Geh weg!

Bea Daviesʼ beeindruckende Graphic Novel „Super-GAU“ ist eine zeichnerische Erinnerung an den 11. März 2011

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Diese Geschichte fängt mit einem Prolog an, einer kleinen Geschichte vom 11. März 2011: Ein Mann geht in einer asiatischen Stadt, Sendai im Osten Japans, über die Straße, als ein Beben den Erdboden erschüttert. Den Erschütterungen folgt eine Tsunami-Warnung, und der Warnung die Flutwelle. Der Mann versucht, statt sich zu retten, auf seinem Mobiltelefon einen deutschen Anschluss anzuwählen. Als das nicht klappt, versucht er es mit einer Telefonzelle. Aber die Verbindung kommt nicht zustande. Die Welle reißt ihn und die Zelle mit sich. Er verschwindet spurlos, die Telefonzelle ist im Trümmerfeld immerhin noch zu finden.

Zu diesem Prolog hat Bea Davies (1990 in Italien geboren, seit 2012 lebt sie in Berlin), die diese Beigeschichte zum Tsunami von 2011, der zum Atomunfall von Fukushima führte, geschrieben und gezeichnet hat, einen Epilog hinzugefügt: Mehr als zehn Jahre später reist ein junger Mann nach Sendai und findet eine Telefonzelle. Eine ältere Frau steht darin und telefoniert mit ihrer Tochter, die im Tsunami von 2011 verschwunden ist. Ein Gespräch, das dem Trost dient. Der junge Mann folgt ihr und führt ein Gespräch mit dem im Tsunami verschwundenen Vater, den wir im Prolog kennen gelernt haben. Ein Gespräch, dass 2011 so oder anders nicht mehr zustande kam und nun post mortem geführt werden muss.

Zwischen diese beiden Passagen hängt Bea Davies eine Reihe von Berliner Katastrophengeschichten, die nicht minder eindrucksvoll und nicht minder tröstlich sind. Eine junge Frau, Lea, die in einem Asyl arbeitet und dort auf eine sprachlose Gestalt trifft, die sie in ihren Träumen gesehen hat. Die ihre Mutter sucht, die sie vor Jahren aufgegeben hat und sie vielleicht wieder findet. Ein Mann, der von der Gegenwart so überfordert ist, dass er sich zurückzieht, um zu schreiben. Und als er fertig ist, einen alten Freund genau dort im Cafe wieder aufsucht, wo er ihn vor Jahren verlassen hat. Die Frau des Mannes, der versucht hat, von Sendai aus dem Tsunami heraus noch zuhause anzurufen. Und als sie von ihrem Mann nichts hört, trifft sie sich genau mit dem überforderten Mann der Episode zuvor, der hier nicht minder falsch handelt als zuvor. Am Schluss der Geschichten werden diese beiden ein Paar sein. Ein Mann, der auf der Straße lebt, eine Blinde, die von dem Freund eine Ausgabe der Morgenpost bekommt, der Mann im Café, der als Wache auf dem Bau arbeitet und die Übernachtungsstelle des Schweigsamen findet.

Bea Davies lässt ihre Geschichten, die jeweils ihre Besonderheiten haben, geradezu schwebend ineinanderfließen. Nicht immer ist der Übergang so fließend, wie im Fall der Katastrophenbilder aus Japan, die mit einem Male und unmerklich in das Chaos übergehen, die die Wohnung des Schreibers durchzieht. Die Fügungen sind teils härter, die Übergänge teils aber auch unmerklich, fast wie Schritte zur Seite der Geschichte, die sie bis dahin erzählt hat. Aber darauf kommt es an.

Davies führt zum einen vor, wie unterschiedlich Biografien sein können, wie einzigartig jeder Einzelne ist, gerade wenn er ansonsten im Gemenge untergeht. Erst indem die Geschichte die einzelnen Figuren herausnimmt und ihnen folgt, ihre Geschichte vorangetrieben wird und herausgelöst aus der Vielzahl der miteinander verwobenen Linien, erhalten sie ihre jeweilige Gestalt. Das hilft nichts und ändert nichts im Ganzen, aber das Besondere im Allgemeinen Gemenge zu finden, ist keine Kunst, sondern eine Aufgabe (die hier zeichnerisch gelöst sein soll).

Damit löst sich Davies von der linearen Erzählung, die die Graphic Novel ansonsten favorisiert. SUPER GAU erzählt nicht eine, sondern viele Geschichten. Dies aber in einem Rahmen, der nicht zuletzt die nivellierende Gewalt der modernen Gesellschaft aufnimmt und ins Extrem führt. Die vollkommende Auslöschung des Subjekts und die Destruktion von Ordnung, die Zertrümmerung der materiellen Welt, wie sie von Menschen gemacht ist, in der Urgewalt der Naturkatastrophe. Die Moderne – um das so generalisierend zu behaupten – ist zu einer Naturgewalt herangewachsen, die alles zerstört. Und doch hat gerade sie die Mittel bereit, den Einzelnen im Chaos, im Gemenge wieder herauszustellen.

Davies zeichnet diese Geschichte(n) in einem filigranen Stil, der auf Farben verzichten kann (wohl muss). Sie findet dabei eine zeichnerische Handschrift, die nicht vorgibt, ein umfassende Erklärung zu finden, sie will anscheinend nur eines, den Einzelnen mindestens Trost, vielleicht sogar ihre Geschichte zu geben. SUPER GAU ist Daviesʼ erste Graphic Novel, bei der sie Zeichnung und Story verantwortet. Zuvor ist 2019 die Graphic Novel König der Vagabunden erschienen, bei der sie mit Patrick Spät als Autor zusammenarbeitete.

Titelbild

Bea Davies: Super-GAU.
Carlsen Verlag, Hamburg 2025.
208 Seiten , 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783551756473

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