Begegnung in der Transsib

In ihrem Kurzroman „Weiter nach Osten“ verknüpft Maylis de Kerangal zwei sehr verschiedene Schicksale im Verlauf einer sehr langen Bahnfahrt

Von Günter RinkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Rinke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Obwohl die Schriftstellerin Maylis de Kerangal in Frankreich für ihre Romane und Novellen bereits mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet wurde, ist sie in Deutschland bislang wenig bekannt. Das zeigt sich auch daran, dass ihr Roman Weiter nach Osten, französisch Tangente vers l’est, der in ihrem Heimatland 2012 erschienen ist, bei uns erst zwölf Jahre später, kongenial ins Deutsche übersetzt von Andrea Spingler, vom Suhrkamp Verlag publiziert wurde. Möglicherweise hat diese Verlagsentscheidung auch etwas mit der seither eingetretenen Veränderung der politischen Situation in Russland zu tun. Die Beschäftigung mit der russischen Armee, die den Plot der Erzählung wesentlich bestimmt, hat durch die Ereignisse von 2014 und 2022 eine andere Aktualität gewonnen als zum Zeitpunkt der Erstpublikation.

Formal könnte der Text mit guten Gründen als Novelle bezeichnet werden. Dies gilt nicht nur im Hinblick auf den knappen Umfang und das begrenzte Figureninventar, sondern vor allem wegen der Komposition. Es gibt ein Zentralmotiv, das den Gang der Handlung durchgehend bestimmt, nämlich die Transsibirische Eisenbahn. Mit ihr geht es von einer Station vierzig Stunden hinter Moskau, wahrscheinlich Nowosibirsk, über die sibirischen Städte Krasnojarsk und Irkutsk, vorbei am Baikalsee immer weiter nach Osten bis nach Wladiwostok am Pazifik. Die Begegnung der beiden Hauptfiguren, des zwanzigjährigen frisch einberufenen Rekruten Aljoscha und der fünfzehn Jahre älteren Französin Hélène, würde außerhalb des Zuges wohl nicht stattfinden und sie würde sicherlich nicht so intensiv ausfallen, wie dies in der Erzählung der Fall ist. Die Eisenbahn bringt außerdem weitere Figuren ins Spiel, vor allem die prowodnitsi (Zugbegleiterinnen), die für das Wohl der Fahrgäste sorgen, von denen eine dem ungleichen Paar allmählich zur Verbündeten wird, je weiter die Fahrt vorangeht.

Eine weitere Figur, die in der Erzählung Profil gewinnt, ist der Feldwebel Letschow, dessen Aufgabe darin besteht, die Neulinge in der Armee möglichst vollzählig an ihren Ausbildungsort zu bringen. Welcher Ort das ist, wird den Rekruten nicht mitgeteilt, sie haben nichts zu fragen, müssen nur ab und zu an Bahnhöfen antreten und sich demütigen lassen, was sie wiederum gleichmütig hinnehmen. Der Feldwebel ist schlecht gelaunt, weil er Angst hat, seine junge Geliebte könnte ihm während seiner Abwesenheit untreu werden. Um das zu verhindern lässt er sie zu Hause von jungen Männern überwachen, denen er zur Freistellung vom Militärdienst verholfen hat. Aber die Unsicherheit bleibt, und notfalls wird er ihr die Nase brechen, die Augen ausstechen, sie umbringen – so seine Gedanken.

Die Armee erscheint in einem denkbar schlechten Licht. Weil Aljoscha weiß, was ihn in der Grundausbildung erwartet, will er um jeden Preis desertieren. In einer sehr eindrücklichen Szene wird er von zwei Kameraden ohne jeden Grund, aus Spaß und reinem Sadismus, zusammengeschlagen. Erst als er mit voller Wucht zurückschlägt und einer von beiden zu Boden geht, lassen sie von ihm ab. Typischerweise lässt der andere seinen Kumpanen liegen und geht weg, statt ihm zu helfen. Drastisch wird die Motivation der Vielen geschildert, sich auf verschiedene Weise dem Wehrdienst zu entziehen – Bestechung, falsches Attest, Schwängern eines Mädchens:

Das Schikanieren der Wehrpflichtigen, und wenn er dort ist, wenn die Rekruten im zweiten Jahr ihm mit der Zigarette den Schwanz verbrennen, ihn die Latrinen auslecken lassen, ihn am Schlafen hindern oder in den Arsch ficken, wird er allein sein, niemand wird ihm helfen können.

Diese Schilderung entspricht dem, was jüngst den Berichten von Exilrussen in Texten und Filmdokumentationen zu entnehmen war. Aus dem Vorhaben, dem allen zu entkommen, entsteht die Spannung des kurzen Romans. Erst unwillentlich, dann mit zunehmender Energie findet Aljoscha Unterstützung durch Hélène, die in Krasnojarsk zugestiegen ist, nachdem sie ihren russischen Geliebten Anton verlassen hat.

Anton spielt in absentia eine wichtige Rolle, denn er steht einmal für die kulturelle Differenz zwischen einer selbstbewussten Frau aus Paris, wo sie sich kennengelernt haben, und einem russischen Intellektuellen, der in sein Land zurückkehrt, als dieses ihm „ein[en] fabelhafte[n] Karrieresprung“ bietet: Er wird Leiter des Wasserkraftwerks von Diwnogorsk, „der Herr des Staudamms“. Hélène ist ihm dorthin gefolgt und hat nun erkannt, dass sie nicht bleiben kann, weil sie die Situation plötzlich als Gefangenschaft empfindet. Vielleicht ist es auch eine Gefangenschaft in ihrem eigenen lückenhaften, teils klischeebehafteten Bild von Russland, das ihre Wahrnehmung des Geliebten prägt und von dem sie nicht loskommt.

Zum anderen ist Anton als reifer, selbstbewusster Mann ein Gegentypus zum noch jungfräulichen Aljoscha, der in manchen Augenblicken noch etwas Kindliches hat, so dass er in Hélène Mutterinstinkte weckt. Von Anton konnte sie sich in einem spontanen Entschluss lösen, die Transsibirische Eisenbahn besteigen, um dem Pazifik und damit der Freiheit entgegenzufahren. Paradoxerweise fährt sie weiter nach Osten, um schließlich im Westen, in ihrer Heimatstadt Paris wieder anzukommen. Dagegen scheitern während der Bahnfahrt wiederholte Versuche, den jungen Rekruten wieder loszuwerden. Nach seinen vergeblichen Versuchen, an größeren Bahnhöfen das Weite zu suchen, findet er immer wieder Zuflucht in ihrem Abteil. Fast bis zum Schluss bleibt offen, wie die Sache ausgeht und ob der hartnäckige Feldwebel Erfolg haben wird, den Abtrünnigen wieder einzufangen.

Der unbedingt zu empfehlende Text weist mehrere Stärken auf. Sein auffälligstes Merkmal ist die vorwärtsdrängende Sprache, die den Erzählgegenstand, die scheinbar endlose Bahnfahrt ins Ungewisse, gleichsam syntaktisch abbildet. Die oft langen Satzperioden machen es schwer, den Lesefluss zu unterbrechen: Man möchte weiterlesen nicht nur wegen der spannenden Handlung, sondern weil die Sprache einen Sog entwickelt, dem kaum zu entkommen ist. Das beginnt sofort nach dem knappen Einleitungssatz: „Die da kommen aus Moskau und wissen nicht, wohin sie fahren.“ Die da (Ceux-là) werden danach in mäandrierenden Sätzen nicht nur beschrieben, sondern auch gleich als Kollektivsubjekt charakterisiert, stämmige Kerle, gelangweilt, einem Herdentrieb folgend, demselben Schicksal unterworfen.

Denn auch wenn ein General versichert, man werde mit Rücksicht auf die Familien künftig die Einsatzorte der Rekruten bekanntgeben, ändert sich nichts an der Ungewissheit. Jenseits von Nowosibirsk beginnt das scheinbar grenzenlose Sibirien mit seiner Faszination und seinen Schrecken. Das Ungewöhnliche, Unheimliche wird in unerwarteten Bildern und manchmal seltenen Wörtern beschrieben: Die kurz von den Rücklichtern des Zuges beleuchteten Schienen erscheinen als „weißliche Spur, die im Vergehen den Raum sofort wieder schließt, ihn hinter sich lässt, formlos und pulsierend, dem amniotischen Schwarz der Ursprünge anheimgegeben“.

Zeit und Raum, ihre gegenseitige Bedingtheit und die Relativität ihrer Wahrnehmung sind ein Hauptthema der Erzählung. Schon im ersten Absatz ist von der „Latenzzeit des Zuges“ die Rede. Der Raum, den der Zug durchfährt, scheint unbegrenzt zu sein, während sich die Interaktion der Figuren überwiegend in den schmalen Fluren der Wagen und im engen Abteil Hélènes oder sogar in der noch kleineren Zugtoilette abspielt, in der Aljoscha sich verstecken muss. Während das ungleiche Paar sich immer kleinere Verstecke einfallen lässt, durchmisst der Zug eine Zeitzone nach der anderen, so dass Aljoscha sich fragt, ob am Ende der Reise die Zugzeit wieder mit der Erdzeit übereinstimmen wird. Wer wie Hélène vergisst, seine Uhr umzustellen, weiß bald nicht mehr, wie spät es ist.

Eine weitere Stärke Kerangals besteht darin, kulturelle Kontexte auf knappstem Raum aufzurufen. Dabei geht es weniger um ‚objektive‘ Sachverhalte als um kulturelles Wissen und Wahrnehmungen. Auf zwei Seiten charakterisiert die Autorin Russland aus der Sicht einer Westeuropäerin, die zwar überdurchschnittlich informiert, aber sich doch der Lückenhaftigkeit ihres Wissens bewusst ist. Die Landesnatur erschließt sich ihr mit den im Erdkundeunterricht gelernten Begriffen Steppe, Taiga, Tundra. Sibirien erscheint aus Aljoschas Moskauer Sicht als „schwarzes Loch“, als in weiten Teilen terra incognita, ein Land der Verbannung, „das riesige Verlies des Zarenreichs, bevor es zum Land des Gulags wird“.

Andererseits wird der Baikalsee wie ein Weltwunder bestaunt, das die Fahrgäste aller drei Zugklassen an die Fenster lockt. Von Paris aus gesehen, ist Russland für Anton, wenn er mit seiner Freundin abends am Boulevard Raspail auf einer Terrasse sitzt, etwas trinkt und Haschisch raucht, „ein Land von Irren“, „Mutter Heimat und Stiefmutter Krieg“. Aber kaum in Krasnojarsk angekommen, gehört er wieder dazu, lässt sein Armband klirren, spielt mit seiner schwarzen Brille und fährt in einer „Apparatschik-Limousine“ davon – allerdings nicht ohne ironische Distanz zu diesem Rollenspiel.

Das Buch ist aus der Erfahrung einer Reise der Autorin mit der Transsibirischen Eisenbahn entstanden, die sie zusammen mit anderen Schriftstellern auf offizielle Einladung hin im franko-russischen Jahr 2010 unternahm. Die Erzählung wurde aus einer dialogischen Radiosendung mit dem Titel Lignes de fuite (Fluchtlinien) umgearbeitet. Zu fragen ist, ob solche Erfahrungskontexte unter den heutigen politischen Umständen noch möglich sind. Zu wünschen ist, dass sie es wieder werden.

Titelbild

Maylis de Kerangal: Weiter nach Osten. Roman.
Aus dem Französischen von Andrea Spingler.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024.
90 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783518432129

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