Auf der Experimentierbühne der verborgenen Jahre

J. M. Coetzee legt den zweiten Teil seines Jesus-Projekts vor

Von Lukas PallitschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lukas Pallitsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Buchtitel ist programmatisch gewählt und macht unmissverständlich klar, worum es im neuen Roman John Maxwell Coetzees gehen soll: Die Schulzeit Jesu. Dabei sind das Arrangement der Figuren und die Architektur des Romans keineswegs so einfach konzipiert, wie es der Titel suggeriert. Auf Die Kindheit Jesu folgt nun der zweite Band, der mit viel Raffinesse die verborgenen Jahre Jesu im Spiegel der modernen Gesellschaft einerseits und vor dem Horizont der Weltliteratur andererseits erzählt.

David strandet, davon erzählt der erste Teil, gemeinsam mit seinen Zieheltern Simon und Ines auf einer Insel. Aufgrund einer angekündigten Volkszählung fliehen sie aus der Hauptstadt Novilla in die Provinz, was die Zieheltern mit einer doppelten Aufgabe konfrontiert: Sie müssen als Hilfsarbeiter den Unterhalt besorgen und sich zudem um die Schulbildung des Sohnes kümmern. Nach einigen gescheiterten Versuchen geht David in die Tanzschule, die vom Orgel spielenden Juan Sebastián Arroyo und seiner bezaubernden Frau Ana Magdalena geführt wird. Dort begegnet er dem obersten Museumswärter Dimitri, der zum Mörder aus Leidenschaft wird. An diesem Punkt setzen die ersten Verweise auf Namen und Episoden aus der Weltliteratur ein.

„Algunos dicen: Nunca segundas partes fueron buenas.“ Frei übersetzt: „Einige sagen: Die zweiten Teile waren nie gut.“ Worin gründet Coetzees Intention, dieses aus dem Don Quijote entlehnte und dem Roman vorangestellte Zitat auf den zweiten Teil seiner Jesus-Trilogie zu beziehen? Es wäre wohl reichlich naiv, vorschnell in das Fahrwasser des paratextuellen Understatements zu geraten, denn der Roman ist voller Tiefgründigkeit und mit intertextueller Textphilosophie ausgestattet. Dabei holt Coetzee wie bereits im ersten Teil seine Figuren auf einen zeitgenössischen Schauplatz. Die Experimentierfreudigkeit dieses zweiten Teils ist besonders groß, aber das verlangt die schmale Textbasis des biblischen Schriftkorpus geradezu, handelt es sich doch um die verborgenen Jahre Jesu. Jene biblischen Jahre also, die in den Deckmantel des Schweigens gehüllt sind. Gerade das Verborgene, Apokryphe soll nun offenbar werden? Immerhin, der Blick auf die Zeit verdeutlicht, wie sehr sich der Autor in seinem Rewriting auch als versierter Leser zeigt. Mithilfe biblischer Zahlensymbolik kreist der Band nämlich um das siebente Lebensjahr des Protagonisten David, das bei einer Weinlese beginnt und am Tag der Volkszählung endet.

David oder Jesus? Oder David als Jesus? Mithilfe des Kunstgriffs einer fiktionalen Transfiguration, bei der zeitgenössische Figuren erkennbare Zeichen einer historischen Person eignen, wirkt David stellenweise messianisch: wissbegierig, Wunder wirkend, schlichtweg besonders. Hinter der Vaterfigur, von der es unentwegt heißt, er sei nicht der wirkliche Vater, steht ein Fragezeichen. Nicht nur die Vaterschaft, sondern auch die Welt und der Name werden infrage gestellt. In einem Gespräch stellt der Vater fest: „Wir sind übereingekommen, ihn David zu nennen, aber sein wahrer Name, wenn er irgendetwas bedeutet, ist natürlich nicht David, wie Sie wissen müssen, wenn Sie wissen, wer er wirklich ist.“ Natürlich hat der Name David etwas zu bedeuten, denn kein Name begegnet öfter in den messianischen Weissagungen der Propheten. Auf David als einen David redivivus beziehen sich nicht zuletzt die Hoffnungen der Evangelien, dass Gott einen Spross aus dem Hause Davids erwecken wird. Man könnte den Roman aber auch abseits all dieser biblisch gelegten Spuren als zeitgenössische Patchwork-Familiengeschichte oder als moderne Fluchterzählung lesen. Es gelingt Coetzee, Jesus aus allen dogmatischen Verkrustungen herauszulösen und einen authentischen Jesus im Alter von sechs bis sieben Jahren zu präsentieren.

Angeknüpft wird allerdings auch – ganz im Duktus von Coetzees Schreibweise – an große und kleine Texte der Weltliteratur: Dostojewskis Figurenarsenal (Aljoscha, Dimitri) und dessen Konstellation greift der Autor ebenso auf wie Johann Sebastian Bach, Miguel de Cervantes oder Rafael Alberti. Damit gleicht der Roman einem Schachbrett, auf dem die Figuren in unterschiedliche Konstellationen gerückt werden. Bemerkenswerter Weise sagt David, dass Juan Sebastián Arroyo, das Bach’sche Alter Ego, weiß, wer er ist. Bietet Bachs Musik den passenden Schlüssel, um Jesus zu poetisieren?

Die Sympathie Coetzees gilt wie in den meisten seiner Bücher den Zukurzgekommenen, Gescheiterten, kurzum, den Verlierern; daher wird die Geschichte aus der Sicht Simons, das heißt aus einer personalen Perspektive erzählt. Wenn die Erzählung auch stellenweise in eine auktoriale Perspektive kippt, so ist dennoch eine Sympathielenkung erkennbar: der ratlose Vater gegenüber dem beckmesserischen Sohn. Ist die Handlung, die den Figuren auf der zeitgenössischen Bühne aufgebürdet wird, stellenweise doch etwas mühsam und stark in philosophische Diskursebenen verstrickt, so bleibt sie als jesuanisches Vexierspiel dennoch interessant und herausfordernd. Ganz anders als Patrick Roth, der zuletzt im Sound der Evangelien die Geschichte Jesu ebenfalls in mehreren Romanteilen erzähle, schlägt Coetzee einen Ton an, der fernab der neutestamentlichen Sprache die antiken Ereignisse in eine zeitgenössische Konstellation rückt. Zwar wird das Geschehen aus der Erzählsicht eines Hilfsarbeiters präsentiert, doch es bleibt die Diskursebene eines Schriftgelehrten. In dieser Ambivalenz lassen sich Stärke und Schwäche des Romans in gleicher Weise entdecken.

Titelbild

John Maxwell Coetzee: Die Schulzeit Jesu. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Reinhild Böhnke.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2018.
317 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783103973099

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