Die Kosher Nostra, das Buch Ruth und „Eis am Stiel“

Der Jüdische Almanach, herausgegeben von Gisela Dachs, klärt über „Sex & Crime“ auf

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sex und Crime und Juden? Nu, immerhin fängt die Bibel mit Sex & Crime an: Mundraub, Diebstahl, Lügen. Dann Sex. Dann Totschlag. Also müsste gerade diese Zusammenstellung gut funktionieren. Beginnen wir mit „Crime“. Michael Wuliger, wohl einer der intelligentesten, witzigsten und scharfzüngigsten Kolumnisten Deutschlands, schreibt:

Als der New Yorker jüdische Anlageberater Bernard Madoff am 11. Dezember 2008 verhaftet wurde, weil er seine Kunden um die Rekordsumme von 65 Milliarden Dollar betrogen hatte, war der erste Reflex unter Amerikas Juden Sorge. Man könnte auch sagen Angst. ‚Bernard Madoff ist das, was die Antisemiten sich vom Nikolaus gewünscht haben‘, fasste Bradley Burston in der israelischen Zeitung ‚Haaretz‘ die Stimmung zusammen. Und Abraham Foxman, damals Chef der Anti-Defamation League, nannte die Affäre einen ‚idealtypischen Fall für Judenhasser‘. Ähnlich die Reaktionen im Oktober 2017, als bekannt wurde, dass Harvey Weinstein, einer der mächtigsten Hollywood-Produzenten, über Jahre und Jahrzehnte zahlreiche Frauen vergewaltigt und sexuell belästigt hatte, unter ihnen Stars wie Gwyneth Paltrow, Salma Hayek, Angelina Jolie und Uma Thurman. Wieder wurde von jüdischer Seite die potenzielle antisemitische Dimension des Falls beschworen. ‚Harvey Weinsteins Visage ist das jüdische Traumbild eines jeden Antisemiten‘, kommentierte Anne Bayefsky, die Direktorin des Touro-Instituts für Holocauststudien, auf ‚Fox News‘: ‚Fett, hässlich und ungepflegt. Ganz zu schweigen von Gier, Narzissmus und ekliger Völlerei. Kein Hollywood-Maskenbildner hätte es besser hinbekommen können.‘

„Sex & Crime“ ist das Thema des neuen Jüdischen Almanachs: Geschichten aus der jüdischen Unterwelt. Neben der sehr informativen Innenansicht aus Wuligers Feder, der auch über die „Schande fur di Gojim“ schreibt, die „Schande vor den Nichtjuden“, geht es um jüdische Gangsterbanden wie die „Kosher Nostra“ der 30er in den USA, Meyer Lansky, Benjamin „Bugsy“ Siegel oder Mickey Cohen und um Rabbiner, die sich besonders gut als Detektive eignen wie Rabbi Gabriel Klein in Zürich, erfunden vom Schweizer Krimiautor Alfred Bodenheimer: „Ein Kriminalfall ist für ihn ein Symptom einer ethisch aus den Fugen geratenen Gesellschaft, das grauenhafte Fehlschlagen jeder verbliebenen Form von kommunikativem Verhalten – aber auch ein epistemologisches Rätsel“. Schimon Staszweski klärt über die jüdische Strafgerichtsbarkeit auf, der israelische Krimiautor Dror Mishani fragt sich: „Warum ist es so schwierig, einen Krimi auf Hebräisch zu schreiben?“

Weitere Essays beschäftigen sich mit Stella Goldschlag, mit antisemitisch-sexistischer Ideologie und dem Raubmord am Lech an dem jungen Goldschmied Ludwig Elieser Bach – einem historischen Kriminalfall, der sich im August 1863 ereignete. In der Verhandlung versuchte der kleinbäuerliche Raubmörder Matthias Brunnhuber seine Tat antisemitisch zu rechtfertigen, das erwartete Todesurteil wurde in lebenslänglich umgewandelt. Yehuda David Shenef ordnet die Tat und das Urteil sehr klug in die damalige Gesellschaft ein, erzählt vom Streben nach Emanzipation, Anpassung, dem Ständewahlrecht und der Brutalität der „unteren Schichten“.

Und der Sex. David Biale fragt, „ob das Judentum die Sexualität befreit oder unterdrückt.“ Zeigt die Bibel als Grundlagenwerk eine „weltzugewandte“ Bejahung der Sexualität? Oder legt sie den Grundstein für die von Antisemiten behauptete „Wollüstigkeit“? Ist sie repressiv, patriarchalisch und frauenfeindlich? Biale erzählt vor allem von sexuellen Regelverstößen wie dem von Ruth, aus deren Linie König David entstammt. Ronit Irshais Aufsatz handelt von Homosexualität und Transgenderismus in der jüdischen Theologie, Ruth Westheimer kommt in einem Interview persönlich zu Wort. Die israelische Serie Eis am Stiel wird als kulturelles Dokument gefeiert, von der viele, auch deutsche, Jugendliche etwas über Sex gelernt haben, und am Schluss berichtet Oded Heilbronner über die israelische Schundliteratur, vor allem über Sex und Sadismus in den „Stalag Fiction“-Heften – ein Genre der 50er und 60er Jahre, das in Israel sehr erfolgreich war. Sex und Gewalt werden deutlich beschrieben, die Serie spielt in erfundenen nazideutschen Gefangenenlagern, den Stammlagern (Stalag), und oft kehren sich die Rollen um – die Frauen vergewaltigen: „Die Lustschreie, die die Kehlen der blutdürstigen SS-Hündinnen keuchend ausstießen, und die Schmerzensächzer der Gefangenen“… heißt es in einem Heft. Heilbronner führt das Phänomen dieser Hefte darauf zurück, dass sie „die in Israel seinerzeit herrschende Unsicherheit im Umgang mit dem Nazismus und dem Deutschland nach 1945“ widerspiegeln. „Da die Mauern des israelischen Puritanismus damals zu fallen begannen, konnte man nun pornografisches Material voller Gewalt schaffen und konsumieren, unter Bezug auf ein Volk und einen Staat, die Feind und Freund zugleich waren und an deren furchterregender Moral und Kultur sich gesellschaftliche Verbote und haarsträubende Fantasien abladen ließen.“

Sehr schön ergänzen sich die Beiträge des Jüdischen Almanachs, manches ist kontrovers, ein Nebeneinander, das die vielfältigen jüdischen Ansätze zu „Sex & Crime“ deutlich machen, Unterschiede und Gemeinsamkeiten aufzeigen. Und was die Krimis angeht, hat Michael Wuliger am Anfang schon das passende Schlusswort parat:

Chaim Bialik, der hebräische Nationaldichter, hat lange vor der Gründung des Landes geschrieben, der jüdische Staat werde nur dann ein normales Gemeinwesen sein, wenn es dort auch jüdische Diebe und jüdische Prostituierte gebe. Mag vieles am zionistischen Projekt nicht so gelaufen sein, wie es die Gründerväter erhofft hatten: Dieser Wunsch ist in Erfüllung gegangen. In Israel gibt es jüdische Verbrecher, die von jüdischen Polizisten gefasst, von jüdischen Richtern verknackt und von jüdischen Schließern in jüdischen Knästen eingesperrt werden.

Titelbild

Gisela Dachs: Sex & Crime. Geschichten aus der jüdischen Unterwelt.
Jüdischer Verlag, Berlin 2019.
200 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783633542987

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch