Literatur zwischen der erlebten und der artifiziellen Mehrsprachigkeit
Till Dembeck und Anne Uhrmacher geben den Sammelband „Das literarische Leben der Mehrsprachigkeit“ heraus
Von Bozena Badura
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Mehrsprachigkeit ist nicht erst als ein Phänomen der Globalisierungsprozesse der unmittelbaren Gegenwart zu betrachten, hat sich damit doch u.a. bereits in den 80er Jahren Michail Bachtin (Heteroglossie) beschäftigt. Dennoch erfährt Mehrsprachigkeit seit einigen Jahren neben der Linguistik auch in den Literatur- und Kulturwissenschaften eine verstärkte wissenschaftliche Auseinandersetzung, sodass man bereits vom Phänomen des „translingual writing“ (Matsuda 2014), vom „postmonolingualen Zustand“ (Yildiz 2012) oder gar vom „multilingual turn“ (May 2013) spricht. Dabei behandle man Musterbeispiele translingualer Texte nicht nur, um sie zu analysieren, sondern auch, um ihren Mehrwert hervorzuheben (Gramling 2016). Um zu der Mehrsprachigkeitsforschung beizutragen, macht sich der Sammelband, der das dreijährige Luxemburger Forschungsprojekt „Identitätskonstruktion in mehrsprachiger Literatur: Ein Vergleich zwischen Belgien, Deutschland, Luxemburg und den Niederlanden“ abschließt, zum Ziel, speziell die fachpolitische Tendenz der gegenwärtigen Forschung zur mehrsprachigen Literatur zu betrachten.
Ob die Ein- oder Mehrsprachigkeit als der gesellschaftliche „Urzustand“ zu bezeichnen wäre, ist schwer zu entscheiden, denn für beide Positionen liefert die Wissenschaft handfeste Belege. Während die Nationalsprache nur ein politisches Konstrukt sei, existieren flächendeckend – sogar in Gegenden, die als einsprachig gelten – mehrere Sprachen und Sprachformen nebeneinander, sodass die beiden Herausgeber, Dembeck und Uhrmacher, bezweifeln, ob es überhaupt so etwas wie Einsprachigkeit gebe. Die Ausgangsannahme des Sammelbandes ist daher die gelebte Mehrsprachigkeit als der „Normalzustand“. Dabei lohnt es sich, das Vermischen der Sprachen sowohl unter ästhetischen als auch formalen Gesichtspunkten genauer zu untersuchen. Denn zum einen spielen die Autoren der literarischen Werke mit den Sprachen auf morphologischer, grammatischer, syntaktischer, orthographischer oder typologischer Ebene, zum anderen erlaube die mehrsprachige Literatur zudem, so die Herausgeber, das sprachliche Leben der Gesellschaft aus einer neuen Perspektive zu beleuchten. Hierfür seien zwei Formen der Mehrsprachigkeit zu unterscheiden: erstens die Erfahrung der Mehrsprachigkeit im Alltag und zweitens die aus einem ästhetischen Willen heraus entstandene Mehrsprachigkeit. Oft werde zudem die Mehrsprachigkeit im Alltag pauschal als politisch wünschenswertes Gegenmittel zu einer Einsprachigkeit dargestellt, die wiederum als repressive, tendenziell nationalistische Diskursformation gelte. Daher sei die erfahrene Mehrsprachigkeit als populär und politisch relevant zu bezeichnen, wogegen die erzeugte Mehrsprachigkeit als artifiziell, elitär, reflektiert und ästhetisch verblendet gelte. „Der Sammelband geht der Frage nach, ob solche Dichotomisierungen der Sache angemessen sind“, sucht nach dem (legitimen) Ort für Sprachdifferenzen und nach ihrer Verbundenheit mit dem Leben.
Die Beitragsreihe von neun Aufsätzen wird eröffnet von einem Plädoyer für eine Ethik der literarischen Mehrsprachigkeit von Lawrence A. Rosenwald. Er fordert dabei, heterophone, d.h. von der Erzählsprache eines Textes abweichende Sprachen möglichst korrekt zu repräsentieren, und sieht die zentrale Funktion literarischer Mehrsprachigkeit in der Erzeugung von Irritation. Für Esther Kilchmann erzeugt die literarische Mehrsprachigkeit im Rahmen avantgardistischer Schreibpraktiken Erfahrungen von Fremdheit und Unzugehörigkeit, wobei ihre Grundstruktur die Zirkulation von Zeichen sei. Till Dembeck widmet sich Friedrich Genthes Dissertation zur frühneuzeitlichen makkaronischen Poesie und setzt diese in Bezug zu Yoko Tawadas Interpretation von Gedichten Paul Celans. Dabei beschäftigen sich die Aufsätze nicht nur mit der naheliegenden Gegenwartsliteratur, sondern gehen sogar in das 16. Jahrhundert zurück, um die damals herrschende Mehrsprachigkeit der sich entwickelnden Bildungsschicht zu veranschaulichen. In diesem Kontext untersucht Irina A. Dumitrescu die vulgaria, die lateinisch-englischen Schulbücher der Renaissance. Des Weiteren widmen sich die Beiträge von Eugenia Kelbert, Caroline Mannweiler und Dirk Weissmann Werken, die sich des literarischen Mittels der intratextuellen Codeswitching bedienen, einigen ausgewählten mehrsprachigen Autoren (u.a. Yoko Tawada, Samuel Beckett und Joseph Brodsky) und nicht zuletzt der Wirkung, die die Aneignung einer neuen Sprache auf deren Schreibprozess ausübte. Im letzten Beitrag des Bandes befasst sich die Mitherausgeberin Anne Uhrmacher mit der Mehrsprachigkeit in Liedertexten der Pop-Musik, wobei sie mehr Aufmerksamkeit für dieses wissenschaftlich bisher vernachlässigte Medium und seine Macht, gesellschaftliche Debatten anzustoßen, fordert. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der literarischen Mehrsprachigkeit wird, wohl um diese unmittelbar zu veranschaulichen, um einige mehrsprachige Gedichte der Lyrikerin Heike Fiedler bereichert.
In ihrem Vorwort schreiben die Herausgeber Till Dombeck und Anne Uhrmacher, dass die mehrsprachige Literatur, das sprachliche Leben unserer Gesellschaften aus einer neuen Perspektive zu sehen erlaube. Dennoch zeigen die meisten Beiträge, ausgenommen den Beitrag von Anne Uhrmacher, die anhand der Sprachdifferenzen in Texten populärer Lieder zeigt, dass die Musiker nicht nur zahlreiche Anglizismen, sondern auch reichlich Jugendsprache und Dialekt in ihre Texte miteinbeziehen, keine per se neuen Perspektiven auf, denn in den meisten Beiträgen gilt als der alleinige Beleg einer mehrsprachigen Poetik die manifeste Verwendung mehrerer sprachlichen Codes innerhalb eines literarischen Textes, seien es fremde Wörter oder ungewohnte Reimverwendung in Gedichten. Die Sammelbandbeiträge, die zum Teil sogar fast programmatisch in englischer Sprache verfasst vorliegen, sind für sich genommen zwar hochinteressant, leider werden sie aber auf keinen anderen gemeinsamen Nenner zurückgeführt als eine bloße Mehrsprachigkeit, und scheinen nicht wirklich auf die im Vorwort gezeichneten Vorhaben, weder auf die Unterscheidung zwischen der erlebten und der artifiziellen Mehrsprachigkeit noch auf die Möglichkeit, die Gesellschaft aus einer neuen Perspektive zu beleuchten, einzugehen oder diese zu realisieren. Eine Zusammenführung der Ergebnisse, die genau aufzeigen würde, inwiefern die Beiträge die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der literarischen wie der gelebten Mehrsprachlichkeit vorantreiben, wäre nicht nur alleine für den hier rezensierten Sammelband wünschenswert. Daher ist es umso bedauerlicher, dass sich nach der erfolgten Lektüre des Sammelbandes, zumindest der Rezensentin, unweigerlich die Frage aufdrängt: So what?
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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