Graubünda do bin i dahei

Die Entwicklung von Graubünden und der ganzen Welt versucht Arno Camenisch in „Goldene Jahre“ anhand eines Kiosks und seiner zwei Besitzerinnen zu zeigen

Von Pascal MathéusRSS-Newsfeed neuer Artikel von Pascal Mathéus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Schweizer haben etwas übrig für Lokalpatriotismus. Das gilt für die Eidgenossenschaft insgesamt, aber auch für die vielen kleinen und großen Kantone, Städte, Täler und Dörfer. Vom Kanton Graubünden, wo Goldene Jahre spielt, heißt es beispielsweise in einem Lied, „Du bisch dr geilscht Kanton vor Welt“. Nun ist der Rezensent nicht vertraut mit dem Programm der öffentlich-rechtlichen Regionalsender in der Schweiz. Durchaus bekannt sind ihm aber die heimatstolzen Dokumentationen, die in Deutschland etwa vom NDR produziert werden. In ihnen werden häufig sogenannte einfache Menschen gezeigt, die entweder einem aussterbenden Handwerk nachgehen oder in einer vom Verschwinden bedrohten Einrichtung wie etwa einem Tante-Emma-Laden die Stellung halten. Die kalkulierte Zuschauerreaktion ist eine Mischung aus Rührung und Belustigung. Wenn ein Lokalsender aus Graubünden eine solche Dokumentation ausstrahlte, sie würde wohl in etwa so klingen wie das nun vorliegende, elfte erzählende Buch von Arno Camenisch.

In einem kleinen Dorf öffnen Magrit und Rosa-Maria wie jeden Morgen in den letzten 51 Jahren ihren Kiosk und erfreuen sich an der immer noch weithin sichtbaren Lichtreklame. Außer ihr hat sich aber alles verändert. Eine Raketen-Glacé kostet nicht mehr 30 Rappen, sondern 1,50 Franken, die Velos fahren inzwischen mit Hilfsmotor und dank einer neuen Ausfallstraße kommen auch kaum mehr Fahrzeuge an ihrem Kiosk vorbei, um vollzutanken. Dass während die beiden Frauen stundenlang mit assoziativen Erinnerungen an den Kiosk, das Dorf und den Verlauf der Weltgeschichte beschäftigt sind, kein einziger Kunde vorbeikommt – was die beiden auch überhaupt nicht zu stören scheint –, gehört zu den originelleren Einfällen des schmalen Bandes. Magrit und Rosa-Maria sind sich selbst genug, lesen und schneiden in ihren Zeitschriften herum, greifen hier und dort in ihr Süßigkeitensortiment und bringen das Geschäft mit Besen und Lumpen in Ordnung.

Es ist ärgerlich, wenn man einem Roman sofort anmerkt, was er will. Dann können einem sogar knappe 100 Seiten zu lang vorkommen, auf denen nur immer wieder dasselbe Motiv adressiert wird. Camenischs Kalkül unterscheidet sich leider nicht merklich von den oben skizzierten Zielen einer nostalgischen NDR-Doku. Auch die von ihm bedienten Affekte sind Rührung und Belustigung. Auch die Sätze, die den beiden übrigens in Temperament und Sprachgebrauch nicht voneinander zu unterscheidenden Figuren in den Mund gelegt werden, klingen wie von einem zynischen Lokalfernsehredakteur ausgewählt: „Da haben wir unseren Codex, ein Mal schön mit dem Lumpen drüber, sagt sie und schüttet das Fläschli und spritzt etwas Putzmittel an die Scheibe und fährt mit dem Lumpen drüber.“ Wie für die Kamera deuten die beiden Frauen auf die wichtigen Produkte ihres Sortiments, zeigen sich in ihren Routinen und geben halbgare Weltweisheiten zum Besten.

Es hat etwas Denunziatorisches, wie Camenisch die Vertrotteltheit seiner Figuren zur Schau stellt. So zeugen etwa die gebrachten Falschverwendungen von Fremdwörtern von einem wenig feinsinnigen Humor: „da hätten wir denn schon andere Zeiten erlebt, als man im Winter diese schönen Mombuts anziehen musste, ai, die gaben denn schön warm an den Füssen, so Moonboots nannte man diese“. Die wenigen wirklich witzigen Stellen werden dadurch verdorben, dass dem Leser durch die Beschreibung der Reaktion der jeweils anderen Frau vorgegeben wird, dass man nun zu lachen habe. Auch hierin zeigt sich die Konstruktion des Romans als insgesamt fragwürdig, da an keiner Stelle deutlich wird, wozu es eigentlich zwei Frauen gebraucht hat.

Camenisch wird von seinen Bewunderern vor allem für die dialektalen Einsprengsel gelobt, die er in die Sprache seiner Figuren einfließen lässt. Mit einer Untermischung von rätoromanischen, italienischen und französischen Ausdrücken, ließe der Autor alle vier Amtssprachen der Schweiz zu ihrem Recht kommen. Aber tut er das wirklich? In Goldene Jahre erscheinen die Dialektwörter nur als durchaus verzichtbare Girlanden. Weder nutzt sie Camenisch für zündende Pointen, noch verleiht er den einzelnen Sprecherinnen damit unverwechselbaren Charakter. Dass sich stattdessen dieselben Ausdrücke in dem schmalen Band immer und immer wiederholen, macht sie zu etwas bloß Zotigem. Sie sind so banal, wie es die nur ganz lose assoziativ verbundenen Gedanken von Magrit und Rosa-Maria überhaupt sind. Man kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen und breitet darüber seine Phrasen aus.

Schlimmer wird es nur noch, wenn sie sich den wirklich großen Ereignissen der Geschichte zuwenden. Ist von Tschernobyl die Rede, kommt natürlich als nächstes das verstrahlte Gemüse. Geht es um die deutsche Wiedervereinigung, gibt es die Geschichte von einem Trabi zu erzählen, der bald darauf in dem Dorf auftauchte. Es sind die nächstliegenden Klischees, derer man sich bedient. Die Idee, die Weltgeschichte in ihren Auswirkungen auf Graubünden zu spiegeln, erweist sich in dieser Form als eine schlechte.

Schließlich wird der Kiosk als Zentrum des Dorfes gezeigt. Die beiden Frauen wissen zu jedem Dorfbewohner einer Liebesgeschichte zu erzählen, eine kleinere oder größere Tragödie, die für ein ganzes Leben stehen soll. In der äußersten Verknappung und mit den sprachlichen Möglichkeiten von Magrit und Rosa-Maria überzeugt das nicht. Es ist außerdem bezeichnend, dass Camenisch seine Figuren nochmals selbst aussprechen lässt, welche Funktion der Kiosk in dem Dorfkosmos einnimmt: „Wir sind da ein bisschen wie die Zentrale im Dorf.“ Das alles wirkt so, als vertraute er den erzählenden Passagen seines Textes so wenig, dass er es den Lesern nicht zutraut, eigene Schlüsse zu ziehen.

Heimatverbundene Graubündner mögen Camenisch schätzen als einen Chronisten und Bewahrer der Vergangenheit in ihrem Kanton. Wem die dortigen Verhältnisse – die sich zumindest ausweislich des zu beurteilenden Romans nicht wahnsinnig von denen unterscheiden, die überall sonst in Mitteleuropa zu beobachten sind –, nicht so nahestehen, wird Schwierigkeiten haben, Goldene Jahre für ein lesenswertes Buch zu halten.

Titelbild

Arno Camenisch: Goldene Jahre.
Urs Engeler Editor, Basel 2020.
100 Seiten , 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783906050362

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