Wo die Gegenwart sich eingeholt hat

Eine Reise in die Trump-USA mit Ann Cottens bestechenden „Essays von on the road“

Von Carla SwiderskiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carla Swiderski

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was er nicht ertragen kann,
kann er nicht kapieren.

Angeordnet wie ein Gedicht und kürzer als ein Haiku empfängt einen der Klappentext rätselhaft. An diesem Satz lässt sich ein Grundprinzip von Ann Cottens Fast Dumm. Essays von on the road erkennen: Nur wer die eigenen Beobachtungen nicht von sich stößt, ist zur Erkenntnis fähig. Diese Schreibhaltung leitet die Essays der Wahl-Berlinerin, die auf einer ausgedehnten Reise anlässlich eines Literatur-Festivals in New York mit vorherigem Symposium in Moskau und anschließenden Familienbesuchen in den USA entstanden sind. Wie im Vorwort dargelegt, ist die „objektive Auflistung der Realität“ nicht unbedingt hilfreich, um sich ein Bild von Orten, Geschehnissen, Milieus und Stimmungen zu machen. Daher geht es in Cottens Texten primär um Eindrücke und deren Reflexion. Eigene Erfahrungen wie historische, kulturelle und politische Überlegungen unterfüttern die Erlebnisse im post-sowjetischen Russland, in den neuerdings von Donald Trump regierten USA und im touristischen Yucatán in Mexiko um den Jahreswechsel 2016/17 herum.

Von konkreten Beobachtungen ausgehend denkt Cotten, die in den USA geboren wurde und in Wien aufgewachsen ist, über die Weltlage nach, in dem Versuch, Zusammenhänge zu verstehen, ohne Widersprüche auszublenden. Also lotet sie die Funktionsweise der verschiedenen kapitalistischen Gesellschaften aus, indem sie die Paradoxien essentiell in die Deutung mit einbezieht. Die Ähnlichkeiten und Differenzen abwägend werden Alltag und Politik, soziale Lage und kulturelle Sozialisation seziert sowie die möglichen Ansätze des Aufbegehrens abgeklopft. Die Frage, die dabei im Hintergrund steht, ist die nach der Entstehung und Tradierung von Ungleichheit und Ausgrenzung. Es offenbart sich ein Hadern mit der in den USA hochgehaltenen Toleranz, die sich dennoch nicht gegen den strukturellen Rassismus zu wenden scheint:

Alles, was hier als gut gilt, hat eine ausschließende Komponente, die jedoch komplett verleugnet wird. Mit dem Rassismus ist es wie mit den meisten anderen Problemen in unserem gespenstischen Posthistoire: theoretisch herrscht Konsens, dass er abzuschaffen ist, jedoch laufen die Apparate weiter, die ihn aufrechterhalten. Und all diese Leute, die dagegen sprechen, aber ihr Leben nicht ändern, profitieren laufend davon.

Trotzdem lernt man mit Cotten die USA, die den Mittelpunkt der Auseinandersetzung bilden, mit ihren schillernden Widersprüchen lieben. Denn wie sie selbst feststellt: „Nun ja, ‚lieben‘ ist ja nicht nur gutheißen, sondern vielleicht vielmehr eine Art Nachvollziehen.“

Das stilprägende Changieren zwischen zwei Polen, zwischen Nähe und Distanz, zwischen individueller Reaktion und intellektueller Reflexion zeigt sich nicht nur in der Schreibhaltung. Es wird auch in der Gesamtkonzeption des Bandes gespiegelt. Auf kleinerer Ebene taucht es in der Verfremdung einzelner Wörter auf. Denn Cotten verwendet das „polnische Gendereing“, bei dem „die für alle Geschlechter notwendigen Buchstaben in gefälliger Reihenfolge ans Wortende“ gestellt werden, wie man im Impressum erfährt. Mit dem Rückgriff auf diese ungewohnte Wortbildung treten die einzelnen Buchstaben materiell hervor und machen so auf die schriftliche Verfasstheit der Essays aufmerksam. Doch auch auf größerer Ebene wird dem Prinzip der Verfremdung und Unterbrechung ebenso wie des Arbiträren gefolgt. So werden die Überlegungen von Fotografien in Schwarzweiß und Farbe begleitet, die von Cotten sowie ihrem Begleiter Marquis stammen. Die seitenfüllenden Abbildungen „im Ulrich-Seidl-Stil der internationalen Anspruchsknipserei“ stärken nicht nur die ästhetische Erscheinung des bibliophilen Bandes. Sie treten auch als bildliche Zeugen der Eindrücke auf, indem sie die besuchten Orte dokumentieren. Gleichzeitig erscheinen sie wie Fremdkörper, die den Text unterbrechen, da sie weder kommentiert noch untertitelt werden. Indem sie auf textlicher Ebene unbeachtet bleiben, eröffnen sie einen Interpretationsraum jenseits des Erzählten. Wer das Gezeigte näher einordnen möchte, muss den Lesefluss unterbrechen und hinten im Abbildungsverzeichnis nachsehen.

Ergänzt werden die Essays neben eigenen Dichtungen auch durch Gedichte von Wladimir Majakowskij und Sergej Jessenin, die Anfang des 20. Jahrhunderts in Russland gelebt und gewirkt haben, von den um 1900 geborenen englischsprachigen Autoren W. H. Auden und Langston Hughes sowie von Katia Sophia Ditzler und Jordan Lee Schnee, die beide erst in den 1990er Jahren zur Welt gekommen sind. Alle Gedichte liegen in der Übertragung von Cotten sowie im russisch- beziehungsweise englischsprachigen Original vor. Das Einstreuen der Texte anderer Autor*innen entfaltet eine ähnliche Wirkung wie die Fotografien. Es unterbricht die lineare Reise und weitet zugleich die Dimension des historisch-kulturellen Referenzraums. Besonders deutlich wird die verdichtende Kraft dieser Technik in Cottens Interpretation von The Message (1982) der Hip-Hop-Pioniere Grandmaster Flash & the Furious Five, da sie das New Yorker Ghetto gegen das gegenwärtige Berlin eintauscht. Ähnlichkeiten und Unterschiede durch Ort und Zeit treten so hervor. Das Zusammenspiel von Gegenwärtigem und Vergangenem, das die Reisereflektionen bestimmt, findet schließlich seinen runden Abschluss in einem fiktiven Brief aus der Zukunft von Katia Sophia Ditzler und Jordan Lee Schnee, der aus dem Jahr 2437 auf die Publikation Fast Dumm zurückblickt und den historisch-gesellschaftlichen wie literarischen Wert zu bemessen versucht. Das resümierende Urteil lautet: „Die Stimmungen der dekadenten Großstädte, die Cotten schildert, fangen den damaligen Zeitgeist auf subtile, aber beeindruckende Weise ein. Glücklicherweise bleibt sie auf Eindrücke fixiert, die Berichte sind nie mit Fakten überladen.“ Ein empfehlenswerter, stimulierender Trip durch Raum und Zeit, Kunst und Politik, der sich mal soghaft, mal sperrig entfaltet.

Titelbild

Ann Cotten: FAST DUMM. Essays von on the road.
starfruit publications, Fürth 2017.
248 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783922895329

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