Schnöde neue Welt

Adrian Daub stellt in „Was das Valley denken nennt“ die Denkmuster des Silicon Valley vor

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was das Valley denken nennt – ein provokanter Titel, keine Frage. Der Autor Adrian Daub lehrt Komparatistik und deutsche Literatur an der Stanford University. Die Mitarbeiter*innen der großen Konzerne haben bei ihm studiert, sie begegnen ihm auf der Straße, sie wohnen nebenan. Daub ist damit unmittelbarer Augenzeuge dessen, was im Silicon Valley vorgeht. Dabei ist der Titel missverständlich: Daub behauptet keineswegs, dass im ‚Valley‘ nicht gedacht, sondern etwas nur ‚Denken‘ genannt werde. Im Gegenteil: Der Autor möchte zeigen, dass einer Industrie, die behauptet, ideologiefrei zu sein und ihren Erfolg einfach der Lösung praktischer Bedürfnisse der Nutzer*innen verdanke, sehr wohl ein Denken, genauer, eine Ideologie zugrunde liege – eine Ideologie, deren Vordenker sich ohne Probleme benennen lassen, wenn deren Gedanken dabei manchmal auch eigenartig verdreht werden. 

Daub macht das an sieben Grundbegriffen fest, die er als zentral für die Rhetorik der Tech-Industrie ansieht – Aussteigen, Inhalt (im Sinne von ‚content‘), Genie, Kommunikation, Begehren, Disruption und Scheitern. Das Ganze ergibt keine kohärente Argumentation über das ganze Buch hinweg, sondern bietet lesenswerte Vignetten, die um die einzelnen Termini zentriert sind. Vieles, was Daub hier vorbringt, ist allgemein bekannt: Dass soziale Medien wie Twitter (nutzt auch der Schreiber dieser Zeilen) nicht versehentlich politische Extremismen erzeugen, sondern sie begünstigen, weil der in Konflikten erzeugte Datenverkehr zum Geschäftsmodell gehört; dass Plattformen wie Uber und Lyft halbwegs abgesicherte Arbeitsverhältnisse zugunsten prekärer Formen von Scheinselbständigkeit zurückdrängen; dass sich das Scheitern mit einem Start-Up vor allem für diejenigen verkraften lässt, die von Haus aus wohlhabend und in den allermeisten Fällen weiß sind. 

Lesenswert ist das trotzdem, weil Daub die Phänomene bündig und prägnant beschreibt. Und wegen seiner wohl gesetzten Bonmots: „Paradoxerweise ist die Disruption letzten Endes also etwas wie Neuheit für Menschen, die sich vor Neuem fürchten. Eine Revolution für Menschen, die sich von der Revolution keinen Vorteil erwarten dürfen.“ Oder: Tech-Firmen, die als rebellische Außenseiter gegen etablierte Geschäftsformen auftreten, seien „nur in sehr begrenztem Maß Außenseiter, oder um es ganz offen zu sagen: Sie sind Außenseiter, wie das hölzerne Pferd ein Außenseiter für Troja war.“ Auch neue Gesichtspunkte zeigt Daub auf: Er beschreibt, dass es offenbar eine Gruppe privilegierter Studierender an US-Eliteuniversitäten gibt, die ihren Studienabbruch von vornherein als festes Element ihrer Biographie einplanen, um damit einen Lebenslauf nach dem Muster von Vorbildern wie Bill Gates oder Mark Zuckerberg zu gestalten. In der Regel geht das sogar ohne Risiko. Viele, die dann im Digitalsektor scheitern, kehren problemlos an die Universität zurück und führen ihr Studium zu Ende.

Am interessantesten ist Daubs Buch immer dann, wenn es die tatsächlichen philosophischen und literarischen Quellen der Argumentationsmuster erkundet: So zeigt er, dass der einflussreiche PayPal-Mitbegründer und zeitweilige Trump-Unterstützer Peter Thiel ein begeisterter Anhänger des französischen Philosophen René Girard ist. Girard, der seine letzten Lebensjahrzehnte in Stanford verbrachte, vertrat die Lehre, dass jedes menschliche Begehren mimetisch sei, dass es also das Begehren anderer Menschen nachahme. Daher seien menschliche Gemeinschaften von unvermeidbaren Konflikten geprägt, die sich nur durch die Projektion auf ein unschuldiges Objekt, ein ‚Opferlamm‘ entschärfen ließen. Nur in seltenen Fällen, etwa der Kreuzigung Jesu, werden diese Mechanismen offen benannt. Dies wiederum führe zur Selbsterkenntnis derjenigen, die im Konflikt befangen seien, und entschärfe ihn. Es ist die Theorie eines tiefgläubigen Katholiken. Davon abgesehen, dass sie ihre Schwächen hat – es muss z.B. anfangs ein nicht-mimetisches Begehren geben, das überhaupt nachgeahmt werden kann –, nimmt Thiel der Theorie ihren religiösen Kern (so Daub) und funktioniert sie zu einer Kulturkritik um, die den Menschen als Herdentier zeichnet, das nicht aus seiner Haut kann. Dies wiederum wird für ihn zum Ansatz dafür, das Bemühen um mehr Gleichheit und Diversität in der Gesellschaft als große Gefahr darzustellen, weil so die ‚unvermeidlichen‘ Konflikte noch mehr angeheizt werden. Thiel verkaufe das als Bruch mit der Tradition, als tiefe Erkenntnis, die von einem liberalen ‚Mainstream‘ geheim gehalten werde, obwohl es einfach auf einen männlichen, weißen Kulturkonservatismus hinausläuft.

Ebenso präsent ist die unvermeidliche Ayn Rand, deren Romane wie Atlas Shrugged und The Fountainhead in den USA seit Jahrzehnten bevorzugter Lesestoff republikanischer Wähler*innen und Politiker*innen sind. Auch bei den führenden Köpfen des Silicon Valley erfreut sie sich großer Beliebtheit, obwohl und gerade weil sie einen uneingeschränkten Kapitalismus vertritt. Für die Gründerfiguren des Silicon Valley sei aber noch ein anderer Aspekt ihrer Romane zentral: Rands Helden seien Figuren mit einer unkomplizierten, unverfälschten Autonomie. Ihnen stehe eine verknöcherte, verkrustete Welt voller Autoritäten mit Allmachtsanspruch im Wege, die aus dem Weg zu räumen sind, damit sich das geniale Einzelwesen entfalten kann – eine Überzeugung, die Daub bis in die Botschaften von Pixar-Animationsfilmen nachzeichnet. Kurz: es gibt Leute, die höher stehen als andere und wahre Genies sind; andere tun gut daran, ihnen den Weg frei zu machen. In diese Formel, die man auch von Nietzsche oder von Hermann Hesses Demian herleiten könnte, passen nicht nur Industrielle wie Steve Jobs und Elon Musk. Es ist auch das Bild, dass die Tech-Firmen gern von ihren Kund*innen zeichnen, zumindest in der Werbung: Sei einfach du selbst. Nämlich anders (und besser) als die anderen. Verwirkliche dich ganz – natürlich nur mit unserer Technik. Dass hier die Ideale der Hippie-Kultur der 1960er mit denen einer überzeugten Individualistin wie Rand zusammentreffen, ist nicht neu, wurde aber selten so einprägsam beschrieben wie hier. Und: einerseits haben analoge Denker*innen wie Rand, Girard oder auch Jürgen Habermas wenig mit dem Silicon Valley zu schaffen. Ihr Appeal reicht auch weit über diese Kreise hinaus. Trotzdem, das zeigt Daub, ist ihr Denken für die Macher der großen Tech-Firmen zentral, wenn auch in verkürzter Form. Daub erklärt das damit, dass die meisten Größen der IT-Welt mit deren Gedankenwelt nur kurz während des B.A.-Studiums in Kontakt kommen, das in den USA ein allgemeinbildendes ist, in dem es höchstens ein, zwei Schwerpunktfächer gibt. Einzelne wie Thiel haben da einen deutlich intellektuelleren Hintergrund, sind aber die Ausnahme.

Soweit zur Lage, wie sie das Buch beschreibt. Aber was tun? Um es klar zu sagen: Auch Daub singt kein Loblied des vordigitalen Zeitalters, in dem das populärste Multifunktionsgerät das Schweizer Taschenmesser war. Tatsächlich ist auch Die Rache des Analogen (2016), wie sie ein Buch von David Sax preist, also die Rückkehr von Brettspielen, Vinylplatten und teuren Moleskine-Notizbüchern, vor allem eine dialektische Komplementärbewegung zur Digitalisierung. Ein Minderheitenphänomen, das (auch) der Distinktion der Besitzer*innen dieser analogen Gegenstände dient – und tendenziell zur Verschmelzung digitaler und analoger Dienste führt.

Interessant wäre gewesen, was der Literaturwissenschaftler Daub zu den mittelfristigen Auswirkungen der Digitalisierung auf die akademische Welt zu sagen hätte. Damit ist nicht nur der freiwillig-unfreiwillige digitale Schub dank Corona gemeint, dessen Folgen noch nicht abzusehen sind. Denn als der einsetzte, hatte Daub sein Manuskript bereits abgeschlossen. Dass das Buch zu derlei Effekten nichts ausführt, ist schade. Am Rande deutet der Autor nämlich an, dass die großen Firmen des Silicon Valley auch die Universität, wie wir sie kennen, als potenzielles Auslaufmodell betrachten, dem neue Plattformen ein eigenes, natürlich „besseres“ Angebot entgegensetzen könnten. Oder, eine Nummer kleiner, was bedeutet das hier beschriebene Denken für die Geisteswissenschaften? Keine Frage, gerade die neuartigen Methoden der Digital Humanities bieten auch genuin neue Erkenntnisse. Zum Beispiel, weil sie Muster in großen Datenmengen sichtbar machen, die ein menschlicher Leser allein nicht bewältigen kann, und weil sie diese Muster in elegante, interaktive Visualisierungen übersetzt. Trotzdem stellt sich die Frage, wie sich solche Methoden auf das Kernverständnis dessen auswirken, was Geisteswissenschaften eigentlich tun (sollen). Für die Literaturwissenschaft hat das Mirco Limpinsel in einem eindrucksvollen Aufsatz behandelt. 

Demnach lenken neue Methoden den Blick darauf, wie eine Disziplin bisher funktionierte und wie sie ihren Gegenstand konstituiert. Das kann sich schlimmstenfalls so auswirken, wie es die Vertreter*innen des Faches Literaturwissenschaft gerade nicht beabsichtigen: Wenn die Methode unabhängig von der Art des Gegenstandes funktioniert – zehntausend Romane lassen sich mit denselben Methoden untersuchen wie zehntausend Zahnpastareklamen, vorausgesetzt, es handelt sich in beiden Fällen um Textdaten –, warum sollten Romane dann ein privilegierterer Untersuchungsgegenstand als Zahnpastareklame sein? Man kann das ja auch begrüßen: Vielleicht ist Zahnpastareklame einfach ein aussagekräftigerer Gegenstand zur Beurteilung einer Epoche als die Erzähltexte mittelalter Männer und Frauen. Und wer anderer Meinung ist, den fordert die Digitalisierung zumindest so weit heraus, dass er oder sie sich gute (und neue) Argumente für die Relevanz der Institution Literatur überlegen muss. 

Effektive Gegenmittel hat Daub nicht anzubieten, allenfalls die Schärfung unseres Bewusstseins. Mit Vorsicht zu betrachten ist jedenfalls eine Antragsrhetorik, die Digitalisierung als Selbstzweck formuliert, nur um auf der Höhe des Zeitgeistes zu sein. Andererseits können und sollten Leser*innen und Forscher*innen jedenfalls nicht so tun, als könnten wir außerhalb dieser Transformation leben, oder als würde sie unser Leben nur verschlechtern. Im Gegenteil gibt sie uns Möglichkeiten an die Hand, von denen frühere Generationen nicht zu träumen wagten. Auch in der Forschung und Lehre. Aber sie tut es um einen Preis. Über sie zu reflektieren und möglichst bewusst zu entscheiden, wo wir uns beteiligen und wo nicht, wäre schon ein Gewinn. Für diejenigen, die ein solches Ziel anstreben, ist Daubs Buch eine inspirierende Lektüre.

Titelbild

Adrian Daub: Was das Valley denken nennt. Über die Ideologie der Techbranche.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
159 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783518127506

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