Die Wiederentdeckung

Mit Gianfranco Calligarichs „Der letzte Sommer in der Stadt“ erreicht ein großartiges Kultbuch aus dem Italien der 1970er nach Jahrzehnten endlich das deutschsprachige Publikum

Von Jonas HeßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jonas Heß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man muss ehrlich sein. Eigentlich ist man einer solchen Geschichte nicht nur in diesem Jahrhundert schon zahllose Male begegnet: Junger Mann kommt in große Stadt, lebt halb finanziertes, halb glamouröses Künstlerleben (viel Alkohol, wenig Arbeit) und begegnet junger Schönheit, der er verfällt. Man trifft sich, liebt sich, streitet sich und wandelt besoffen durch die Straßen. Auch Gianfranco Calligarichs Der letzte Sommer in der Stadt folgt genau diesem Muster. Und doch ist der Roman eine der Entdeckungen dieses Frühjahrs.

Dabei ist es ein Glück, dass der Text überhaupt seinen Weg über die italienischen Landesgrenzen hinaus gefunden hat. Zuerst in Italien erschienen war er bereits 1973, aber nach kurzem Erfolg schnell wieder aus den Buchläden verschwunden. Für lange Zeit ist er dann nur Liebhabern Gesprächsstoff gewesen, bis er 2010 wieder veröffentlicht wurde. Nachdem auch diese Ausgabe vergriffen war, wurde er jetzt ein weiteres Mal neu aufgelegt. Gegenwärtig wird er nun in zahlreiche Sprachen übersetzt und man muss sagen: Endlich.

Hauptfigur des Romans ist der dreißigjährige Ich-Erzähler Leo Gazzarra, der gerade von Mailand ins Rom der frühen 1970er Jahre gezogen ist. Von Freunden erhält er eine Wohnung zur Miete und einen alten Alfa Romeo zum Fahren. Er schlägt sich mit journalistischer Fließbandarbeit beim Corriere dello Sport durch und findet schnell Anschluss an die Kulturelite der Stadt, die sich ihre Zeit in Cafés und Salons vertreibt. Dort trifft er die teilzeitlabile junge Schönheit Arianna, die gelegentlich Architektur studiert. Mal mit ihr, mal ohne sie, aber stets mit genügend Alkohol im Blut, durchstreift er fortan die Straßen und Bars von Rom, der in jeder Zeile präsenten zweiten Hauptfigur des Romans.

Was aber dieses Buch letztlich zu einem wunderbaren Stück Literatur macht, ist eben nicht die Handlung, sondern Calligarichs einzigartiger Ton. Lakonisch und präzise, aber nie hölzern oder gestelzt führt die Erzählerstimme durch die Geschichte. Mit grandioser Gleichgültigkeit und entschlossener Einfühlsamkeit zugleich blickt die Hauptfigur auf die Welt, stets getragen von tiefer Melancholie, ja Nostalgie, die jedoch nie die Augen verschließt vor dem Schönen, dem Guten. Auf eigentümliche Weise hat dieser Sound, der in der sternenklaren Übersetzung von Karin Krieger voll zum Tragen kommt, immer auch etwas Einsichtiges, Elegantes und Träumerisches.

Er war ein guter Freund, ein melancholischer Süditaliener mit einer unzufriedenen Frau. Er hatte seine Heimat verlassen, ein Kap an jenem blauen Meer, das das Jonische ist, um in Rom als Journalist zu arbeiten, doch er durfte nur die Artikel der anderen abtippen, nachdem sie auf einer Wachsplatte aufgezeichnet worden waren. Die völlige Hinrissigkeit dieser Arbeit nahm den letzten Jahren seiner Jugend die Würde, doch er hielt durch, klein, dunkel, niedergeschlagen und unbezwinglich.

Dieser Ton verleiht dem Roman seinen besonderen, zeitlosen Glanz. Denn den zentralen Figuren merkt man das Alter des Textes in gewisser Hinsicht doch an. Es sind Mann und Frau aus einer anderen Zeit. Beide sind mit allen kulturellen Wassern gewaschen und sitzen fest im Sattel des klassischen Kanons, was sich in häufigen Verweisen zu dramatischen, musikalischen, künstlerischen vor allem aber literarischen Werken niederschlägt. Leo, der hemingwaysche Antiheld, lebt ein Leben im Binären: Er trinkt viel oder nur antialkoholisch, er liebt oder spürt gar nichts, er lebt in vollen Zügen oder komplett spartanisch. Arianna, die unselbstständig Unbeständige, bezeichnet sich selbst als hysterisch und verhält sich leider auch immer wieder so. 

Herrlich wohltuend ist dem entgegen die erzählerische Distanz zum eigenen Schicksal, das ruhige, nachdenkliche Hinnehmen des Faktischen, welche die Schilderungen der Hauptfigur Leo durchziehen: 

Bis zu unserer Verabredung war es noch mehr als eine Stunde, und mit grausamer Deutlichkeit spürte ich, dass jede Minute, die verging, eine Minute weniger in meinem Leben war. Um drei Viertel sieben stellte ich mich vor die Kirche, in der das Konzert stattfand. […] Die Stadt war so leer, dass man spürte, wie die Palazzi alterten.

Auf schlichte und zugleich schöne Weise wird das Ganze schließlich strukturell gerahmt. Die Geschichte endet dort, wo sie beginnt, am Meer, mit einem symbolischen Schlussakzent. Dazwischen liegt die eigentliche Handlung in der ewigen Stadt, die leitmotivisch durchzogen ist mit Versatzstücken des Maritimen.

Calligarich, der wie seine Hauptfigur in der ersten Hälfte seines Lebens von Mailand nach Rom zog, wo er unter anderem als Journalist und Drehbuchautor tätig ist, hat in den Jahrzehnten seit Erscheinen der Originalausgabe mehr als nur diesen einen Roman veröffentlicht. Bislang ist Der letzte Sommer in der Stadt jedoch der einzige auf Deutsch erhältliche Titel von ihm. Man darf hoffen, dass das nicht lange so bleibt.

Titelbild

Gianfranco Calligarich: Der letzte Sommer in der Stadt.
Aus dem Italienischen von Karin Krieger.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2022.
208 Seiten, 22 EUR.
ISBN-13: 9783552072756

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