Ein lebbares Leben zwischen Prekarität und Freiheit?

Judith Butlers ambivalente „Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung“

Von Felix T. GregorRSS-Newsfeed neuer Artikel von Felix T. Gregor

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Nacht des 12. Juni 2016 betrat ein junger Mann schwer bewaffnet den Nachtclub Pulse im US-amerikanischen Orlando. Als ein beliebter Veranstaltungsort der lokalen LGBTQI*-Community war Pulse zu dieser Zeit wie jedes Wochenende stark besucht. Insbesondere Queers mit einem mexikanischen oder puerto-ricanischen Familien- und Kulturhintergrund zieht es Woche für Woche in den Nachtclub, um dort zu feiern und sich − zumindest im Rahmen dieser nur wenige Stunden andauernden Utopie − als akzeptierter Teil einer Gesellschaft zu fühlen, die es noch immer vollbringt, die Grenzen zwischen ihrer weißen, heteronormativen und wohlhabenden Mehrheit und allen anderen minoritären Gruppen, die die vorgenannten Kriterien nicht erfüllen, deutlich zu machen. Der Abend im Pulse endete, dies ist über die Grenzen der USA bekannt geworden, auf tragische Weise mit dem gewaltsamen Tod von 59 Menschen. Was folgte, waren weltweite Trauerbekundungen, Versammlungen und Demonstrationen, die auf bewegende Weise nicht nur Solidarität mit den ermordeten Menschen zeigten, sondern zugleich auf die immer noch bestehenden Diskriminierungsmechanismen in der Welt gegenüber LGBTQI*-Menschen hinwiesen. 

Bereits 1993 zeigte Judith Butler in ihrem heute kanonischen Werk Körper von Gewicht die zerstörerischen und mitunter auch tötenden Kräfte heteronormativer Gesellschaften auf, denen queere Menschen ausgesetzt sind. Am Beispiel von Venus Xtravaganza, einer Latino-Transgender-Performerin, die 1988 brutal von einem Freier ermordet wurde, nachdem er herausfand, dass Venus nicht als Frau zur Welt kam, schrieb Butler, dass „die Hegemonie, die die Privilegien der normativen Weiblichkeit und des Weißseins wiedereinschreibt, über die finale Macht [verfügt], den Körper von Venus zu renaturalisieren, eine Auslöschung, die ihr Tod ist.“ Auslöschung wurde schon damals von Butler nicht nur als eine leibliche Tötung verstanden, sondern auch in einem strukturell-gesellschaftlichen Sinne, indem bestimmten Bevölkerungsgruppen Rechte verwehrt werden, die für andere wie selbstverständlich gelten. Die Institution der Ehe ist nur eines von vielen Beispielen. In ihren Büchern Gefährdetes Leben und Raster des Krieges setzte Butler ihr Nachdenken über die gesellschaftlichen Auslöschungspraktiken von Individuen und deren Konsequenzen fort, indem sie sich nicht nur dort die Frage stellt, welches Leben für eine Gesellschaft überhaupt als betrauer- und damit anerkennbar gilt. In ihrem aktuellen Buch Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung gelangt sie nun auf der Suche nach einer Antwort bei den als bedroht markierten Subjekten selbst an. Butler untersucht in mehreren Kapiteln, was passiert, wenn die bedrohten Subjekte sich öffentlich versammeln, wenn sie vom Privaten hinausschreiten in einen Raum, der ihnen normalerweise verwehrt bleibt. Es ist nicht zu viel vorweggenommen, wenn man bereits an dieser Stelle festhält, dass die Antworten, die Butler ihren Leser*innen liefert, eher unbefriedigend denn erhellend sind. Es bleibt bei Anmerkungen, die einem, gerade in Hinblick auf die Demonstrationen und Proteste z.B. nach dem Anschlag im Pulse, nicht wirklich weiterbringen.

Ganz in Tradition ihrer vorhergehenden Denkschriften beginnt Butler mit Überlegungen zum Zusammenhang von Versammlungen auf der einen und Erscheinungsformen ausgeübter Geschlechterpolitik auf der anderen Seite. Versammlung bedeutet für sie dabei das Recht, überhaupt öffentlich in Erscheinung zu treten, während Geschlechterpolitik durch alle Protagonist*Innen, die Teil von öffentlichen Demonstrationen sind, stattfindet. Butlers konkrete Beispiele sind dabei vor allem Versammlungen und Demonstrationen während des Arabischen Frühlings, was mit dem Umstand zu tun hat, dass die Mehrheit der Texte in dem Band bereits 2012 verfasst wurde und entsprechend aktuelle Ereignisse nicht mehr berücksichtigt. Dies ist insbesondere in Hinblick auf die Ereignisse in Orlando und andere Proteste wie z.B. gegenüber Russlands Gesetzen gegen „homosexuelle Propaganda“ im Jahre 2013 sehr bedauerlich. 

Öffentliche Versammlungen, so Butler, müssen grundlegend als Prozesse betrachtet werden, in denen sich in vielen Fällen eine Gruppe über Strategien des Ein- und Ausschlusses als Repräsentanten des Volkes konstruieren. Doch nicht jede Gruppe, die für sich den Anspruch der Repräsentation des Volkes in demokratischer Weise beansprucht, tut dies in demokratisch-legitimer Art – auch wenn Selbstbestimmung an sich eine Voraussetzung für Demokratie darstellt. Die deutschen PEGIDA-Proteste dienen Butler in dieser Argumentation als ein Beispiel für eine verfehlte Beanspruchung demokratischer Repräsentation, während sie zugleich aber ein weiteres konstitutives Element von Versammlungen verdeutlichen: Jeder Ein- und Ausschlussprozess, der in öffentlichen Versammlungen stattfindet (Wer ist das Volk? Wer darf sich im konkreten Modus der Demonstration anschließen? Wer wird von der demonstrierenden Masse nicht integriert?), ist parallel ein Kampf zwischen anerkennbaren und nicht-anerkennbaren Subjekten, deren Grenzen nicht fix, sondern vielmehr flexibel, verschiebbar sind. Was Butler hier impliziert, jedoch nicht explizit äußert, sind Fragen von intersektionaler Diskriminierung, die darauf aufmerksam machen, dass Kategorien, die für den Ein- oder Ausschluss herangezogen werden, von Subjekt zu Subjekt unterschiedlich ausfallen. Wird die Nationalität im Pass des Einen zum Kriterium der Anerkennung, kann bei der Anderen zusätzlich die Farbe der Haut oder der Haare eine Rolle spielen, um dadurch wiederum Ausschlüsse zu produzieren. 

Was passiert aber, wenn die Körper anwesend sind, wenn sie im öffentlichen Raum nicht nur hörbar, sondern vor allem sichtbar werden? „Die Versammlung bedeutet etwas, das über das Gesagte hinausgeht, und dieser Bedeutungsmodus ist eine gemeinsame körperliche Inszenierung, eine plurale Form der Performativität“, heißt es in dem Text. Die Bedeutung einer Versammlung, eines Protestes und damit auch der Fokus ihrer Untersuchung, die Butler immer wieder fordert, liegt somit im Moment der körperlichen Präsenz; einer Präsenz, die unabhängig der inhaltlichen Botschaften und Forderungen, die von unterschiedlichen Gruppen geäußert werden, als performativer Akt und damit eigentliches Element der Demonstration gelesen werden muss. Völlig neu ist diese Überlegung nicht, denn Butler hat doch schon in Körper von Gewicht über die Bedeutung der Ball-Szene in New York der späten 1980er Jahre geschrieben, in der junge Queers of colour in Drag-Wettbewerben zusammenkommen, um durch eine performative Aufführung und Wiederholung heteronormativer Kulturcodes ein subversives, d.h. auch widerspenstiges und demonstratives Verhalten zu produzieren. Das geschah zwar noch nicht an öffentlichen Orten und Plätzen, doch die aus diesen Wettbewerben hervorgetretene Vogueing-Kultur nimmt seit den frühen 1990er Jahren zahlreiche Orte öffentlicher Popkultur (Stichwort Madonna) für sich in Anspruch. 

Im Kontext zahlreicher politischer Bewegungen und Demonstrationen der letzten Jahre und ausgehend von der Idee der öffentlich erscheinenden Körper, die bereits Kern einer Demonstration sind, konstatiert Butler: „Wir können in solchen Massendemonstrationen eine kollektive Ablehnung der gesellschaftlich und wirtschaftlich bedingten Prekarität sehen. Was wir aber vor allem sehen, wenn Körper auf Straßen, Plätzen oder an anderen öffentlichen Orten zusammenkommen, ist die – wenn man so will, performative – Ausübung des Rechts zu erscheinen, eine körperliche Forderung nach besseren Lebensbedingungen.“ Prekarität wird in diesen Überlegungen für Butler zu einem Mittelbegriff, der verschiedene Minderheiten bzw. Gruppen in einer Allianz der öffentlichen Anerkennung zusammenführt, wobei ‚Prekarität‘ „den politisch bedingten Zustand [bezeichnet], in dem bestimmte Teile der Bevölkerung unter dem Versagen sozialer und ökonomischer Unterstützungsnetze mehr leiden und anders von Verletzung, Gewalt und Tod betroffen sind als andere.“ Gerade mit dieser Perspektive versucht Butler die Brücke zu Fragen der Geschlechternormen zu schlagen, die mit Fragen der Prekarität einhergehen. Gender könne zwar nicht als das bestimmende Paradigma für alle Daseinsformen dienen, die gegen die normative Konstruktion des Menschlichen ankämpfen. Es könne aber als Ausgangspunkt genutzt werden, um über Macht, Handlungsfähigkeit und Widerstand nachzudenken. Auch dies ist ein Befund, der bereits in frühen Arbeiten von Butler an zahlreichen Stellen immer wieder stark gemacht wurde.

Mit Hannah Arendt fragt Butler schließlich danach, wer das Recht des öffentlichen Erscheinens eigentlich besitzt und für sich in Anspruch nehmen kann. Wichtig sei hier, so eine der Schlussfolgerung aus der Beschäftigung mit Arendt, dass „das Recht [zu erscheinen, öffentlich zu werden, …] ausgeübt und anerkannt wird, […] weil viele andere es ebenfalls ausüben, ob sie nun vor Ort sind oder nicht.“ Der kollektive Moment der Zusammenkunft von Körpern stellt für Butler zum einen die Inanspruchnahme, damit auch die Aneignung des öffentlichen Raums dar, während sie zugleich selbigen in eben diesem Moment des 1+n-Seins konstituieren und hervorbringen. In diesem Sinne können für Butler auch Proteste an halb-öffentlichen Orten wie in Gefängnissen, Institutionen usw. zu Sphären öffentlich bekundeter Proteste werden. Butler beendet das erste Kapitel ihrer Anmerkungen entsprechend mit folgender Forderung: „[E]s geht vielmehr um das Handeln selbst und darum, mit dem Handeln die Macht zu beanspruchen, die man braucht. Das ist Performativität, wie ich sie verstehe, und es ist ebenso eine Möglichkeit, aus der Prekarität heraus und gegen sie zu agieren.“ Doch wie dies am Ende genau gelingen soll, lässt sie offen. Hiermit beginnt das Problem Butlers, welches sich mit den nachfolgenden Kapiteln fortsetzt, denn auch in diesen findet sich keine Antwort, keine Ahnung oder Andeutung, welche Handlungsweisen aufgerufen werden könnten. Immer wieder hat man das Gefühl, dass die wesentlichen Punkte von Butlers „performativer Theorie“ bereits auf den ersten Seiten des Buches formuliert wurden und jede neue Auseinandersetzung mit Hannah Arendt, später auch mit Emmanuel Lévinas und seiner Ethik, lediglich Variationen des bereits Geschriebenen darstellen. Gerade in den Momenten, in denen Butlers Überlegungen zu einem konkreten, aktiven Handeln führen könnten, d.h. wenn Butler sich mit den großen Protesten der letzten Jahre, vor allem den Ereignissen des Arabischen Frühlings beschäftigt, bleiben ihre Ausführungen sonderbar kurzgehalten und oberflächlich, bis sie allzu rasch wieder von einem rein metareflexiven, theoretischen Denken überholt werden. Somit stellen Butlers Feststellungen das dar, was sie im Titel des Buches eigentlich schon vorausdeuten und versprechen: reine Anmerkungen, Denkfragmente, die nicht mit einer stringenten, über die Länge des Buches fortlaufenden und sich entwickelnden Argumentation verwechselt werden dürfen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Judith Butler: Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Frank Born.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
350 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783518586969

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