„Das habe ich so alles nicht gewusst. Das tut mir wirklich leid“

In seinem Buch „Körperlicher Umbruch. Über das Erleben chronischer Krankheit und spät erworbener Behinderung“ analysiert und veranschaulicht Bernhard Richarz die Innensicht Betroffener

Von Gertrud Nunner-WinklerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gertrud Nunner-Winkler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Film The Lost King (2022) schildert die Erfolgsgeschichte der Amateurhistorikerin Philippa Langley: Sie entdeckte die Gebeine von Richard III., die mehr als 500 Jahre lang verschollen unter einem Parkplatz in Leicester gelegen hatten. Eine Aufführung von Shakespeares Drama hatte ihr Interesse an diesem König geweckt und die Gleichsetzung von Körperbehinderung mit Mörderseele sie zutiefst empört. In der Tat, seit Shakespeares Tagen hat sich die Haltung Körperbehinderten gegenüber deutlich gewandelt: Ihre Einschränkung gilt nicht mehr als Strafe Gottes, sie selbst gelten nicht mehr als Monster und werden nicht – wie im 3. Reich – sterilisiert oder vernichtet. Heute geht es um Integration, und die UN-Behindertenrechtskonvention fordert rechtliche Gleichachtung. Diese garantiert allerdings keineswegs gleiche Wertschätzung in sozialen Teilsystemen, etwa im Berufs- oder Freizeitleben, oder affektive Zuwendung im Nahbereich. Häufig erleben Betroffene Ausgrenzung, Abwertung, Entfremdung. Meist fehlt Außenstehenden Empathie. „Das habe ich so alles nicht gewusst Das tut mir wirklich leid“ – so erklärt eine von Richarz zitierte  Frau, die ihre eigene Scheu überwunden und sich auf die Innensicht eines Geschädigten eingelassen hat. Genau um diesen Blick nach innen geht es in Körperlicher Umbruch: Es geht um die Art und Weise, wie Betroffene selbst mit der durch Krankheit, Unfall oder Verletzung erlittenen Beschädigung ihres Körpers umgehen.

Richarz ist Psychoanalytiker und Arzt. Selbst durch eine frühe Kinderlähmung behindert, hat er Tanzgruppen für Behinderte gegründet und geleitet. Sein theoretischer Bezugsrahmen integriert soziologische, psychologische und psychoanalytische Ansätze. In seinem Buch folgen auf die Darstellung theoretischer Überlegungen und Einsichten jeweils kurze persönliche Schilderungen. Richarz hat sie 12 Autobiographien entnommen, die Männer und Frauen zwischen 27-73 Jahren veröffentlicht hatten. Sie leiden u.a. an Parkinson, Querschnittslähmung, dem Locked-in-Syndrom, Erblindung oder MS. Ihre Eindrücke und Erlebnisse, Gedanken und Gefühle veranschaulichen die abstrakt formulierten Sachverhalte. Das Ergebnis ist eine theoretische Reflektion authentischer Erfahrungsberichte. Zur Sprache kommen die Nöte und Schmerzen Betroffener, der mühe- und leidvolle Prozess ihrer Identitätsarbeit, die allmähliche Versöhnung mit dem versehrten Körper sowie die in diesem Prozess gewonnenen Einsichten und Erkenntnisse.

Das Buch ist in drei Teile gegliedert: Der erste Teil behandelt die somatische Dimension – das körperliche Geschehen und seine unmittelbaren Folgen. Der geschädigte Körper lässt sich nicht mehr willentlich steuern; der Betroffene empfindet Scham, Angst, ein Gefühl der Überwältigung, der Sinnlosigkeit; es kommt zu Spaltungen im Körperselbst. Die Kontinuität des Erlebens ist aufgehoben, Raum und Zeit und das eigene Leben werden als begrenzt erfahren. In den Institutionen des Gesundheitssystems erleben Betroffene Spezialisten, die die Veränderung mit Diagnosen belegen, Therapien vorschlagen, über ihre Zeit und ihren Aufenthaltsort verfügen. Sie werden zu Patienten, begegnen Mitpatienten, erleben, wie Vertraute und Kollegen ihnen anders begegnen. In dieser schwierigen Situation wird ihnen gesellschaftlich ein Moratorium eingeräumt. Nach langen Bemühungen mag es ihnen gelingen, wieder – wie vordem – selbstvergessen mit ihrem Körper eins zu sein.

Im zweiten Teil geht es um die psychische Dimension – die Identitätsarbeit nach dem Umbruch. Es gilt, das bewusste Selbst an die veränderte Körperlichkeit anzupassen, dem Geschehen eine Bedeutung zuzuweisen und im Blick auf die erlebte Vergangenheit und erwartete Zukunft Identitätsprojekte zu entwerfen. Betroffene leiden darunter, dass sie dem gesellschaftlichen Ideal, makellos und fit zu sein, nicht mehr entsprechen und fürchten, dass andere sich abwenden. Allmählich lernen sie, sich Ressourcen zu erschließen, anderen von ihrem versehrten Körper zu erzählen und gemeinsam mit ihnen zu handeln.

Der dritte Teil diskutiert die soziale Dimension – die Integration in die Gesellschaft. Im Kontext des Gesundheitswesens, in Interaktionen mit Anderen, durch die Zuweisung der Patientenrolle erleben Betroffene, dass ihr geschädigter Körper als behindert gilt: Sie werden geringgeschätzt, da sie die herrschenden Normen in Bezug auf die Körperkontrolle nicht erfüllen können. Sie erleben das Geschehen als Widerfahrnis. Aus dieser Passivität vermögen sie sich zu befreien, sofern sie lernen, sich Ressourcen zu erschließen, den Umbruch mit Vorerfahrungen zu verknüpfen und ihr allgemeines Identitätsempfinden der veränderten Körperlichkeit anzupassen. Dann mag es auch gelingen, die eigenen Lebens- und Welterfahrungen nach außen zu vertreten und die sozialen Konstrukte von Behinderung neu auszulegen.

Die Debatte um Menschen mit Behinderung ist Teil der gegenwärtigen Bemühungen um den Abbau von Diskriminierung. Die theoretischen Analysen dieser Auseinandersetzungen stellen häufig die Sichtweisen unterschiedlicher Beteiligter unvermittelt nebeneinander. An zwei Beispielen sei dies illustriert: Das Konzept der Mikroaggression bezeichnet subtile Formen der Herabsetzung marginalisierter Personen. Häufig handelt es sich dabei um Äußerungen, die Vertreter der Mehrheitsgesellschaft eigentlich wohlwollend meinten, Betroffene aber als weiteren Fall in einer langen Kette ähnlicher Kränkungen wahrnehmen. Die ‚standpoint epistemology‘ deutet Wissensformen als Produkt der Position in Machthierarchien. Nur der Blick von unten ermöglicht ein angemessenes Verständnis der sozialen Realität. Strikte – zumeist die ursprünglichen – Lesarten beider Konstrukte bestreiten Übersetzungsmöglichkeiten. Da ihnen entsprechende Erfahrungen fehlen, können Mikroaggressoren die verursachten Verletzungen, dominante Gruppen ihre verzerrten Wahrnehmungen psychologisch nicht nachvollziehen und kognitiv nicht erkennen.

Richarz Analyse verfährt komplexer. Ihm geht es um den Austausch ineinander verstrickter und zugleich einander wechselseitig ergänzender Perspektiven, der allen Beteiligten eine erweiterte Sicht eröffnet. Ausgangspunkt ist die Stigmatisierung behinderter Menschen. Unter Rekurs auf Goffman zeichnet Richarz diesen Prozess plastisch und eindrücklich nach: Die Betroffenen selbst müssen die Verunsicherung und Peinlichkeit überspielen, die ihr Anblick bei anderen auslöst. So etwa haben sie Dank für unerwünschte Hilfe zu erweisen, sich als normal darzustellen und die angebotene Scheinakzeptanz anzunehmen. Soweit es ihnen  allmählich gelingt, den eigenen Schmerz auszuhalten und Trauer zuzulassen, vermögen sie sich der sozialen Vorgabe, dass sie ‚behindert‘ seien, zu entziehen. Ihnen wird bewusst, dass sie die kollektiv geltenden Ideale von Körperbeherrschung selbst internalisiert haben, die kulturell üblichen behindertenfeindlichen Anschauungen selbst teilen. So erkennen sie, dass sie die eigene Ablehnung des versehrten Körpers auf andere projizieren. In dem Maße, in dem sie ihren eigenen Anteil an der Abwertung erkennen, vermögen sie sich aus der Rolle des passiven Opfers zu lösen und können auf einseitige Schuldzuschreibungen verzichten.

Und indem sie Ängste überwinden und die Begrenztheit ihres Lebens annehmen, erkennen sie, dass Andere durch die Abwertung und Ausgrenzung behinderter Menschen ihre eigenen Ängste vor Verletzlichkeit und Vergänglichkeit abzuwehren suchen. So können sie eine wesentliche Erfahrung nachvollziehbar vermitteln: In einer auf stetes Wachstum ausgerichteten Gesellschaft, die die Begrenztheit des Lebens und (wie der Autor vorsichtig zurückhaltend in seiner Schlussbemerkung anfügt) der Ressourcen abwehrt, eröffnet die Konfrontation mit der Geschichte eines körperlichen Umbruchs „eine Wirklichkeit, die mit einem unversehrten Körper meist im Verborgenen bleibt“. Anzumerken ist allerdings eine Einschränkung, die der Autor selbst in seinem Schlusswort benennt: Nicht immer gelingt Betroffenen die Versöhnung mit ihrem Körper, mit ihrem Schicksal: Erfahrungsberichte, auf denen seine Analyse basiert „schildern in der Regel Wiederherstellung […] Denjenigen, deren Köper dauerhaft schmerzt, ängstigt oder beschämt, die […] einsam sind und ihrem Selbst entfremdet bleiben, fehlen die Worte.“

Die Lektüre des Buches vermittelt allerdings nicht nur wichtige Einblicke in unvertraute Welten – sie löst auch eine leichte Frustration aus. Sie erwächst aus formalen Aspekten der Darstellung. Zwar besticht die gesamte Argumentation durch ihre Klarheit. Aber es finden sich auch vielfältige Repetitionen, die nicht zuletzt dem unerbittlichen Systematisierungswillen des Autors geschuldet sind. Der offenbart sich schon in der Gliederung: Jeder der drei Teile umfasst je fünf Hauptpunkte mit jeweils wieder genau fünf Unterpunkten. Zentrale Momente der Erfahrung – etwa der Verlust körperlicher Selbstvergessenheit, Abwertungen durch Außenstehende, Selbstentwertungen, die Erkenntnis der Begrenztheit des Lebens – kommen, letztlich unvermeidlich, in allen drei Hauptkapiteln je erneut zur Sprache. Etliche Aussagen sind eher banal (z.B. „das Subjekt ist zufrieden, wenn sein Vorhaben gelingt, unzufrieden, wenn es nicht gelingt“), andere wirken zu detailliert (so etwa wenn nicht nur die Nutzung ökonomischer, sozialer, kultureller Ressourcen, sondern auch je verschiedene Kombinationen dieser Ressourcen in jeweils einzelnen Unterpunkten diskutiert und illustriert werden). Einige Passagen sind wenig informativ – etwa wenn ein umfassendes Set unterschiedlichster möglicher Reaktionen auf den Umbruch seitens Betroffener (Scham, Schuldzuweisung an Dritte, Hoffnung, Suizidgedanken) oder Außenstehender (Angst, Abwehr, Vermeidung, Rückzug, Hemmung, Anteilnahme, Hilfsbereitschaft, Vermittlung von Zuversicht) schlicht aufgelistet und mit ausführlichen Zitaten illustriert werden. Ja, man versteht: Es gibt eine Vielfalt von Reaktionsmöglichkeiten. Aber man erfährt eigentlich nichts Konkretes: Es bleibt völlig offen, wann oder warum welche Reaktion unter welchen Bedingungen bei welcher Art von Personen  mehr oder weniger wahrscheinlich ist.

Ungeachtet dieser kleineren Kritikpunkte meine ich: Die Lektüre des Buchs ist Betroffenen dringlich zu empfehlen. Und der Kreis der Betroffenen ist groß. Da sind zum einen natürlich die Personen, die selbst eine andauernde Schädigung ihres Körpers erlitten haben. Sie können erfahren, dass sie in ihrem Schmerz nicht allein sind und Hoffnung schöpfen aus Berichten gelingender Bewältigung. Betroffen sind weiterhin Beschäftigte im Gesundheitswesen sowie Angehörige, Freunde und Kollegen, die mit Geschädigten umgehen: Die anschaulichen – teils überraschenden, teils bedrückenden – Selbstberichte eröffnen einen unmittelbaren Zugang zum subjektiven Erleben von Menschen, die einen körperlichen Umbruch erleiden. Betroffen sind aber letztlich wir alle, die wir behinderten Menschen auf Straßen, in Verkehrsmitteln, bei Versammlungen begegnen. Die theoretisch reflektierten Analysen zeigen, welchen Schmerz verständnislose Reaktionen der sozialen Umwelt bei behinderten Menschen auslösen können. Bei allem Gewinn, den die Lektüre verspricht – ein fast 700 Seiten dicker Wälzer mag selbst Interessierte abschrecken. Aber langatmige oder eher repetitive Passagen lassen sich überfliegen und die instruktiven problemlos auffinden. Ein solcher Lesemodus wird durch das oben monierte Systematisierungsbestrebens des Autors erheblich erleichtert. Der Autor hat nicht nur eine differenzierte und übersichtliche Gliederung vorangestellt, er leitet auch das gesamte Buch sowie jedes der drei Hauptkapitel mit einer kompakten, hoch informativen Vorschau ein. Und in einer knappen Schlussbemerkung gelingt es ihm, die äußerst komplexen, detailreichen Darlegungen  zusammenfassend zu verdichten.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

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Bernhard Richarz: Körperlicher Umbruch. Über das Erleben chronischer Krankheit und spät erworbener Behinderung.
Transcript Verlag, Bielefeld 2023.
686 Seiten, 53,99 EUR.
ISBN-13: 9783839464731

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