charles Bukowski: Keinem schlägt die Stunde. Stories.
Übersetzt aus dem Englischen von Malte Krutzsch.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2017.
364 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783596950317

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch