Mutter von vier Kindern, Schriftstellerin
Liesbet Dills „Tagebuch einer Mutter“
Von Walter Delabar
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseNormalerweise gehen bei einem solchen Roman sämtliche Warnleuchten an: Als Titel Tagebuch einer Mutter, dabei 1943 in Deutschland erschienen? Wer würde da nicht annehmen, dass es sich bei Liesbet Dills Roman um eine mehr oder weniger hymnische Feier der deutschen Mutter, quasi im Schatten des Mutterkreuzes handelt?
Nun, in gewisser Weise bedient der Roman, der nun bei Rowohlt in einer Reihe von Neuauflagen von Romanen internationaler Autorinnen erschienen ist, eine solche Vorerwartung, wenn man nicht gleich von Vorurteil reden will.
Dills Roman, der unter dem Deckmantel eines Tagebuchs gefasst ist, erzählt die Biografie einer jungen Offiziersgattin, deren Mann im Großen Krieg umkommt – im Übrigen kurz vor der Geburt des vierten Kindes des Paares, eines Jungen. Im wesentlichen bildet der Fall der Olivia Nordeck aus einer halbwegs gesicherten bürgerlichen Existenz heraus die Folie der kommenden 25 Jahre, die den historischen Handlungsrahmen der Erzählung bilden. Die Geschichte, die erzählt wird, reicht also aus dem Kaiserreich über die Weimarer Republik ins Dritte Reich, und wie es die Zeitgeschichte will, bis in einen weiteren Weltkrieg. Dieser zweite Weltkrieg nun ermöglicht dem ältesten Sohn Nordeck einen kometenhaften Aufstieg in der Wehrmacht, während der jüngste Sohn umkommt. Was eine besondere Note des Romans anschlägt: Während der Ältere, der den Vater noch erlebt hat, dessen Nachfolge einschlägt und fortsetzt, aber (zumindest bis zum Ende) des Romans überlebt, folgt ihm der Jüngste, der erst nach dem Kriegstod des Vaters geboren wurde und ihn nie gekannt hat, in den Tod.
Die zweieinhalb Jahrzehnte zwischen diesen beiden Eckpunkten sind (vor allem in den Jahren, bis die Kinder erwachsen genug sind, ihre eigenen Wege zu gehen) geprägt von der Überlast der alleinstehenden Witwe, die eben nicht für vier Kinder verantwortlich ist, sondern auch noch das wirtschaftliche Überleben der Familie zu sichern hat, wozu die Kriegswitwenrente nicht reicht.
Was macht die bürgerlich erzogene Witwe Nordeck, außer sich auf wohlhabendere Verwandte zu verlassen? Sie beginnt als Schriftstellerin zu arbeiten, kleine Prosastücke, historische Romane, Feuilletons – das klassische Profil der mittleren Autorin des frühen 20. Jahrhunderts, die sich in der Not auf genau die Kompetenzen verlassen kann (zumindest halbwegs), die sie durch ihre Erziehung erworben hat. Die Gelegenheitsautorin hat das Glück, dass ihre Arbeiten von Zeitungen in Deutschland und Österreich angenommen, publiziert und eben auch bezahlt werden. Das reicht dann für ein paar Extras für die Kinder, die ansonsten nicht drin wären.
Da Olivia Nordeck tagsüber für solche Arbeiten keine Zeit hat (wer Kinder hat, weiß davon zu erzählen), schreibt sie abends und nachts. Ansonsten verzichtet sie auf Eskapaden. Die wenigen Reisen zahlt sie bitter, da die Kinder dabei stets zuhause bleiben und jede Menge Unsinn anstellen. Kleine Strolche? Das ist gattungsgemäß.
Wobei wir schon bei den Abweichungen sind, die Dills Roman vom erwarteten Blubo-Mutterkreuz-Roman-Muster aufweist. Denn die völkische, die nationalistische Note fehlt in Dills Roman vollständig. Ja, die Offizierswitwe ist stolz, wenn sie die Söhne in Uniform sieht – aber die Engführung mit dem NS-Regime und dessen Krieg, in dessen Rahmen solche Szenen spielen, will nicht recht gelingen. Auch ansonsten hält sich der Roman von der Politik fern, sei sie kaiserlich, demokratisch oder diktatorisch motiviert. Das Tagebuch handelt vom Leben einer Frau, die mitsamt ihrer vier Kinder unvermittelt auf sich gestellt wird und sich mit nichts anderem beschäftigen kann, als das Überleben zu sichern. Das mag man, wie Magda Birkmann im Nachwort zum Text, traurig finden, dem Text ist die Trauer darüber aber nicht zu entnehmen. Die Tagebuchschreiberin trauert um den Mann und den gefallenen Sohn, sie bedauert, dass sie nicht mehr aus ihrem musikalischen Talent (sie ist eine gute Pianistin) hat machen können, aber sie trauert den verpassten Möglichkeiten ihres Lebens nicht hinterher. Sie bedauert nicht, dass sie dieses Leben und vor allem diese Kinder hatte, was das Nachwort dann doch ins Unrecht setzt: Denn Birkmann stellt im Nachwort den Roman ohne weiteres in den „uralten Konflikt zwischen dem Druck gesellschaftlich notwendiger Reproduktionsarbeit und dem Drang nach individueller und künstlerischer Selbstverwirklichung“. Es wird eben im Roman nicht erkennbar, dass Olivia Nordeck einer Konvention folgt, als sie ihre Kinder bekommt, oder dass die Situation, in der sie sich nach dem Tod des Mannes wiederfindet, gesellschaftlich induziert ist. Sie mag keinen Ausweg aus den Zwangslagen finden, die ihre nächsten Jahrzehnte bestimmt. Dabei böte sich der eine und der andere, wenngleich – das wiederum konventionell – über zwei Männer, einem alten Kameraden, der um sie wirbt, und einen Logiergast, mit dem sie ein großes Einverständnis findet. Keines der Angebote eine neue Ehe geht sie ein, freilich nicht aus Treue zu ihrem verstorbenen Mann, sondern weil sie anscheinend ihre Lage akzeptiert hat.
Selbst die Möglichkeit, sich über das Schreiben einen eigenen, einigermaßen auskömmlichen Lebensstandard zu erarbeiten, nimmt sie nicht wahr. Nicht einmal, als sie zur Hochzeit des Älteren in die Reichshauptstadt fährt, kommt sie auf die Idee, bei den Redaktionen, die ja ihre Texte in der Vergangenheit publiziert haben, vorzusprechen. Immerhin nimmt sie in späteren Jahren eine Agentur in Anspruch, um ihre Texte zu vertreiben. Aber dass sich diese Biografie zwischen Care-Arbeit und künstlerischem Schaffen aufspannt, lässt sich aus dem Text nicht wirklich ableiten. Dazu ist das Schreiben zu sehr ein Zusatzerwerb und sind die Auftragsarbeiten zu unproblematisch.
Das konterkariert das biografische Muster, das die 1877 geborene Liesbet Dill dagegen setzen kann: Mit 19 Jahren in eine konventionelle Ehe mit einem deutlich älteren Mann verheiratet, verlässt sie wenige Jahre später Mann und Kinder, um endlich die eigene literarische Karriere aufzubauen und sich durchzusetzen. Ihr erster Roman über „eine unglücklich mit einem älteren Mann …“ wurde, folgt man Birkmann, „ein großer Publikumserfolg“. Die deutsche Nationalbibliothek weist allerdings nur eine Gesamtauflage von 20 Tsd. nach, die das Buch 1918 erreichte – was beachtlich ist, aber eben kein „großer Publikumserfolg“. Mehr als beachtlich ist jedoch die Produktivität, die Dill in ihrer literarischen Biografie zeigte. Aber selbst das schützt schließlich vor dem Vergessen nicht, zumal Dill mit ihren Nachkriegspublikationen mehr und mehr ins triviale Genre abrutschte. 1962 ist sie in Wiesbaden verstorben.
Biografie hin, Trivialität her, die Herausgeberinnen haben sich nun entschieden, gerade diesen Roman Dills neu aufzulegen. Dafür gesprochen haben mag vor allem die souveräne Manier, in der der Text gefasst ist. Auch wenn in schwierigen Zeiten erschien und ein aus heutiger Sicher anrüchiges Thema behandelt, zeichnet er sich durch eine überlegte und stringente Anlage, eine unaufgeregte Haltung und einen Stil aus, der sich deutlich vom literarischen Standard der mediokren konservativen Romane der 1920er und 1930er Jahre absetzt, die durch ihre vermeintlich gehobene Sprache ihren Kunstanspruch signalisierten. Der Roman ist angenehm zu lesen, er belehrt nicht und lehrt nicht demonstrativ. Er lässt deshalb vielleicht sogar den Zugriff zu, den Magda Birkmann im Nachwort gewählt hat. Und er ist vielleicht deshalb auch heute noch lesbar, auch wenn er aus sehr sehr fernen Zeiten stammt.
Inwieweit im übrigen die Herausgeberinnen in den Text eingegriffen haben mögen, ist nicht mitgeteilt. Die Neue Rechtschreibung ist anscheinend selbstverständlich, was für historische Texte immer kritisch ist. Lediglich einen Punkt teilen sie mit, der Bezeichnungen für einen Afroamerikaner betrifft, dem Olivia Nordeck auf ihrer Reise an das Grab ihres Mannes in Frankreich begegnet (dann gibt’s noch einen Schokokuss, der im Text wohl noch seinen alten Namen getragen hat). Ob freilich die Notierung als N*** und M*** die Abwertung nicht verstärkt, die die Herausgeberinnen vermeiden wollen, gerade weil Leser darüber mehr stolpern als über eine historisch seinerzeit gängige Bezeichnung (deren abwertende Konnotierung unbestritten ist), bliebe zu fragen. Im Falle der Indianer haben sie jedenfalls keine Probleme damit, den Text so zu belassen, wie er wohl war. Da sind die Grundschulsuperhelden immerhin schon weiter. Ein bisschen mehr Vertrauen in Leser und Text hätte vielleicht geholfen.
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