Unverrückbar wie eine Felszeichnung
Ein neuer Erzählband von Christoph Ransmayr
Von Stefan Höppner
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Romane Christoph Ransmayrs erregen Aufsehen. Seit der Österreicher mit Die Schrecken des Eises und der Finsternis debütierte, findet er mit jeder seiner größeren Arbeiten eine breite Öffentlichkeit, zuletzt mit Cox oder der Lauf der Zeit (2016), dem Roman über einen britischen Uhrmacher am chinesischen Kaiserhof des 18. Jahrhunderts. Doch daneben läuft seit vielen Jahren eine zweite Serie, die Spielformen des Erzählens, oft unterhalb des literaturkritischen Radars. Diese gediegen ausgestatteten, dünnen Bändchen nehmen kürzere Texte von weniger als der Romanlänge auf. Andererseits dienen sie Ransmayr als Experimentierfeld für unterschiedlichste Gattungen. Hier ist Platz für einen Essay über die Kunst Anselm Kiefers (Die Ungeborene, 2002) ebenso wie für gesammelte Reisereportagen (Geständnisse eines Touristen, 2004) oder eine Erzählung, die auf nichts basiert als auf sieben naturkundlichen Farbtafeln des österreichischen Künstlers Manfred Wakolbinger (Damen & Herren unter Wasser, 2007). In den letzten Jahren waren die Veröffentlichungen leider spärlicher geworden. Wie schön, dass mit Arznei gegen die Sterblichkeit nun ein neuer Band der „Spielformen“ vorliegt, der zehnte.
Drei Geschichten zum Dank sind es diesmal geworden. Die Gattungsbezeichnung ist nicht ungewöhnlich für einen Autor und eine Serie, für die das Erzählen so zentral ist. Der gemeinsame Nenner der Texte in diesem Bändchen ist, dass sie einerseits tatsächlich „zum Dank“ vorgetragen wurden, es sich um Dankesreden für Literaturpreise handelt, und dass sie andererseits autobiographische Erfahrungen mit literarischen Verweisen und politischen Überlegungen verweben.
Das lässt sich gut am letzten Text des Bandes zeigen, An der Bahre eines freien Mannes, den Ransmayr 2018 zur Verleihung des Kleist-Preises vortrug. Schon der erste Satz irritiert: „Michael Kohlhaas, ein an seinem unerbittlichen Glauben an irdische Gerechtigkeit zugrunde gegangener Mann, den Heinrich von Kleist hoch über seine Zeit herausgehoben und unvergesslich gemacht hat, war mein Vater.“ Aber er ist paradigmatisch für den Text, in dem Ransmayr die beiden Biographien gleitend ineinander übergehen lässt – Kleists Held, der bis zum Fanatismus Gerechtigkeit suchende Mann des 16. Jahrhunderts, und Karl Richard Ransmayr, der als Sparkassendirektor Kredite per Handschlag vergab, bis er der Intrige eines FPÖ-Bürgermeisters zum Opfer fiel und danach Gerechtigkeit suchte. Das ist Erzählkunst in der Tradition von Kleist; seine Dankesrede ist zugleich eine Hommage an den Namensgeber.
Ähnlich ist es mit dem vorhergehenden Text, Eine Zierde für den Verein, entstanden zur Verleihung des Marieluise-Fleißer-Preises der Stadt Ingolstadt. Mit dieser Phrase wird der junge Fußballspieler Ransmayr nach einem blamablen Eigentor verspottet. Erst während seines Germanistikstudiums entdeckt er, dass das geflügelte Wort ursprünglich aus Fleißers einzigem Roman stammt, Mehlreisende Frieda Geier. Anders liegt der Fall nur bei der ersten und längsten der drei Dankesreden, Mädchen im gelben Kleid, die weniger Erzählung als politischer Essay ist. Ausgangspunkt ist der Anblick eines kleinen Mädchens mit einem Wasserkanister, das Ransmayr im Kongo auf dem Weg zu einem Naturschutzgebiet erblickt, wo er Gorillas beobachten will. Diese Vignette wird zum Ausgangspunkt einer längeren Reflexion über den Kolonialismus, die Ausbeutung Afrikas, Amerikas und Asiens als Grundlage des Reichtums, von dem Europa bis heute zehrt. Hier wird nicht wirklich eine Geschichte erzählt, auch wenn der Anlass – die Verleihung des Würth-Preises für europäische Literatur – auch hier in einen thematisch passenden Text einfließt; allerdings kommt kaum ins Bild, dass auch Ransmayrs eigene Reise nicht ohne koloniale Vorgeschichte zu denken ist.
Schließlich werden die drei Reden gerahmt durch einen kurzen Vorspann, der titelgebenden Arznei gegen die Sterblichkeit. Hier überblendet Ransmayr die Situation heutiger Preisreden mit der eines Steinzeitkriegers mit gebrochenen, schlecht verheilten Beinen, „ein halbnackter, mit Narben übersäter Mann“. Es sind seine Erzählungen, mit denen er sich sein Überleben im Stamm sichert: „Wer vom Narbenmann ins Reich der Vorstellung geführt wurde, der durfte von Generation zu Generation in die Vergangenheit und in die Zukunft wandern und in einem Nest, in dem ansonsten nur in Baumharz eingeschlossene Insekten, Steine oder zu Stein gewordene Schnecken überdauerten, gewiß nicht für immer bleiben, aber zumindest länger als jedes atmende Wesen.“
In seiner wie immer traumwandlerisch schönen Prosa feiert Ransmayr das Erzählen, das überliefernde Erzählen als anthropologische Konstante. Zugleich ist es für ihn Ausdruck von Menschlichkeit im doppelten Sinn, des Menschseins wie einer humanistischen Haltung, mit der er in seinen Geschichten den Kolonialismus, eine gewisse österreichische Partei und einen hochstapelnden Baulöwen angreift, der nun schon seit drei Jahren US-Präsident ist. An dieser Stelle könnte man aber etwas einwenden, das Tim Parks in seiner Essaysammlung Where I’m Reading From (2014) zur Sprache bringt: Auch die Gegner des Humanismus und der Menschenrechte verfügen über eigene Erzählungen, und ihr Erfolg beruht nicht selten auf deren Mächtigkeit und Überzeugungskraft. Ransmayr überschätzt also das Potenzial des Erzählens nicht so sehr, als dass er seine dunklen Seiten ausblendet. Das aber bedeutet keine grundsätzliche Kritik an seiner Kunst. Stattdessen ist man enttäuscht, dass der Band schon nach einigen Dutzend Seiten an sein Ende gelangt. Man wartet ungeduldig – auf Ransmayrs nächsten Roman, auf die nächsten „Spielformen des Erzählens“.
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