Ein Schneeball mit Folgen
„Der Fünfte im Spiel“ von Robertson Davies ist so notwendig wie randständig
Von Karl-Josef Müller
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Seine Neigungen als Schriftsteller sind weit entfernt von jeder Mode und jedem Trend.“ Dieser Charakterisierung des Romans Der Fünfte im Spiel von Robertson Davies kann der Rezensent nur zustimmen. Sie stammt von M.G. Vassanji, nachzulesen im Vorwort der englischsprachigen Ausgabe des Romans Fifth Business, zuerst 1970 erschienen. Bei diesem Fünften handelt es sich nicht um das sprichwörtliche fünfte Rad am Wagen, sondern „in den alten Dramen und Opern“ um Figuren, die keinerlei Hauptrolle spielen und dennoch „wesentlich waren für die Enthüllung oder Lösung des Knotens am Ende“, so zunächst zu lesen in dem Motto, das dem eigentlichen Text des Autors vorangestellt wurde.
Ab welchem Lebensalter beginnt die Verantwortung für das eigene Tun und Handeln? Ein Schneeball, der für einen zehnjährigen Jungen bestimmt ist, trifft eine schwangere Frau am Hinterkopf – mit fatalen Folgen. Es kommt zur Frühgeburt, das Neugeborene überlebt wie durch ein Wunder und wird später ein weltbekannter Zauberer und Magier.
Doch schuldig fühlt sich nicht der Werfer, sondern dessen nicht getroffener Freund. Es sei dahingestellt, wie glaubhaft ein derartiges Schuldgefühl dem Leser erscheinen mag. Erst Jahrzehnte später und ganz am Ende des Romans wird sich das eigentliche Rätsel des Schneeballwurfs aufklären, und zwar durch den Fünften im Spiel, den Ich-Erzähler der Romanhandlung, dem der Schneeball gegolten hatte.
Doch dabei belässt es Robertson Davies nicht. Denn das Romangeschehen ist eingebettet in eine recht fragwürdige Rahmenhandlung. „Aber warum schreibe ich überhaupt an Sie, werden Sie sich fragen?“ Dunstan Ramsey, so der Name des Ich-Erzählers, wird nach fünfundvierzig Jahren Schuldienst in den Ruhestand versetzt, wir schreiben das Jahr 1969. Zu diesem Anlass erscheint in der schuleigenen Vierteljahresschrift ein Nachruf auf ihn, den verdienten Lehrer, der sich durch diesen Artikel weniger geehrt als vielmehr in seiner Würde beleidigt fühlt. In seiner Verbitterung sieht er sich genötigt, dem Schuldirektor auf annähernd vierhundert Seiten seinen Werdegang zu schildern, um damit seine besondere Rolle in dem Drama, das dabei zum Vorschein kommt, zu erläutern. Während der Lektüre verliert der Leser dieses wenig glaubwürdige Konstrukt über weite Strecken aus den Augen, zu sehr ist er damit beschäftigt, der eigentlichen Romanhandlung zu folgen.
Erzählt wird das Schicksal des Schneeballwerfers, der es zum überaus erfolgreichen Geschäftsmann bringt, immer im Hintergrund begleitet vom Ich-Erzähler, der ein, von außen betrachtet, eher unspektakuläres Leben führt. Weitere Aufmerksamkeit gilt Mrs. Dempster und ihrem frühgeborenen Sohn Paul. Auch der Lebensweg des Ich-Erzählers wird geschildert, doch bemerkenswert erscheint diese Existenz weniger in ihrem eigenen Handeln, sondern mehr in ihrer beobachtenden Rolle. Dunstan Ramsay ist keineswegs der alte Schullehrer, „der mit Tränen in den Augen und einem Tröpfchen an der Nase in den Ruhestand wankt“, das allerdings nur, weil er als Zeuge bedeutender Ereignisse von weitaus größerem Interesse ist, als es die arrogante Abschiedsrede nahelegen würde.
Fast scheint es so, als verkörpere Ramsay den Erzähler an sich, und damit verbunden auch den Autor und seine enorme Anstrengung, einer Handlung Leben einzuhauchen. Was dem Leser selbstverständlich erscheinen mag, nämlich dass, wenn er zu einem Buch greift und mit der Lektüre beginnt, er in eine andere, ihm fremde Welt entführt wird, ist das Ergebnis harter und intensiver Arbeit – was aber kaum noch auffällt, wenn die Dichtung gelingt, was schwer erklärbar ist.
Gegen Ende des Romans erzählt Ramsay nochmals seine Lebensgeschichte, und Liesl, die Adressatin der Schilderung, definiert ihn daraufhin als den Fünften im Spiel:
Aber die Handlung kann nicht voranschreiten ohne eine weitere Gestalt, und die ist gewöhnlich ein Bariton und heißt bei Theaterleuten „Der Fünfte im Spiel“, weil dieser Mann als Einzelner agiert […]. „Der fünfte im Spiel“ ist notwendig, weil er derjenige ist, der das Geheimnis der Geburt des Helden kennt oder der Heldin zu Hilfe kommt, wenn sie alles schon verloren glaubt, oder der die Einsiedlerin in der Zelle hält, oder sogar irgendjemandes Tod verursacht, wenn es die Handlung verlangt. Der Primadonna und dem Tenor, dem Kontraalt und dem Bass werden die besten Arien zugeteilt […], aber ohne den Fünften kann die Handlung sich nicht entwickeln. Seine Funktion ist nicht spektakulär, aber sie erfüllt einen wichtigen Zweck […].
Liesl ist es auch, die Ramsay vorwirft, er habe sein Leben nicht gelebt, weil er jeden anständig behandele „‚außer einen gewissen Jemand, und dieser Jemand ist Dunstan Ramsay.“ Dunstan Ramsay aber beharrt darauf, dass sein gelebtes Leben von größerer Bedeutung war, als es dem oberflächlichen Blick von außen erscheinen mag.
Sein Werdegang weist erstaunliche Parallelen auf zur Romanfigur William Stoner des nordamerikanischen Autors John Williams. Stoner erschien zunächst 1965, mit enttäuschender Resonanz, und bis zu seinem Tod 1994 musste Williams davon ausgehen, dass sein Buch kaum nennenswerten Erfolg haben würde. Erst als der Roman 2006 neu herausgegeben wurde, begann seine Erfolgsgeschichte. Er wurde in viele Sprachen übersetzt und erreichte beachtliche Auflagen. Stellvertretend für die neuerliche Rezeption, hier das Urteil von Morris Dickstein aus der New York Times: „John Williams‘ ‚Stoner‘ ist etwas selteneres als ein großer Roman – es ist ein perfekter Roman, so gut erzählt, so schön geschrieben und so tief bewegend, dass es einem den Atem verschlägt.“
Auch Stoners Leben wird, allerdings von einem allwissenden auktorialen Erzähler, im Rückblick geschildert. Ebenso wie der Fünfte im Spiel, hat er in seinem Leben nichts zustande gebracht, was über seinen Tod hinaus von Bedeutung wäre, und dennoch gelingt es Williams mit dieser vermeintlich unbedeutenden Figur, den „perfekten Roman“ zu schreiben. Charles J. Shields übernimmt im Titel seiner Williams-Biographie, die jüngst in deutscher Übersetzung erschienen ist, diese Formulierung von Morris Dickens: Charles J. Shields: Der Mann, der den perfekten Roman schrieb. Shields leitet das drittes Kapitel der Biographie ein mit einem Williams-Zitat aus dem Entwurf für eine Erzählung, das präzise die Machart von Stoner charakterisiert: „‚Nimm irgendeinen Menschen‘, sagte ich, […] ‚studiere ihn sorgfältig. Nimm ihn, würze ihn mit ein wenig Fantasie und Mitgefühl – und schon hast du einen Roman‘“
Auch Williams unterstreicht die Aufgabe eines Romanautors als Konstrukteur der geschilderten Ereignisse; allerdings stehen bei ihm Menschen im Mittelpunkt, während Davies seine Figuren zu Verkörperungen moralischer Fragestellungen degradiert. Schildert Williams, vereinfacht ausgedrückt, Menschen aus Fleisch und Blut, so versinnbildlichen die Romanfiguren bei Robertson Davies eher moralische Probleme, als dass sie als Individuen kenntlich würden. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass das Buch in Kanada zur Schullektüre gehört, was auch daran liegen dürfte, dass wir es hier, wie Kai Sina in der F.A.Z. (24.10.2019) hervorhebt, „streckenweise“ mit einem „Ideenroman“ in der Tradition von Thomas Manns Zauberberg zu tun haben.
An dieser Stelle scheiden sich die Geister. Der Fünfte im Spiel wirkt zu deutlich als ein Konstrukt in moralischer Absicht, als dass der Roman überzeugen könnte. Um es in Anlehnung an Goethe zu sagen: Man merkt die Absicht, und man ist verstimmt. Literatur, wie Kunst allgemein, verfehlt ihr Ziel, wenn sie lediglich der Illustration moralischer Grundsätze dient.
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