Mit Buchstaben gezeichnete Frauenbildnisse

Dank Martina Clavadetscher kommen Frauen zu Wort, die „Vor aller Augen“ auf weltberühmten Gemälden zu sehen sind

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Schweizer Autorin Martina Clavadetscher hatte die brillante Idee, einigen auf berühmten Gemälden porträtierten Frauen eine Stimme zu geben, mit der sie ihre reale oder fiktive Autobiographie erzählen. Damit wird ein Thema literarisch umgesetzt, das Katy Hessel in The Story of Art Without Men und Catherine McCormack in Women In the Picture, Women, Art and The Power of Looking kunstgeschichtlich und soziologisch angehen: die ungerechtfertigte männliche Dominanz in der Kunstgeschichte. Von der Intention her gibt es Parallelen zu McCormack, die gegen den „männlichen Blick“ und die den weiblichen Modellen jahrhundertelang aufgezwungenen Archetypen wie Mutter, Verführerin und Ungeheuer zu Felde zieht.

Will man mit literarischen Mitteln dagegen aufbegehren, dass die weiblichen Modelle in Malerateliers auf stumme, teils namenlose Gestalten reduziert werden, dann braucht man souveräne Gestaltungskraft. Martina Clavadetscher, die auch fürs Theater schreibt, bringt diese Voraussetzung mit. Respektheischende künstlerische Tiefe, schier unerschöpfliche Erfindungsgabe und beeindruckende sprachliche Virtuosität bewirken, dass die „mit Buchstaben gezeichneten“ (so die Autorin in ihrem erhellenden Nachwort über Entstehungsgeschichte und Zielrichtung des Buchs) Frauenbildnisse in der Kernaussage einheitlich, in Inhalt und Sprache aber vielgestaltig sind. Man könnte sie sich alle gut als Hörspielmonologe vorstellen.

Es werden 19 Porträts von Frauen – übrigens ohne die Mona Lisa – aus den Jahren 1489/90 bis 1950 vorgestellt. Stilistisch reicht das vom feinziselierten höfischen Vers aus dem Mailand des 15. Jahrhunderts von Cecilia Gallerani, der Dame mit Hermelin des Leonardo da Vinci, über die illusionslosen Erinnerungen von Rembrandts Gefährtin Hendrickje Stoffels, gemalt als Badende Frau, bis weit hinaus über die polemische Auseinandersetzung von Lina Franziska Fehrmann mit der Künstlergruppe Brücke, wobei für Ernst Ludwig Kirchners Artistin deren Freundin Marzella als Modell genannt wird.

Bilder unter anderem von da Vinci, Raffael, Rembrandt, Jan Vermeer, Vincent van Gogh und Edvard Munch werden zum Gegenstand; die bekannteste der drei vertretenen Malerinnen ist Angelika Kauffmann. Diese Aussage wäre ein Rückfall in die im Buch mit berechtigtem feministischem Furor attackierte einseitig männliche Sicht auf die Kunstgeschichte, würde sie nicht durch die Namen der Modelle der genannten Maler ergänzt: Cecilia Gallerani, Margherita Luti, Hendrickje Stoffels, Martina Vermeer, Augustine Roulin und Dagny Juel; von Angelika Kauffmann ist das Selbstporträt (mit Zeichenstift und Zeichenmappe) aus dem Jahre 1784 zu sehen.

Die Herangehensweise der Autorin sei am Beispiel eines problematischen (und in manchen Augen skandalösen) Kunstwerks nahegebracht:

Gemeint ist das Gemälde L’Origine du monde von Gustave Courbet aus dem Jahre 1866. Es zeigt ein entblößtes weibliches Geschlechtsteil und eine nackte Brust. Man weiß, dass diese Zurschaustellung in der Entstehungszeit auf wenige Personen beschränkt wurde. Noch heute kann diese schlimmstmögliche Reduktion des Bildes der Frau tiefe Verwirrung auslösen, die durch den hochfahrenden Bildtitel (deutsch: Der Ursprung der Welt) verstärkt wird. Was kommt den Betrachtenden hier extrem nahe – philosophisch verbrämte Pornographie mit wohlfeiler Bedienung männlicher Schaugier oder unverstelltes Bekenntnis zu einer Körperlichkeit, die lustvolle Vereinigung und schmerzvolle Geburt an einen Ort bannt?

Laut Martina Clavadetscher versteht das Modell Constance Quéniaux das Aufsehen nicht, das um dieses Bild gemacht wurde. Schon als zappeliges Dorfmädchen hatte sie immerzu getanzt. Das tat sie schließlich im Ballett der Pariser Oper und schenkte den Männern dort und auch in Schlafzimmern „das wohlgeformte Licht“. Das Bild zeigt den Ort der Geburt? Nicht bei ihr – dagegen setzte sie Hausmittel ein, notfalls eine lange Nadel. Ein Pascha aus Ägypten wird ihr Glücksbringer und lässt sie von Courbet malen, einmal zusammen mit ihrer lesbischen Freundin – Courbets Gemälde Le Sommeil (deutsch: Der Schlaf) von 1866 wird im Buch ebenfalls präsentiert.

Constance erkennt, so will es die Autorin, scharfsichtig die Widersprüchlichkeit des Bildes: „Die ehrlichste Schöpfung. Die Schöpfung, die niemand ansehen durfte, weil sie aussprach, woher alle kamen. Oder wohin alle wollten.“ Aber eben auch: „Eine Schöpfung also, die nur deshalb an Wert gewann, weil der Mann sich damit einlud, jene Blicke zu wagen, die er sich selbst zuvor verboten hatte. Was für ein armseliges Spiel.“

Das faszinierende Buch von Martina Clavadetscher wendet sich überzeugend gegen dieses armselige Spiel und gegen den männlichen Blick, der die Frau entwürdigt, auf ihre Körperlichkeit reduziert und sie oft namenlos macht. Waldburga Neuzil, die Auf dem Rücken liegende Frau, gemalt von Egon Schiele im Jahre 1914, bringt das Problem auf den Punkt: „Da liegt mein Alles – auf meinem Rücken. Ich bin das, WALDBURGA NEUZIL! Aber darunter steht sein Name.“

Titelbild

Martina Clavadetscher: Vor aller Augen.
Unionsverlag, Zürich 2022.
240 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783293005877

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