Faszinosum des Abstrakten und Enigmatischen

In seinem Kurzroman „Das Porträt“ widmet sich Jean de Palacio dem Thema Aussterben von Sprachen

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach seiner Lehr- und Forschungstätigkeit zur englischen und europäischen Romantik, insbesondere zu Mary Shelley, avancierte Jean de Palacio, inzwischen 93-jähriger Emeritus für Komparatistik, zur Koryphäe schlechthin im Bereich der Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts – für all jene vielfältigen Strömungen, die gemeinhin in sehr reduzierter Form unter dem Etikett „Fin de siècle“ zusammengefasst werden.

Mit Das Porträt hat Alexandra Beilharz, ihrerseits Fin de siècle-Spezialistin, Palacios ersten Roman, im französischen Original 2017 erschienen, 2008 bereits fertiggestellt, hervorragend ins Deutsche übersetzt.

Vergleicht man den Autor mit schriftstellernden Kollegen, so etwa Dietrich Schwanitz, David Lodge oder Ulrich Horstmann, so fällt auf, dass er sich genauso wenig wie diese vom Uni-Alltag entfernt, weil er ein Sujet aus der Wissenschaft wählt. In viel stärkerem Maße indessen als jene offenbart Palacio in seinem Kurzroman von Anfang an, dass hinter ihm ein „abîme de sciences“ steht, der tief in „seine Epoche“ eintaucht und dabei ein schier unfassbares Feuerwerk an intertextuellen und intermedialen Anspielungen zündet.

In einem Prolog tritt das Bildnis eines Unbekannten auf, eigentlich, so seine Besitzerin, an deren Schlafzimmerwand es hängt, ein „in der Vergangenheit eingeschlossener“ Porträtierter, den sie nichtsdestoweniger in ihr Privatleben aufgenommen habe und der sie beobachte.

Die Binnenhandlung schwenkt zu Maurice Guilhon, einem Sprachforscher. Unzweifelhaft ist er der Abgebildete. Guilhon liebt es, Sprachen zu lernen. Seit seiner Kindheit fasziniert ihn das Unvollendete. Er sammelt Sprachen, die vom Aussterben bedroht sind und errettet sie. In „dicken“ und „leinengebundenen, mit einer silbernen Schließe zugesperrten Heften“ hat er seine „Sprachjagd“ dokumentiert und archiviert. Nur eine Sprache ohne Namen entzieht sich ihm – genauso wie Elisabeth Wehland, mit der er Verben dieser Sprache wie Juwelen sammelt, bevor sie sich verabschiedet. Fortan verknüpft er die Sprache ohne Namen mit dieser Frau. Sie schreibt ihm einen unvollendeten, kaum leserlichen Brief, in dessen Blancs lediglich das griechische Ξ erkennbar ist.

Guilhon lässt sich nicht beirren und sucht in England weiter, wo er die Lexikographin Françoise Grandterre besucht, „eine Meisterin des Wortes“, die allein mit ihren Büchern lebt und in ihnen eine Art Lepra diagnostiziert. Die Krankheit tötet Bücher, indem sie ihre Wörter ausradiert.

In Wien, der nächsten Station der Queste, ist Elisabeth genauso wenig auffindbar wie in Paris, bei der Mitgliederversammlung des Living Tongues Institute for Endangered Languages. Dort trifft Guilhon mit Sabrina Westwood zusammen, deren „Synesios“ er während einer Lehrtätigkeit in Oxford war.

Danach überschlagen sich die Ereignisse: mit dem Tod einer 89jährigen Frau stirbt eine Inuit-Sprache, das „Eyak“, aus. Nachdem er der Beerdigung dieser Frau beigewohnt hat, erfährt Guilhon, dass Elisabeth wieder aufgetaucht ist. Als er sie in Wien besucht, redet sie eine ganze Nacht hindurch und enthüllt ihm dabei 900 Wörter der Sprache ohne Namen.

Guilhon, dessen Kräfte zunehmend schwinden, steckt sich während seiner Suche nach weiteren Sprachen in Neuguinea mit Malaria an. Nach wochenlangem Leiden stirbt er.

Das letzte Kapitel und ein Epilog weisen auf den Anfang zurück: die Besitzerin des Porträts folgt „ihrer musikalischen Intuition“ und gibt dem für sie Unbekannten nur das zu hören, was ihm zu gefallen scheint. Offen bleibt, welche Klangmedien sie dafür wählt.

Der Roman sei „aus der Verbindung einer uralten Angst“ (der durchaus berechtigten vor dem Verschwinden von Sprachen) „mit einer aktuellen Nachricht“ (eine Pressemeldung über das „Eyak“) entstanden – so schreibt Jean de Palacio in seinem Vorwort. Eine realistische Handlung, die sich daraus hätte entfalten können, liegt in weiter Ferne. Falsch wäre es ebenso, Das Porträt als „Fantasy-Roman“ zu klassifizieren. Vielleicht hat Palacio bewusst ein der „Sprache ohne Namen“ konformes Genre ohne Namen gewählt, dessen Umsetzung formal, Kurzroman oder Novelle, unproblematisch ist, dessen Text selbst, inhaltlich und sprachlich, sich windet und entzieht – am ehesten als epigonal ästhetizistisch charakterisiert werden kann, teils auch surrealistisch und angereichert mit manifesten fantastischen Elementen. Die weitläufigen und tiefgründigen Verweise auf Literatur, Kunst und Musik fügen sich nur partiell zu einer kohärenten Struktur, sind dafür aber umso inspirierender.

Da ist zunächst Maurice Guilhon, dessen Name eine umgekehrte Klangverwandtschaft zu Gustave Moreau aufweist. Der Protagonist situiert sich also a priori in die Malerei des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Er ist ein passionierter Intellektueller, so etwas wie ein philologischer Nerd, dem Sprachforschung die Welt bedeutet. Auserlesene Wörter aus divergenten professionellen Sparten, so etwa aus dem Zimmerhandwerk oder der Segelschifffahrt, lassen ihn jubilieren; mehr noch ein „hapax legomenon“, ein Wort, das nur einmalig belegt ist.

Mit seinem elitären und intellektuellen Habitus rückt Guilhon nah an Jean Floressas des Esseintes aus Joris-Karl Huysmans‘ Gegen den Strich, der „Bibel der Dekadenz“. So wie der Held des Ästhetizismus ist auch der Linguist ein bibliophiler Sammler. Eine Bibliothek mit ausgesuchten Werken in wertiger Aufmachung kann er sein Eigen nennen, eine Bibliothek, die er nach einer seiner Reisen im Zustand der Devastation vorfindet.

Guilhons weibliches Pendant ist Françoise Grandterre: „sie stopfte sich mit Wörtern voll, ernährte sich tags wie nächtens davon, kompensierte die Leere des Signifikats mit dem ungehemmten Überfluss des Signifikanten.“

Nicht minder in ihre Forschungen immergiert ist Sabrina Westwood, nahezu Femme fatale, einst Adeptin Guilhons, ihn nun wie eine Erinnye verfolgend. Nach seinem Tod verschwindet sie, hinterlässt ihre Wohnung vermüllt und mit Papierschnipseln aus zerrissenen Büchern übersät.

Guilhons zerstörte Bibliothek, die „Bücherlepra“, das klein geschredderte Papier in Westwoods Wohnung – so die Trias intensiver Bilder für das Aus der Forschungen zu verschwindenden Sprachen. Eng verflochten damit und gleichermaßen weit entfernt davon ist Sprache als Abstraktum, als Konzentrat vieler virtueller Sprachkompetenzen, deren Überbleibsel an Performanzen Guilhon mit Akribie aufzuspüren trachtet. Elisabeth Wehland, deren Name quasi eine Sprache ohne Land symbolisiert, hat den Neurologen und Psychiater Jürgen Vollbracht geheiratet. Er beobachtet einen steilen Anstieg von Aphasien – das Chaos ist vollbracht.

Obgleich Sprache als Abstraktum im Zentrum steht und sie bedingt zu einer Akteurin mutiert, wird sie kaum personifiziert und kommt somit kaum als direkte Allegorie daher. Dennoch ergibt sich eine Art allegorisches Framing, in dem eine multidimensionale idiosynkratische Symbolwelt residiert. In ihrem Vorwort zu Das Porträt schreibt Ilina Gregori, dass wir „nach der letzten Seite dieses außergewöhnlichen Buches vollends verwirrt“ seien „und ohne Hilfe erprobter Interpretationsmodelle die Rätsel lösen“ müssten, „die sich im Laufe des Textes“ akkumulierten. Laut Gregori bietet Das Porträt ein „Leseabenteuer, welches einzig der absoluten Unsicherheit reiner Fiktion verpflichtet ist“. Und in dieser gilt es immer wieder, neue Untiefen auszuloten, gilt es, sich im Zuge dessen auf eine Sprache einzulassen, die sich auf einem hohen ästhetischen Niveau einpendelt – feingeschliffen, enigmatisch und hermetisch, auch einmal mit zur Katachrese tendierender Metaphorik, so etwa in dem pompösen Satz „Das Verb ähnelte einem Leichnam… dessen hohle Zähne das Universum erleuchteten und den matten Schimmer ihres vergilbten Elfenbeins darüber sprühten“. Das Elfenbein des berühmten Turms ist in die Jahre gekommen.

Expert:innenwissen zu griechischer und römischer Antike, intrafiktional bei Guilhon und extrafiktional bei Palacio, trifft auf den Alltag des 20. respektive 21. Jahrhunderts, in dem die Geste des detailverliebten Sammelns und Konservierens, die im 19. Jahrhundert funktioniert hat, obsolet geworden ist. Was bleibt, ist Babel, der Zustand der Verwirrung – expliziert im Roman mit Pieter Bruegels Turmbau zu Babel, dessen Wiener Version Guilhon besichtigt. Vor allem ruft der babylonische Zustand Borges‘ Die Bibliothek von Babel auf, „diese dem Wahnsinn verfallene Bibliothek, in der sich Lücke und Wirrwarr vereinten“.

In moderater Form spiegelt sich dieser Wirrwarr in Palacios Text – sein mehrdeutiges intertextuelles Gewebe gibt sich nur dann zu erkennen, wenn man gewillt ist, diese Herausforderung zu akzeptieren. Dem ästhetizistischen Erbe entsprechend, kristallisiert sich die Bedeutung der Künste in ihren einzelnen Ausprägungen und in ihrer Interaktion heraus. Mit dem Schwanengesang auf einige Sprachen und auf Forschungen mit philologischer Exaktheit geht ein Hohelied auf Literatur, Malerei und Musik einher.

Das lebende Porträt kann nicht nicht an Oscar Wildes Das Bildnis des Dorian Gray erinnern – Dorian Gray, genauso wie des Esseintes durch und durch Ästhet, altert nicht selbst, sondern der Abgebildete an seiner Stelle.

Was am Ende obsiegt, ist Musik, seit alters als höchste aller Künste definiert: Die rätselhafte Unbekannte, Besitzerin des Porträts, steigt zur „Schatzmeisterin der Musik“ auf. Ihr gehöre „das gegenwärtige Leben des Prinzen hinter Glas“, der so wie der lebende Guilhon eine Vorliebe für die Spiegelfugen François Couperins hat, für ihren „Charakter flüchtiger, beinahe mathematischer Abstraktion“. Ihnen galt Guilhons „unerschütterliche und treue Vorliebe“, folgen sie doch einer kompositorischen Grammatik, die strukturelle Parallelen zu Sprache in ihrer abstraktesten Form aufweist. Am Ende hat Musik die verbale Sprache ersetzt. „Sprache war nicht mehr nötig“, denn „die Musik wog sie auf und wurde zu einer geschickten Übersetzerin oder Pantomimin“. Strukturparallelen, der Roman als Rondo, und die Musikähnlichkeit der Sprache, der Klang der Signifikanten, sind bei einer Analyse des Romans nicht zu vernachlässigen.

Von seinem ästhetischen Anspruch und seiner Umsetzung her bietet Palacios Text einen perfekten Spiegel des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Die im 20. Jahrhundert situierte erzählte Zeit antizipiert Entwicklungen des 21. Jahrhunderts. Nicht von ungefähr stirbt Guilhon am 23. April, seit 1995 Welttag des Buches.

Während der sieben Jahre seit dem ersten Erscheinen des Romans hat sich „die linguistische Lage weltweit verschlimmert“ – so lässt sich ein Statement des Romans zum 20. Jahrhundert in die Jetztzeit übertragen. Und vor allem: „Der sprachliche Niedergang setzte sich fort und nahm beunruhigende Ausmaße an. Die Menschen verstanden sich nicht mehr. Die Grammatik klapperte, die gelockerte Syntax zersplitterte, das Asyndeton regierte, blähte sich monströs auf, und das Denken wurde allenthalben in seinem logischen Fortgang behindert“.

Wenn sich die Lektüre des Kurzromans widerständig und kryptisch anlassen mag, so bietet sie doch in erster Linie ein grandioses Buffet mit pluralen Köstlichkeiten, an dem sich viele Leser:innen bedienen und es kommentieren können. Ganz im Sinne Sartres vollenden sie das Werk und schreiben sich somit in ein hermeneutisches Universum der Deutungen ein.

Titelbild

Jean de Palacio: Das Porträt. Roman.
Aus dem Französischen von Alexandra Beilharz.
Flur Verlag, Heidelberg 2024.
133 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783989651005

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