Schön oder erhaben – aber nicht hässlich

Jochen Briesen, Lisa Schmalzried und Christoph Demmerling führen in ihrem „Handbuch Philosophische Ästhetik“ in diese philosophische Disziplin ein

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Es wäre ein Missverständnis, wollte man argwöhnen, wer etwas als schön bezeichnet, wollte sich nur durch Ausflucht in einen vagen Ausdruck der Mühe entziehen, die Eigenschaften dieses Etwas präzise auf den Begriff zu bringen“, konstatiert Birgit Recki in einem dem ästhetischen „Wertbegriff“ gewidmeten Aufsatz. Darin referiert sie konzis drei philosophische Theorien des Schönen als „exemplarische Positionen“ aus der Antike (Platon), der Neuzeit (Immanuel Kant) und des ausgehenden 20. Jahrhunderts (Hans-Georg Gadamer).  Dabei macht Recki eine „basale Gemeinsamkeit“ nicht nur dieser, sondern (fast) aller unterschiedlichen Schönheitstheorien der philosophischen Ästhetik aus: „‚Schönheit’ bezeichnet in breitem Konsens die animierende Anmutung eines Gegenstandes der Wahrnehmung aufgrund seiner gelungenen Gestalt, die ultimative Gelungenheit der Form einer Erscheinung“. So kenntnisreich Reckis Ausführungen auch sind, bleibt doch bedauerlich, dass sie vergessen hat, Kants von ihr zitierte Kritik der reinen Vernunft in ihr Literaturverzeichnis aufzunehmen.

Nachzulesen ist ihr Aufsatz in dem von Jochen Briesen, Lisa Schmalzried und Christoph Demmerling herausgegebenen Handbuch Philosophische Ästhetik. Wie sie in der Einleitung darlegen, diskutieren die Beiträge des Bandes ein „möglichst inklusives Verständnis dessen, was Ästhetik ist“, um die Lesenden auf diese Weise „in die philosophische Ästhetik ein[zu]führen und ihnen einen Überblick über zentrale Themen dieses Teilbereichs der Philosophie [zu] vermitteln“. Vor allem geht es darum, zu „versuchen“, die philosophische Disziplin der Ästhetik „unvoreingenommen so zu beschreiben, wie sie heute im Rahmen unterschiedlicher Traditionen betrieben wird“. Demzufolge konzentrieren sich die insgesamt dreizehn Aufsätze des Handbuches überwiegend auf ästhetische Theorien, die gegenwärtig in der Philosophie vertreten werden. Dies allerdings nicht losgelöst von historischen Standpunkten. Das wäre auch schlechterdings unmöglich, „gilt“ doch beispielsweise Kants Philosophie des Erhabenen noch immer als „zentraler Referenzpunkt“ (Larissa Berger) für heutige philosophische Versuche, diesen Konterpart des Schönen zu bestimmen und zu erklären. Eine Ideengeschichte der ästhetischen Philosophie bietet der vorliegende Band allerdings nicht.

Die HerausgeberInnen haben die eingeworbenen Beiträge unter vier Abschnitte rubriziert, dessen erster sich mit ästhetische Eigenschaften von Objekten, namentlich deren Schönheit oder Erhabenheit befasst. Der zweite gilt den Objekten selbst, die diese Eigenschaften besitzen, der dritte den von ihnen affizierten Subjekten und deren ästhetischen Erfahrungen. Die Beiträge des vierten Abschnitts befassen sich schließlich mit Fragen der Kunsttheorie und der Intersektionalität.

Bevor sich Recki und Berger in der ersten Abteilung mit dem Schönen beziehungsweise dem Erhabenen und somit den beiden zentralen Begriffen der philosophischen Ästhetik befassen, beantwortet Maria Elisabeth Reicher die grundlegenderen Fragen, was ästhetische Eigenschaften sind und ob es sie überhaupt gibt. Ob es sich also um objektive Phänomene handelt oder ‚nur’ um in den affizierten Subjekten evozierte Gefühle. Dabei geht sie von der bekannten Sentenz aus, der zufolge Schönheit im Auge des Betrachters liegt. Zwar wird sie üblicherweise Thukydides – gelegentlich auch Plato – zugeschrieben, doch gibt es dafür keine validen Belege. Daher spricht Reicher ohne Quellenangabe ganz allgemein von einer „Redewendung“. Die in ihr zum Ausdruck kommende Auffassung, dass ästhetische Eigenschaften nicht objektiv (feststellbar) sind, weist die Autorin mit einigen durchaus guten Gründen zurück und vertritt die These, dass es „ästhetische Eigenschaften, als Eigenschaften von subjektunabhängig existierenden Gegenständen [gibt], und ästhetische Eigenschaften […] nicht auf andere Eigenschaften reduzierbar [sind]“. Darüber hinaus gelingt es ihr in dem fast schon allgemein verständlichen, jedenfalls aber ohne philosophische Vorbildung lesbaren Aufsatz, den in der philosophischen Ästhetik nicht unwesentlichen, darüber hinaus aber wenig bekannten Begriff Supervienienz konzis und leicht verständlich zu erklären.

Berger, die sich dem – neben der Schönheit – zweiten zentralen Begriff der philosophischen Ästhetik zuwendet, geht zu Beginn ihres Beitrags selbstverständlich auf die „wichtigste antike Abhandlung zum Erhabenen“, nämlich auf die Schrift Peri Hypsous ein, die bis ins 19. Jahrhundert hinein Cassius Longinus zugeschrieben wurde. Dass an dessen Urheberschaft seither allerdings begründete Zweifel erhoben wurden, weiß natürlich auch Berger. Daher wird der (unbekannte) Autor (dass es sich um eine Autorin handeln könnte, gilt als äußerst unwahrscheinlich) weithin als Pseudo-Longinus bezeichnet. Berger tut dies allerdings nicht. Warum, erläutert sie nicht. Das ist aber auch schon der einzige (und nicht sehr zentrale) Kritikpunkt, der sich gegen ihre „historische und systematische Perspektiven“ auf die Erhabenheit vorbringen lässt. So arbeitet sie „zwei Momente“ heraus, „die sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des Erhabenen ziehen“. Es sind dies zum einen „die Bestimmung der Erhabenheitserfahrung durch ein gemischtes Gefühl mit negativen und positiven Anteilen“ und zum anderen, dass dieses Gefühl durch „eine Gefahr“ evoziert wird, „die aus sicherer Position heraus beobachtet wird“. Auch legt sie dar, wie das Erhabene von der „schreckliche[n] Schönheit“ und dem Hässlichen abgegrenzt wird, die beide ebenfalls „gemischte[] Gefühl[e]“ hervorrufen. Doch referiert die Autorin nicht nur historische und systematische Positionen, sondern urteilt auch selbst: „Erhabenheitserfahrungen betreffen nicht primär unser individuelles Scheitern, sondern ein Scheitern der Menschheit insgesamt. Sie sind überindividuelle Erfahrungen“. Daraus ergebe sich, dass sich das Individuum in der Erhabenheitserfahrung „mit seinen Mitmenschen verbunden [fühlt]“. Offen lässt sie die Frage „ob wir Erhabenheit nur anlässlich von Natur oder auch von Kunst erfahren können“. Am ehesten dürfte letzteres beim Genuss bestimmter Musikstücke und vielleicht auch angesichts mancher architektonischer Bauten möglich sein, vermutet der Rezensent.

Mitherausgeberin Lisa Schmalzried wendet sich dem „Mensch[en] als ästhetische[m] Objekt“ zu und wirft angesichts Kants Definition des Schönheitsempfindens als interesselosem Wohlgefallen die Frage auf, ob sich die „ästhetischen Erfahrungen, die Menschen hervorrufen, sinnvollerweise als desinteressiert beschreiben [lassen]“. Ganz allgemein ästhetischen Erfahrungen gilt das Interesse von Jakob Steinbrenner, ästhetischen Urteilen hingegen dasjenige Jochen Briesens. Martin Seel wiederum widmet sich dem „Verhältnis des Naturschönen zum Kunstschönen“, wobei er sich vor allem auf Theodor W. Adorno und sodann auf Kant bezieht.

Das ebenso interessante wie spannungsreiche Verhältnis von Ästhetik und Ethik nimmt Ingrid Vendrell Ferran unter die Lupe. In der „aktuelle[n] Literatur“ dazu macht sie vier relevante „Tendenzen“ aus: „erstens werden Fragen untersucht, die mit dem Charakter der Ästhetik und der Ethik als Wertdisziplinen zu tun haben“. Andere AutorInnen beleuchten vornehmlich „die Bedeutung der ethischen Werte im Bereich des Ästhetischen“. Zum Dritten wird nach dem „Zusammenhang zwischen ästhetischen und ethischen Werten in einem Kunstwerk“ gefragt. Viertens wird erörtert, ob der „kognitive Wert“ eines Kunstwerks „ein wesentlicher Bestandteil“ seines ästhetischen Werts ist. Diese letzte Frage betreffend stellt sie sodann drei philosophische „Hauptpositionen“ vor: den „Autonomismus (auch Ästhetizismus genannt)“, den „Immoralismus (auch als Kontextutalismus bezeichnet)“ sowie den „Moralismus (auch als Ethizismus bezeichnet)“. Feran beschließt ihren Beitrag mit der von Susan Feagis 1996 aufgestellten These, „dass man ausgehend von Kunst das empathische Vermögen fördern kann“. Eine These, die zwei Jahre später zumindest hinsichtlich narrativer Kunstwerke so ähnlich auch von Richard Rorty in seiner Schrift Human Rights, Rationality, and Sentimentality vertreten wurde.

Obwohl ein Handbuch wie das vorliegende sein Thema notwendigerweise nicht umfassend behandeln kann, bleiben doch einige Absenzen zu bedauern. Dass Kants populäre Schrift Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen an keiner Stelle erwähnt wird, mag angehen, denn es handelt sich dezidiert um kein philosophisches Werk. Anders hingegen im Falle von Aristoteles tragödientheoretischem Werk Peri poētikēs. Auch die Ästhetik des Hässlichen des Königsberger Hegelianers Karl Rosenkranz wäre zumindest der Erwähnung, wenn nicht gar der näheren Auseinandersetzung Wert gewesen, war er doch im Jahre 1853 der erste, der dem Hässlichen als Gegenteil des Schönen eine vermittelnde Funktion zwischen diesem und dem Erhabenen zusprach. Zudem entspringt ihm zufolge das Hässliche überhaupt erst aus dem Schönen und ist mit diesem – ganz hegelianisch – aussöhnbar. Auch „die Tiefen von [Alexander] Baumgartens ästhetischer Theorie“ hätten durchaus weiter „aus[ge]lote[t]“ werden können. Immerhin steht dieser am Anfang des neuzeitlichen Verständnisses dessen, was der Begriff überhaupt bezeichnet. Nur Schmalzried weist in einer beiläufigen Bemerkung darauf hin, dass der ‚Kipppunkt’ zwischen dem antiken und dem neuzeitlichen Verständnis des Begriffs Alexander Baumgarten zu verdanken ist. Auch ist als weitere Absenz eine (nähere) Ausführung zur Genesis des Begriffs der Ästhetik aus dem altgriechischen Wort aisthesis zu beklagen, das ganz allgemein „die sinnliche Wahrnehmung betreffend“ bedeutet.

Last, but not least, sei noch eine kleine Kritik an einer in der Einleitung getroffenen grundsätzlichen Behauptung geübt: „Kunstwerke“, sagen die HerausgeberInnen dort, „werden dazu geschaffen, Träger von ästhetischen Eigenschaften zu sein“. Dem ist nicht unbedingt so. Sie können beispielsweise auch als Träger von (kommunistischer oder nationalsozialistischer) Propaganda geschaffen werden. Die ästhetischen Eigenschaften des Kunstwerks sind dann nur Mittel zu eben diesem Zweck.

Ungeachtet dessen erfüllt das vorliegende Handbuch seine Absicht, die Lesenden auf konzise und zumeist – nicht immer – fast schon allgemein verständliche Art in Themen, Positionen und Problemstellungen der philosophischen Ästhetik einzuführen.

Titelbild

Jochen Briesen / Lisa Schmalzried / Christoph Demmerling: Handbuch Philosophische Ästhetik.
Schwabe Verlag, Basel 2024.
282 Seiten , 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783796551895

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