Setz dich, trink einen Tee, lass dir erzählen

John Burnside über amerikanische Verhältnisse und die heilsame Kraft des Zuhörens

Von Sylvia HeudeckerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sylvia Heudecker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

John Burnside gehört zu den großen Namen auf dem zeitgenössischen Buchmarkt, nicht nur dem englischen, auch dem deutschen. Ashland & Vine erschien im Januar 2017 bei Jonathan Cape London und gerade einmal neun Monate später lag schon die deutsche Übersetzung bei Knaus, Verlagsgruppe Random House, vor. 13 Romane hat der Erzähler und Lyriker Burnside geschrieben; mit dem aktuellen Werk wurden 5 davon ins Deutsche übersetzt.

Kritiker und Schriftstellerkollegen schätzen das Werk des 1955 in Dunfermlin geborenen Schotten hoch. Daniel Kehlmann hält ihn für einen „Sprachschöpfer von einzigartigem Rang“, die Neue Zürcher Zeitung lobt die „eigene Farbe“ seiner Prosa und ist eingenommen von Burnsides Stil, der eine „sonderbare, schwebende Heiterkeit“ zu erzeugen vermag.

Eine bemerkenswerte Leichtigkeit findet sich trotz des gewichtigen Themas und einer alles durchwirkenden Traurigkeit auch in Ashland & Vine. Die amerikanische Studentin Kate verliert ihren Vater durch eine Krankheit, von der sie erst kurz vor seinem Tod erfährt. Der jähe Abschied lässt sie orientierungslos zurück und sie beginnt zu trinken. Zugleich Stütze und Verführer ist ihr in dieser Verlorenheit ihr Mitbewohner, mit dem sie eine amouröse, wenn auch wenig leidenschaftliche Liaison verbindet. Beide studieren Filmwissenschaft. Laurits spannt Kate für sein aktuelles Filmprojekt ein. Er schickt sie los, um Interviews für einen Dokumentarfilm zu sammeln. Über Tage und Wochen zieht Kate durch die Straßen, oft benommen vom Alkoholkonsum des Vorabends, um persönliche Geschichten irgendwelcher Menschen aufzuzeichnen. Eines Tages lernt sie dabei zufällig Jean kennen. Kate ist fasziniert von der älteren Frau, die allein in einem herrlichen Haus mit großem Garten lebt, ihr Leben pragmatisch anpackt und der Studentin verspricht, ungewöhnliche Geschichten aus ihrem Leben preiszugeben – wenn Kate in den folgenden Tagen die Finger vom Alkohol lässt. Kate beißt an, steht die aufkommenden Entzugserscheinungen durch und kehrt wie verabredet zu Jean zurück.

Beeinflusst durch eine geheimnisvolle Kraft, die von der neuen Bekannten auszugehen scheint, gelingt es Kate, aus dem Sog der Selbstzerstörung auszubrechen. Nüchtern und interessiert nimmt sie Jeans Erzählungen auf: Das 20. Jahrhundert wird in der Lebensgeschichte der ungewöhnlichen Frau greifbar. Die mächtigen Gestaltungskräfte der US-amerikanischen Gesellschaft machten, teils mit unerbittlicher Konsequenz, aus Jean das, was sie heute ist. Sie erzählt von ihrem Vater, den im Jahr 1935 ein rassistisch verblendeter Dummkopf auf offener Straße in St. Louis erschoss. Sie erzählt von ihrer unerfüllten Liebe zu einer Frau. Sie erzählt von ihrem Bruder, der traumatisiert aus dem Zweiten Weltkrieg zurückkam, das Erlebte verdrängte und in der Hoffnung heiratete, dass alles gut werden könne. Doch auch seine Kinder gerieten in den amerikanischen Mahlstrom. Während der Sohn im Vietnamkrieg ähnliche Erfahrungen machte wie sein Vater, schlidderte die Tochter in den friedensbewegten 60er und 70er Jahren in einen bedrohlichen Konflikt mit dem System.

In Jeans Familie spiegelt sich schmerzhaft die Rohheit einer Gesellschaft, die allen Menschen Freiheit und Gerechtigkeit, Friede und Glück verspricht, wenn sie bedingungslos daran glauben. Mit welcher Unerbittlichkeit die allgemein herrschende Ideologie die Menschen deformiert, erzählt Burnside eindringlich und glaubhaft durch die überaus authentische Figur der Jean. An ihr zeigt er die Tragik jener Kräfte. Nicht wenige, die sich gegen den common sense auflehnen, erfahren mitleidlose Ablehnung durch ihre überzeugten Mitmenschen und die Härte des politisch-juristischen Systems. Hier schreibt ein Autor, dem diese Mechanismen zutiefst suspekt sind, der sie verachtet.

Burnside geht es um die ambivalente Macht von Erzählungen. Die großen amerikanischen Narrative und deren destruktives Potential sind das eine, was ihn interessiert. Ihnen entgegen stehen Jeans Geschichten der kleinen Leben, das andere Feld in Burnsides Aufmerksamkeit. Was Jean zu berichten hat, zeigt, wie gesellschaftliche Moralvorstellungen und Konventionen verhindern, dass der Einzelne tatsächlich sein Glück verfolgen kann. Fanatismus und patriotische Verblendung haben die Familie dieser Jahrhundertzeugin zerstört.

Jean erscheint in der Rolle einer modernen Scheherazade. Ihr Erzählen schlägt Kate in den Bann, ohne dass der jungen Frau bewusst würde, wozu es führt. Tatsächlich wird die Begegnung mit Jean zur Heilserfahrung; erst die Bereitschaft zuzuhören öffnet den Weg in eine selbstbestimmte Zukunft. Dass Burnside sein Selbstverständnis als Schriftsteller hineinwebt in den Roman, versteht sich dabei von selbst.

Burnsides Roman durchstreift zeitlich mehr als ein halbes Jahrhundert und hätte daher die Reichweite eines Epos. Viele Einzelschicksale verbinden sich im Netz einer Familie. Doch der Autor reduziert dieses Material, straff, manchmal zu straff, hält er die Zügel seines Erzählens in der Hand. Er neigt zur harten Blende von Szene zu Szene. Das hindert den Leser daran, mit den Figuren warm zu werden. Strukturgebend im Roman sind die Treffen Kates mit Jean; jedes Wiedersehen führt zu einer neuen Geschichte. Dazwischen erzählt Kate in der Ich-Perspektive aus ihrem Leben mit Laurits. Durch die enge Verschränkung der beiden Zeit- und Erzählebenen lagert das Gewicht auf der Gegenwart. Von hier aus wird deutlich, dass Burnside kein Interesse daran hatte, einen historischen Roman zu schreiben. Was man bei der Lektüre gelegentlich bedauert, sieht man doch, welch umfangreichen Schatz der erzählerische Blick Burnsides für die Leser heben könnte. Aber die Beschränkung lenkt auf das eigentliche Ziel, das den Leser direkt angeht. Die Kreuzung Ashland & Vine steht symbolisch für das Aufeinandertreffen von Vergehen und Gedeihen, für die Gleichzeitigkeit der wirkenden Kräfte im Leben des Menschen, aber auch für die Notwendigkeit, in jedem Moment zu entscheiden, wohin der eigene Weg führen soll.

Bernhard Robben, der den neuen Burnside-Roman übertragen hat, sagt von sich, dass er mit jedem neuen Übersetzungsauftrag in eine eigene Welt eintaucht. Mit den Welten von John Burnside hat Robben sich schon mehrfach vertraut gemacht. Robben fängt die Atmosphäre einer maroden Gesellschaft im gedämpft-eindringlichen Stil Burnsides treffend ein. Kleinere Unzulänglichkeiten wie überflüssige Wortneuschöpfungen, z.B. „hellhaarig“, oder ein etwas irritierender Gebrauch des (gesteigerten) Adverbs wie „er sprach am häufigsten“ nimmt man dafür gelassen hin. Nicht ganz überzeugt Robbens Entscheidung, dass die beiden Frauen, die recht schnell sehr vertraut miteinander sind, bis zum Ende beim Siezen bleiben.

Ashland & Vine ist eine leise daherkommende Einladung, aufmerksam zu werden für menschliche Schicksale im amerikanischen Alltag, die ohne die großen Erzählungen voll nationalem Pathos ein wenig glücklicher enden könnten.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

John Burnside: Ashland & Vine. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Bernhard Robben.
Knaus Verlag, München 2017.
413 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783813504613

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch