Feminismus kollidiert mit Romantik
Alba de Céspedes verteidigt in ihrem großartigen Roman „Aus ihrer Sicht“ einen Mord aus Liebe als Notwehr
Von Nora Eckert
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer Roman erschien 1949 in Italien unter dem Titel Dalla parte di lei, erlebte 1994 eine Wiederentdeckung und liegt nun endlich als deutsche Erstausgabe in der exzellenten Übersetzung von Karin Krieger vor. Das „endlich“ erscheint mir gerechtfertigt, weil dieser frühe feministische Roman einer literarischen Entdeckung gleichkommt. Er zeichnet ein fulminantes Psychogramm, das die Lebensgeschichte einer jungen Frau mit der Geschichte Italiens zu Zeiten des Faschismus und der Nachkriegszeit eng miteinander verstrickt. Der politische Widerstand wird so zum Spiegel einer ganz persönlichen Resistenza gegen eine patriarchale Kultur, in der die Ungleichheit der Geschlechter festgeschrieben ist und die im Gesellschaftlich-Politischen ebenso wie im Privaten ein verhängnisvolles Scheitern markieren. Dass sich in das Ganze auch noch die Romantik einmischt als Mythos ewiger Liebe, fügt dem Realismus der Erzählung eine nachgerade tragische Metaphysik hinzu.
Im Mittelpunkt steht das Mädchen Alessandra, die als Ich-Erzählerin auftritt und uns, inzwischen zur Frau geworden, rückblickend über ihre Kindheit und Jugend in Rom berichtet, von einer kapriziösen, Klavier spielenden Mutter, die in ihrem Liebesunglück Suizid begehen wird, als Alessandra noch im Mädchenalter ist, von einem ignoranten Vater mit widerlichem Charakter, den sie nicht liebt, dem sie nie höflich, sondern immer nur kurz angebunden antwortet, und den sie „hinterhältiger Eindringling in unsere friedliche Frauenwelt“ nennt. Sie erlebt die Streitereien ihrer Eltern, hört ihre wütenden Stimmen hinter verschlossenen Türen, worin „sich das ganze Elend der Intimität“ zwischen Mann und Frau offenbare.
Ihr Leben beginnt unter einem Unstern, nämlich dem des toten Bruders Alessandro, der als Kleinkind im Tiber ertrank und dessen Stelle sie nun einnehmen soll, sozusagen als ein Ersatz-Alessandro. Ihre eigene Persönlichkeit wurde auf diese Weise förmlich aufgehoben und verschwand für lange Zeit in den wachgehaltenen, spiritistisch beschworenen Erinnerungen an den Toten. Das hinterlässt Spuren in ihr, es macht sie ebenso verschlossen wie verletzlich. Am Ende jedoch erwächst daraus Stärke und Unabhängigkeit, und die Verletzlichkeit verwandelt sich in einen ebenso wachen wie sehnsüchtigen Blick.
Schon als Kind sitzt sie gerne still am Fenster, um hinauszuschauen und ihren Träumen nachzuhängen, dabei die anderen Fenster der Nachbarhäuser beobachtend. Ihre Wachheit lässt sie tiefer als die anderen schauen:
Ich bekam plötzlich großes Mitleid mit allen Frauen. Wir waren, so schien es, eine sanfte, unglückliche Spezies. Meine Mutter und deren Mutter ebenso wie alle Frauen, die aus den Fenstern zum Hof schauten wie durch die Gitterstäbe eines Gefängnisses, und die Frauen, denen ich auf der Straße begegnete, mit ihren traurigen Augen und ihren dicken Bäuchen, ließen mich die Last eines jahrhundertealten Unglücks spüren und eine trostlose Einsamkeit.
Was hier Trostlosigkeit und Einsamkeit heißt, meint nichts anderes als das Ehegefängnis, mit der untergeordneten Rolle der Frau darin und ihrer Verfügbarkeit für den Mann. Die Ehe sei ein Räderwerk der Routine mit der Frau als Dienstmädchen und Muttertier, über die der Mann sagen dürfe, er ernähre sie.
Später dann, bei der in ihrer Gestalt fast archaisch wirkenden, übermächtigen Großmutter in den Abruzzen, wo Alessandra nach dem Tod ihrer Mutter vorübergehend lebt, geht der Blick ins Weite und Offene der Landschaft, aber das Gefühl einer Sehnsucht bleibt. „Habe ich doch schon als Kind gelernt, in der Einsamkeit glücklich zu sein“, heißt es an einer Stelle und an einer anderen: „Gegen Abend öffneten wir das Fenster und betrachteten die blühenden Bäume und die grünen Wiesen. Ich begann zu verstehen, dass es im Leben jeder Frau so ein Fenster gibt.“ Der Fensterblick – ein romantisches Motiv par excellence. Von diesem romantischen Gefühl kommt sie trotz ihrer unerbittlichen Wachheit nicht mehr los, als ob ihr kritischer Geist, ihr selbstbewusster Eigensinn es wie eine Art Lebensmittel nötig habe und als wäre das Leben zudem eine Art Märchen:
Ich glaube, das Märchen, das wir von uns hinterlassen wollen, ist der geheime Antrieb für unsere Taten und Worte; warum nicht sogar sagen, dass es der Sinn unseres Lebens ist?
Sie wird erwachsen und ist nun eine junge Frau. Damit wird in ihrem Leben alles nur noch komplizierter. War ihr schon als Mädchen die „mysteriöse Anwesenheit der Männer“ im Leben der Frau aufgefallen, so ist sie jetzt selbst eine, was sogleich Schuldgefühle in ihr weckt: „Jedes Zeichen an meinem Körper, das mir und anderen diese Weiblichkeit enthüllte, nahm ich voller Scham wahr.“ Alle schienen ständig etwas von ihr zu erwarten. „Was das war, konnte ich noch nicht genau erkennen.“ Sie spürt im begehrenden Blick ihres Onkels Alfredo, wie ihre Kleider für ihn durchsichtig wurden – „und ich sank zu einem Flittchen herab“. Ganz anders ihr Onkel Rodolfo, dessen zärtlicher Blick ihr sofort auffällt und ihr Nähe ermöglicht: „Er verriet ein so aufmerksames Wissen um die Zerbrechlichkeit der Frau und zugleich so große Sorge um mein Wohlergehen.“
Alessandras Vorstellung von der Liebe zwischen Mann und Frau ist zum einen mystisch, indem sie die Vereinigung als „engelhaft“ und „unschuldig“ imaginiert, und zum anderen feministisch, weil in ihr die Gleichheit der Geschlechter eingeschrieben ist als eine absolute Gleichberechtigung. Das eine will so wenig wie das andere gelingen in einer strikt patriarchalen Gesellschaft, obschon beides wie eine Verheißung am Anfang des langen Berichts von gut 600 Seiten steht: „Ich begegnete Francesco Minelli zum ersten Mal am 20. Oktober 1941 in Rom.“ Das ist der erste Satz im Roman und erst 300 Seiten später erfahren wir, was er bedeutet, denn bis dahin erzählt Alessandra ihr Leben bis zu dem Punkt, wo sie jenem Francesco begegnet und ihr Bericht benötigt weitere 300 Seiten, bis jener Francesco als ihr Mann verblutend im Ehebett liegt.
Sie nennt ihn einen außergewöhnlichen Mann. Er ist Dozent an der Universität, Antifaschist und aktiv im Widerstand. Sie sieht ihr eigenes Leben in ihm gespiegelt und als sei er für sie vorherbestimmt:
Francesco war von Anfang an bei mir, seit meiner Geburt, als mein Vater sich geärgert hatte, dass ich ein Mädchen war. Er leistete mir Gesellschaft, als ich am Fenster saß und Perlen auf eine Schnur zog. Darum erkannte ich ihn, als er vorüberging, lief die Treppe hinunter und nötigte ihn so, sich umzudrehen.
Doch ihre Ehe wird zur unerfüllten Erwartung, von Gleichheit keine Spur. Sie sprechen kaum noch miteinander. Die Themen, die sie anfangs zusammenbrachten, werden nicht mehr angesprochen. Er nimmt sie nicht mehr ernst, behandelt sie wie ein Kind, schaut sie nicht einmal mehr an, küsst nur noch ihre Wange. Daran ändert auch nichts Alessandras Entscheidung, ebenfalls aktiv im Widerstand zu arbeiten. Francescos abgewandte Schulter im Bett wird zum Symbol der Abweisung. „Diese Erfahrung unterscheidet die Frauen, die Liebhaber haben, von denen, die einen Ehemann haben.“ Seltsam, wie blind Alessandra ist, wo es um das von ihr selbst geschaffene Gefängnis der „ewigen Liebe“ geht und wieviel Selbstverleugnung ihr Heroismus enthält.
Sie schreibt ihren langen Bericht aus dem Gefängnis als eine Verteidigung, damit das Gericht den genauen Hergang der tragischen Ereignisse erfahre, „weil es nur recht und billig ist, sie auch aus der Sicht der Frau zu betrachten“. In ihrem Vorwort zur Neuausgabe von 1994 schrieb die Autorin:
Dieses Buch machte mir auch bewusst, wie naiv die Begeisterung gewesen war, mit der ich in den Kampf für die Freiheit gezogen war und geglaubt hatte, dass es möglich sei, die Liebe als ein Abenteuer ohne Grenzen und ohne Verstellung zu leben.
Die Nachkriegsgesellschaft habe ihr die Würdigung als politische Kämpferin verweigert. „Daher war ich wütend, als ich mich mit der Rückkehr zur Normalität erneut in der untergeordneten Rolle wiederfand, die mir die Gesellschaft zuwies, weil ich eine Frau war.“ Nicht unerwähnt sei Barbara Vinkens Nachwort mit dem darin enthaltenen Hinweis, dass die Ich-Erzählerin Alessandra keine Figur wie im Roman des 19. Jahrhunderts sei – „an ihr ist keine weibliche Schwäche. Sie begeht weder Ehebruch noch Selbstmord, sondern Mord“.
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