Das Leben des Anderen

In Sophie Calles kontroversem „Adressbuch“ dokumentiert die Autorin das Leben eines ihr unbekannten Mannes

Von Felix HaasRSS-Newsfeed neuer Artikel von Felix Haas

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Juni 1983 findet Sophie Calle ein Adressbuch auf der Rue des Martyrs in Paris. Es ist rot, sein Rücken ausgefranst und beinhaltet 408 Namen und Kontaktdaten aus fünfzehn Ländern. Bevor sie es dem Eigentümer zurückschickt, kopiert sie es jedoch und beginnt danach eine Vielzahl der darin gelisteten Menschen zu kontaktieren, um sie zu dem Besitzer des Buches, Pierre D., zu befragen. „Ziel des Ganzen war es, diesen Mann kennenzulernen ohne ihn je zu treffen,“ erläutert Calle.

Sophie Calle ist Künstlerin, Photographin und Schriftstellerin. Viele ihrer Projekte sind eng mit dem allzu liberalen Umgang mit der Privatsphäre Anderer verbunden. Zwei Jahre bevor sie Pierres Adressbuch findet, schließt sie das Projekt L‘Hôtel ab, für das sie eine Zeit als Zimmermädchen in einem venezianischen Hotel arbeitete, um durch die Privatgegenstände der Gäste zu gehen und diese zu dokumentieren. Trotz etlicher solcher Unternehmungen bemerkte sie 2008 in einem Interview mit der amerikanischen Künstlerin Jill Magid, dass Das Adressbuch das einzige Projekt sei, bei dem sie „zu weit gegangen“ sei. Jedoch führt sie direkt danach an: „…ich würde es wieder tun, die Aufregung ist stärker als das Schuldgefühl.“

Viele der Umstände begünstigen Calle in der Durchführung ihres Projektes. Pierre ist während der vier Wochen, in denen Calle seine Freunde und Bekannte kontaktiert, in Norwegen und kann so schlecht intervenieren. Doch ein vielleicht noch wichtigerer Faktor ist sein soziales Umfeld. Pierre stellt sich als Intellektueller und Filmliebhaber heraus, der als Kritiker, Dozent oder auch Drehbuchautor arbeitet. Sein Umfeld besteht praktisch ausschließlich aus Menschen, die selbst mit der Filmwelt in Verbindung stehen und Pierres eigene Projekte als oft ungewöhnlich und intellektuell ambitioniert empfinden. So erhält Calle zwar durchaus auch ablehnende Reaktionen auf ihre Kontaktversuche, doch willigen viele der Kontaktierten ein, sie zu treffen und einer fremden Person Auskunft über Charakter und private Details ihres Freundes zu geben.

Calles „Nachforschungen“ und Gespräche erschienen 1983 zunächst als eine Reihe von achtundzwanzig Kolumnen in der linksliberalen Tageszeitung Libération. Es sind diese Beiträge, gemeinsam mit einer Vielzahl von Fotographien sowie kurzem Vor- und Nachwort, die den kaum hundertseitigen Band Das Adressbuch bilden, der nun bei Suhrkamp in deutscher Übersetzung von Sabine Erbrich erschienen ist. 

Was Das Adressbuch offen lässt, ist die Reaktion des Beobachteten. Calle merkt zwar an, dass sie Pierre nie getroffen hat, jedoch nicht, dass dieser drohte, sie zu verklagen und von Libération verlangte, als Vergeltung Nacktfotos von Calle zu drucken. Diese Auseinandersetzung konnte erst geschlichtet werden, als Calle einwilligte, die Sammlung aller Kolumnen nicht vor dem Tod von Pierre D. zu publizieren. 2012 erschien Das Adressbuch dann in seinem französischen Original.

Durch die Schilderungen seiner Freunde erwächst Calle ein Bild von Pierre, das weitestgehend schlüssig ist. Pierre D. ist ein 35 Jahre alter, allein lebender Junggeselle, der mit seinem schon sehr grauen Haar älter wirkt, als er ist. Seine Freunde sehen ihn als einen „…ziemlich brillante[n] Intellektuelle[n], der nicht damit protzt,“ (Myriam V.), als einen „intelligente[n] Bursche[n], rührend, weil er ein wenig einsam ist,“ (Pascal L.). Viele seiner Freunde merken an, wie stark der Tod seiner Mutter sich auf ihn ausgewirkt hat, oder, dass vielleicht nicht alle Aspekte seiner Rolle als kauziger Intellektueller völlig natürlich sind, sondern er diese auch zelebriert. „Wenn er eine seiner Manien zur Schau stellt, weiß man nie, was Realität und was Fantasie ist,“ befindet Jacques D. Er sei „entspannt in seiner Verrücktheit, gut eingerichtet in seiner Einsamkeit,“ konstatiert Sylvie B.

Auch wenn die Schilderungen gut gewollt erscheinen, und uns Pierre weitestgehend als charmanten Intellektuellen zeichnen, wissen wir nicht, wie er sich dabei fühlte, dass der Tod seiner Mutter Teil eines Kunstprojektes wurde, welches ihn der Welt nicht nur als intelligenten Intellektuellen, sondern auch als einsamen, dicklichen Junggesellen präsentiert, der tollpatschig mit Frauen umgeht und sich nur verliebt, wenn „er nicht die geringste Chance hat,“ (Enzo U.). Neben seiner Reaktion gegenüber Calle und Libération haben wir wenig mehr als Mutmaßungen darüber, wie das Projekt Pierres Leben beeinträchtigte, wie es seine Beziehungen zu den Personen, mit denen Calle geredet hat, veränderte.

Die Grundidee von Das Adressbuch mag ungewöhnlich, innovativ oder gar tiefgründig erscheinen, doch bleibt es ein moralisch schwieriges Projekt. Auch wenn der Leser sich sicher ist, dass er es mit einem echten Leben zu tun hat, ist es leicht den Fehler zu begehen, Calles Projektdokumentation zu lesen und zu bewerten, wie man es mit einem Roman tun würde. Doch sollte sich jeder Leser ehrlich fragen, wie er sich als Objekt eines solchen Projektes fühlen würde, wie, wenn über einen Monat täglich in einer der größten Zeitungen seines Landes ein Gespräch eines seiner Freunde mit einem Journalisten über ihn gedruckt werden würde, das nicht nur seine Eltern und Tode in seiner Familie beinhaltet, sondern auch eine Sicht seiner Freunde auf seine eigene Person, die sie ihm so vielleicht nie dargelegt haben.

Das Adressbuch ist eine recht lesenswerte Sammlung von Feuilletonkolumnen mit interessanter Prämisse. Doch es ist nicht nur fraglich, inwiefern dieses Projekt moralisch zu rechtfertigen ist, sondern letztlich auch, ob man bereit ist für die aktuelle, gebundene Ausgabe 22 Euro für 58 Seiten Text und eine Sammlung wenig spektakulärer Schwarz-Weiß-Fotos zu zahlen.

Titelbild

Sophie Calle: Das Adressbuch.
Aus dem Französischen von Sabine Erbrich.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
105 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518225103

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