Japonistische Entfaltungen

Jean-Marc Cecis „Herr Origami“ – Zen-Philosophie oder Kulturmarketing im Literaturformat?

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dreierbeziehung mit Katzen

Es treten auf: der würdige japanische Japanpapierhersteller und Papierfaltmeister Kurogiku, seine Maulbeerhainpflegerin Elsa sowie ein Student der Uhrmacherei, Casparo. Außerdem spielen noch zwei feline Akteure eine Rolle: die Katze, die bei Kurogiku in einem zerfallenen Haus in der Toskana lebt und Kurogikus Panthermädchen – eine Sehnsuchtsgestalt, die vor langer Zeit die Seele des Japaners in Besitz genommen hat. Der durch vier Kapitelüberschriften mit Kanji-Schriftzeichen strukturierte, minimalistisch gehaltene Roman Herr Origami offeriert ein vielschichtiges Deutungsmuster. Auf verschiedenen Ebenen werden Erzählungen eingewoben, die das Leben des 60-jährigen Meisters betreffen, durchbrochen von Exkursen zur japanischen Kultur, zum Zweiten Weltkrieg, zu den Folgen der Strahlenkrankheit nach den Atombombenabwürfen auf Japan, zum Schicksal der Opfer am bekannten Beispiel des Mädchens Sadako sowie zur interkulturellen Begegnung Japan-Europa und zur Liste des immateriellen Kulturerbes der UNESCO, in die die japanische Papierkunst mit ihren Facetten washi (Japan-Papier auf Maulbeerbaumbasis) und Origami schließlich aufgenommen wird. Über diese Themen und die Motivkette Papier – zum Falten und zum Notieren –, Katzenwesen, Instrumentalisierung der Kultur, Schuld und Sühne, bauen sich im Text mehrere Sinnkonstruktionen auf. Die geschichtliche Linie eröffnet den Blick auf die Geschehnisse um 1945, während eine philosophisch-spirituelle Tangente kosmologische Fragen nach Zeit, Raum und Augenblick berührt.

Zahlen, Daten und zeitliche Fristsetzungen sind Teil des realistisch gestalteten Handlungsverlaufs im sequenziell fortschreitenden Textgeschehen, das sich in der Interaktion der drei Personen entwickelt – wobei von Handlung eigentlich kaum gesprochen werden kann: Herr Origami ist zunächst ein metaphysischer Roman im Format des kurzen Lehrdialogs zwischen Meister und Schüler im Zen. Das sogenannte kôan überschreitet das alltägliche Verständnisvermögen und soll die Grenzen des logischen Denkens verlassen, um dem Bewusstsein den Weg zur Transzendenz jenseits einer „normalen“ Sinngebung und der Illusion der vom Menschen wahrgenommenen Realität aufzuzeigen.

Cecis Werk weist jedoch nicht nur auf ostasiatische – oder als ostasiatisch imaginierte – Traditionen hin. Auch die neuere japanische Literatur sowie der europäische Literaturkanon werden zitiert, darunter der Parzival- und Lohengrin-Stoff, Rainer Maria Rilkes Der Panther, Friedrich Dürrenmatt, Marguerite Duras, die Neo-Gothic einer Ogawa Yôko oder Yoshimoto Banana, Phillip K. Dick, Star Trek, die belgische KI- und Roboter-Oper Casparo (Luc Steels/ Villaroya Oliver; uraufgeführt im Theatre Molière 2013) und ganz explizit Sadako Sasakis (1943–1955) literarisierte Lebensgeschichte mit ihrer Botschaft des Friedens und der Hoffnung auf eine atomwaffenfreie Zukunft, für die die tausend Papierkraniche des Mädchens stehen. Diese Stoffe, Anspielungen und Themen werden montiert und bilden die Bauelemente von Cecis Setzkastenvorrichtung mit Vexierspiegel.

Faltkunst für den Frieden

Was sich auf den ersten Blick leicht und „einfach“ darstellt, gibt die verschiedensten Perspektiven wieder, je nach Position des Betrachters. Die historische Sichtweise thematisiert die Kriegserfahrung und die Problematik der Schuldhaftigkeit an den Ereignissen, die sich viele japanische Künstler und Könner eines traditionellen Handwerks offenbar nicht eingestehen wollen. So bleibt es wohl der jüngeren Generation überlassen, das missbrauchte Kunsthandwerk zu rehabilitieren und es als kulturelles Erbe der gesamten Menschheit zu überantworten.

Der Kulturbotschafter ist in diesem Fall Meister Kurogiku. Sein Name bedeutet, wie der Autor eingangs verrät, „Schwarze Chrysantheme“, eine Metapher des Hell-Dunkel-Prinzips. Die Blume steht nach Ceci für Freude, Lachen und Ewigkeit und sei das Emblem des japanischen Kaiserhauses. Kurogikus Signatur besitzt aber eine düstere Seite, die auf den Krieg und seine Folgen hinweist; wer das Foto der aufgebahrten jungen Sadako kennt, weiß, dass die Tote inmitten von hellen und dunklen Chrysanthemen liegt.

An erster Stelle rekurriert die Symbolik wohl auf die Beziehung zwischen dem Meister und seinem Vater. Beiden ist es zu Lebzeiten des Vaters nicht gegeben, sich auszusprechen. Nur schweigend findet eine Kommunikation statt, mittels eines Origami-Kranichs, den der japanische Protagonist zum Schluss der Erzählung entfaltet, und so endlich die Botschaft des Patriarchen liest – wiederum verschlüsselt in Form eines Haiku-Gedichts vom Lyriker Issa.

Im interkulturellen Jenseits, KI oder Kulturkonsum?

Eine weitere Lesart würde auch die Deutung der Geschichte als „Zen-Gothic“ erlauben. Mit ihr begegneten sich die Figuren im Raum-Zeit-Kontinuum, um in dieser Konstellation jeweils ihr Schicksal zu vollenden. Darauf, dass der Japaner schon als junger Mensch kurz nach seiner Ankunft in Italien gestorben sein könnte und eben in der Toskana sein Grab liegt, deutet der Satz hin, „Ich bin dem schwarzen Licht gefolgt“ – einem Licht, das ihn in eine alte europäische Kulturlandschaft gebracht hat. Ebenso könnte Kurogiku in Japan verstorben sein und seine Seele in einem schicksalhaften letzten „Augenblick“ dem Mädchen aus Italien, „Signorina Tschão“, anvertraut haben. Er nennt sie den schwarzen Panther – was ein frankofones coup de foudre-Liebesverständnis nahelegt, andererseits die Todesthematik einfließen lässt, die sich in der Wendung „Fräulein Wiedersehen“ gespiegelt fände. Ist Elsa das Mädchen? Dafür spricht einiges. Eine interkulturelle Geisterehe also, die immerhin schon 40 Jahre hält. Die Toskana, die im Übrigen auch den UNESCO Weltkulturerbe-Titel für sich verbuchen kann, trägt Pegasus im Wappen, nach links aufspringend. Ein Hinweis auf die Materialität des semi-realen Kulturtransfers, der nur im Reich der poetischen Inspiration stattfindet?

Eine zusätzliche Möglichkeit der Exegese liegt im Bereich der Forschung zur künstlichen Intelligenz (KI). Sollte Ceci die Motivik der Oper Casparo aufgegriffen haben, ein Thema, das Ogawa Yôko in Schwimmen mit Elefanten (dort tritt, am Rande vermerkt, ebenfalls eine Artgenossin der berühmten Cheshire Cat auf) bearbeitet hat, würden sich die Akteure auf einem – in der Nomenklatur der Star Trek Technologie – „Holodeck“ befinden.  Vielleicht wurden sie von einem jungen Technikgenie und Programmierer in den virtuellen Raum eingespeist und leben dort ein ewiges Leben. Der Computer als Gral? Warum nicht.

Weniger spirituell erhebend im Falle des Herrn Origami ist allerdings der Gedanke, dass der Text letztlich keine meditative Anleitung zum Verständnis des Zen liefert, sondern ein recht kalkuliertes Kultursampling betreibt, an dessen Ende weder Tiefgang noch Erleuchtung warten. Der oft erwähnte „Eigentümer“ von Kurogikus romantischer Ruine in der Toskana wäre ein globaler Technologie- und Medienkonzern etwa vom Format REKALL Inc. oder Umbrella Corporation. Das Sponsoring des Contents zur japanischen Kultur von washi bis Zen stammt dann wahrscheinlich ebenso von einschlägig bekannten Organisationen.

Titelbild

Jean-Marc Ceci: Herr Origami. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2017.
160 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783455001518

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