Raketenwahn und Mondsucht

Michael Chabons Roman „Moonglow“ verbindet eine Familiengeschichte mit der Schattenseite des amerikanischen Traums vom Fortschritt

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dem neuen Roman von Michael Chabon ist ein Zitat von Wernher von Braun vorangestellt, in dem lapidar festgestellt wird, dass es eigentlich keine dunkle Seite des Mondes gibt, weil dort alles dunkel ist und nur die Sonne den Mond hell erstrahlen lasse. Nach anderen Überlieferungen stammt diese Aussage aber gar nicht von dem als Genie deutscher Ingenieurskunst gefeierten von Braun, sondern von George Driscoll, dem Pförtner der Londoner „Abbey Road Studios“, wo Pink Floyd 1972/73 ihre legendäre Platte The dark side of the moon aufgenommen hat. Das ist sicherlich kein Fehler Chabons, sondern erzählerisches Kalkül, auf das der Autor in seinen ebenfalls dem Roman – den er dort „Memoiren“ nennt – vorangestellten Anmerkungen sogar hinweist: Grundsätzlich sieht er sich der historischen Faktentreue verpflichtet, besteht aber auf einem höherwertigen und übergeordneten Willen des Dichters, diese Fakten mit Fantasie verändern zu dürfen, wenn es der poetischen Wahrheit dient. Wie kaum ein anderer zeitgenössischer amerikanischer Autor versteht es Chabon, komplexe und anspruchsvolle erzählerische Strukturen mit einem flotten, witzigen und unterhaltsamen Stil sowie einer brillanten  Sprache zu verbinden, die selbst in der Übersetzung noch zu überzeugen vermag.

In der fiktionalen Romanwelt von Moonglow erzählt ein Autor namens Michael Chabon die Geschichte seines Großvaters, die dieser ihm wiederum in seinen letzten Lebenstagen erzählt. Welche Einschätzung, Bewertung oder Formulierung von wem stammt, ist dabei nicht immer klar auszumachen. Die Unterhaltsamkeit des Textes ist zum guten Teil auch dieser grundlegenden Struktur geschuldet, das Erzählen auch als erzähltes Erzählen zu konzipieren. Trotz des geradezu sprühenden Humors, der verspielten Verschmitzheit des Erzählers und der skurrilen und aberwitzigen Situationen, in die der Großvater gerät, ist der Roman auch eine tiefsinnige Reflexion über die Zusammenhänge von Barbarei und Fortschritt, persönlicher Lebens- und historischer Zeitläufte. Denn dieser zu Beginn des 20. Jahrhunderts geborene Großvater des Erzählers ist Soldat im Zweiten Weltkrieg, der in Deutschland den Ingenieur und Pionier der Raumfahrt Wernher von Braun schon mit der Ahnung jagt, dass es sich bei ihm wohl nicht nur um einen genialen Wissenschaftler handelt, sondern auch um einen, der direkt und indirekt eine Mitschuld trägt an der Ausbeutung und Ermordung von Insassen des thüringischen Konzentrationslagers Mittelbau-Dora. Dass ausgerechnet dieser Wernher von Braun dann von den Amerikanern angeworben wurde, um schließlich mit seiner Hilfe den Wettlauf ins All zu gewinnen, bewertet der Großvater nicht als Niederlage, sondern lediglich als bizarre Fußnote der Geschichte.

Es ist im kommenden Jahr ein halbes Jahrhundert her, dass zum ersten Mal Menschen den Mond betreten haben und der Anteil von Brauns daran kann nicht überschätzt werden. Für den Großvater, der seinem Enkel von seinem Leben berichtet, ist der Mann dagegen nur eine Figur im Kosmos seiner Biografie, die gleichzeitig aber auch paradigmatisch steht für amerikanische Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg. Literarisch wurden das Ende des Zweiten Weltkriegs, die Schrecken von Nordhausen und die Bedeutung der dort in der Nähe ansässigen Raketenfabrik schon einmal aufgegriffen, nämlich im bereits 1973 erschienen Roman Die Enden der Parabel von Thomas Pynchon. Der Erzähler Chabon  in Moonglow greift Pynchons Meisterwerk explizit auf, ohne dabei aber dessen damals gleichzeitig heftig kritisierte und hymnisch gelobte postmoderne, verwirrende Erzählweise zu imitieren. 

Vor allem ist der Roman auch die Geschichte einer heute kaum mehr nachvollziehbaren Euphorie und eines Fortschrittsglaubens, der zur Zukunftshoffnung einer ganzen Nation avancierte und im Mond als Sehnsuchtsort seinen symbolischen Ausdruck gefunden hat.  Chabon gelingt es, diese Fortschrittseuphorie nicht moralisierend als Fortschrittswahn zu diskreditieren, wenngleich vor allem im Bewusstsein des Großvaters die Fortschrittsgeschichte auch immer wieder als Verschuldungsprozess erkennbar wird. Als Lebensgeschichte des Großvaters aber erweisen sich die Zeitläufte und Mentalitäten, die jenes Leben bedingen und begleiten, als wenig geeignet, um an ihnen Fragen von Schuld und Sühne oder Recht und Unrecht zu profilieren. Die Erzählstruktur des Romans erlaubt es dem Leser, zu eigenen Urteilen zu kommen, so wie auch der Großvater sich in seiner Bewertung der Raumfahrt-Hysterie die Ambivalenz und Berechtigung jeder Sichtweise auf das Thema ins Bewusstsein ruft: „Sicherlich suchten einige dieser Menschen, die zu den Sternen hochblickten, die Züge eines göttlichen Antlitzes. Viele sahen nicht mehr, als zu sehen war: das übliche Sternengesplitter, kalt und fern.“

Titelbild

Michael Chabon: Moonglow. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Andrea Fischer.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018.
495 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783462050745

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