David muss sterben

Zum 80. Geburtstag des Literatur-Nobelpreisträgers J.M. Coetzee am 9. Februar erscheint der Roman „Der Tod Jesu“

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Vergessen braucht Zeit. Wenn du erst einmal richtig vergessen hast, wird dein Gefühl der Unsicherheit weichen und alles wird einfacher werden“, hieß es im Vorgängeroman (Die Kindheit Jesu, 2013) des Literaturnobelpreisträgers John Maxwell Coetzee. Ein Mann und ein Kind kommen darin nach einer langen Schiffsüberfahrt in einem fremden Land an, in dem Spanisch gesprochen wird und die Uhren etwas anders ticken. Fortgesetzt hatte Coetzee, der seit 2002 in Adelaide lebt und seit 2006 australischer Staatsbürger ist, den großen erzählerischen Bogen vor zwei Jahren mit Die Schulzeit Jesu. David, ein seltsam altkluger und aufmüpfiger Junge, kam stets als unsympathischer Besserwisser daher, der alles unterließ, um sich irgendwie beliebt zu machen. Er erzählte allen Leuten, dass er gar nicht David heißt und dass Simón und Inés, gar nicht seine leiblichen Eltern sind. In der Schule wird dem renitenten, aber höchst intelligenten Jungen ein „kognitives Defizit“ attestiert.

Zum Abschluss seiner Trilogie lässt Coetzee seinen Protagonisten nicht nur – wie es der Titel schon nahe legte – sterben, sondern er sät überdies immer stärkere Zweifel an Davids Identität und öffnet damit Spekulationen Tür und Tor. Hat er gar seine schulischen Schwächen nur vorgetäuscht, um die skurrile Akademie der geheimnisvollen Balletttänzerin Ana Arroyo besuchen zu dürfen? Coetzee lässt seine Hauptfigur zwischen Rüpel und Genie changieren, zwischen egozentrischem Scharlatan und liebenswertem Heiligen. David hat eine handfeste, aber durchaus sympathische Marotte. Er hat Cervantes‘ Don Quichotte förmlich aufgesaugt, gedanklich vereinnahmt und zitiert daraus zu allen passenden und unpassenden Anlässen. Das ist hochartifiziell komponiert und erfordert jede Menge Lese-Kondition.

„Coetzee porträtiert die Teilhaftigkeit des Menschen an der Vielfalt des Daseins in oft überrumpelnder Weise“, hieß es in der Begründung des Stockholmer Nobelpreiskomitees, als ihm 2003 die wichtigste Auszeichnung der literarischen Welt verliehen wurde. So schwierig und rätselhaft wie seine Bücher ist auch der Autor selbst, der lange ein Geheimnis um seine Vornamen machte (es geistert noch die Variante Jean-Marie durch einige Nachschlagewerke) und seine Werke nur unter den Initialen publizierte.

Coetzee wurde am 9. Februar 1940 in Kapstadt als Sohn eines Rechtsanwaltes und einer Lehrerin geboren, studierte später in den USA Anglistik und Mathematik. Nach der Promotion lehrte Coetzee, der als Programmierer zu den Experten der ersten Computergeneration gehört, an der Universität Buffalo, ehe er 1972 als Englischdozent in seine Heimatstadt Kapstadt zurück kehrte, wo er 1984 Professor für englische Literatur wurde.

Kapstadt spielt in Coetzees Werk eine ähnlich dominante Rolle wie etwa Danzig im Frühwerk von Günter Grass. Beide verbindet, dass sie ihre Heimatstadt als Folie benutzen, um größere politisch-gesellschaftliche Missstände zu spiegeln. Wie die Figuren seiner Romane ist Coetzee ein Außenseiter – ein Schriftsteller, für den die Literatur als Kontrast zur wechselvollen Biografie existenzielle Bedeutung gewonnen hat. „Dichtung ist Wahrheit“, mit diesen knappen Worten hat er sein literarisches Credo auf den Punkt gebracht.

Seinen ersten großen internationalen Erfolg feierte Coetzee 1983 mit Leben und Zeit des Michael K. Für diesen Roman erhielt er seinen ersten Booker-Preis. Für Aufsehen sorgte er nur ein Jahr später mit dem Roman Warten auf die Barbaren, der die blutigen Übergriffe unter dem Apartheidregime schildert und durch den Foltertod des Studentenführers Steve Biko inspiriert wurde. Doch so vordergründig politisch geht es eher selten bei Coetzee zu.

Er bevorzugt die hintersinnige, an Kafka und Beckett  erinnernde Parabel. So auch in seinem absoluten Meisterwerk Schande. In diesem Roman, für den er im Jahr 2000 den zweiten Booker-Preis erhielt, geht es um eine doppelte Vergewaltigung. Der Protagonist David Lurie, ein Professor für Kommunikationswissenschaft, verliert seinen Job an der Universität, weil er sich an seiner Studentin Melanie vergangen hat. Lurie zieht sich zurück auf die Farm seiner lesbischen Tochter Lucy, die später ihrerseits Opfer einer Vergewaltigung wird und die Tat mit erstaunlicher Gelassenheit hinnimmt, als eine Art Strafe für das Vergehen ihres Vaters akzeptiert.

Außenseiter und Ausgestoßene, Personen, die isoliert leben oder selbst die Isolation gesucht haben, sind die oftmals innerlich zerrissenen Protagonisten im Oeuvre des zweiten südafrikanischen Nobelpreisträgers (nach Nadine Gordimer 1991). Coetzees Romane wollen nicht gelesen, sondern bekämpft und bezwungen werden. Sie sind eine echte Herausforderung.

Titelbild

John Maxwell Coetzee: Der Tod Jesu. Roman.
Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2020.
224 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783103970265

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