Der Meister kafkaesker Schreibweisen
J. M. Coetzee und sein religiös mehrfachcodiertes Spätwerk
Von Lukas Pallitsch
Die Welt, die sich in John Maxwell Coetzees epischen Texten auftut, wirkt meist düster. Mit seiner Schreibweise orientiert sich der viel beachtete Autor interessanterweise kaum an postmodernen Erzählstrategien, sondern bleibt auf den Spuren seiner Vorbilder Kafka, Dostojewski und Defoe. Doch die oft nüchtern wirkende Lakonik entnimmt Coetzee nicht nur seinen Vorbildern, sie steht auch unter dem Eindruck der südafrikanischen Verhältnisse, und fand im letzten Jahrzehnt ein wiederholtes Echo in religiösen Themen.
Religion und Literatur
Manche Schriftsteller wurden mit einem skeptischen Blick beargwöhnt, als sie unter dem Eindruck der späten Lebensjahre eine intensive Bibellektüre pflegten oder diese gar – wie bei Johann Georg Hamann – ein Bekehrungserlebnis auslöste. Andere forderten geradezu programmatisch eine „neue Mythologie“, die Kunst derart sakralisiert, dass sie religiöse Prägemuster zur Verfügung stellt. Ging es bei der „Entzauberung“ (Max Weber) noch darum, die Naivität religiöser Muster mithilfe aufklärerischer Mittel zu entlarven, so kann die Wiederverzauberung der Welt als eine Art Ritualisierung der Poesie verstanden werden. Zwischen den beiden Extremwegen tut sich eine Brücke zwischen religiös affizierter Poesie und Literarisierungen religiöser Wahrheitsgehalte auf, die sich wohl am ehesten als „sentimentalisch“ im Schillerschen Sinn beschreiben lässt. In diesem Gesamtzusammenhang von Literatur und Religion wurde bei der Verarbeitung religiöser Formen und Motive zuletzt meist das reflexive Moment forciert.
Die Fäden einer engen Verwobenheit von Literatur und Religion hat spätestens Friedrich Nietzsche gelockert, indem er die dogmatische Leitfunktion der Bibel radikal infrage stellte. Es wäre allerdings irrig zu denken, dass mit Nietzsche die Faszinationsgeschichte literarischer Autoren für die Bibel endet. Diese bleibt im Gegenteil ungebrochen. Zweifelsohne markiert der Übergang ins 21. Jahrhundert eine Epochenschwelle, auch im Hinblick auf das grob skizzierte Feld von Religion und Literatur. Während die Gottesfrage ebenso wie die christlichen Motive und biblischen Figuren in der Literatur durchgängig präsent blieb, zeigt der Blick auf diese Epochenschwelle ein zunehmendes Interesse an den großen Bereichen der Interkulturalität und Globalisierung.
J.M. Coetzee in der Tradition der Jesusromane
Die literarische Auseinandersetzung mit der zentralen Figur Jesus von Nazareth ist nie abgebrochen. Spätestens ab dem 19. Jahrhundert avancierte der Roman zur wichtigsten literarischen Gattung. Zahlreiche Autoren unternahmen den Versuch, das Leben Jesu in Romanform zu erzählen. Dabei ging es bis in die Gegenwartsliteratur oft um Unterschiedliches, denn das Spektrum der Jesus-Romane reicht von der Poetisierung der Evangelien (Ernest Renan) über das bizarre Ausloten von Wahrheitsfunktionen (Gerhart Hauptmann) bis zu fiktionalen Neuerzählungen (Peter Henisch). Dem Versuch einer Literarisierung dieser Zentralfigur setzen sich nicht nur Theologen wie Klaas Huizing, sondern auch bekennende Atheisten wie José Saramago aus. Dass sich die heterogenen Versuche in ihrer Vergegenwärtigung des Nazareners nicht ohne Weiteres auf die Doppelgleichung eines skeptischen Abstands zur oder einer Identifikation mit der Figur bringen lassen, sondern auch die Grauzonen zwischen Schwarz und Weiß ausloten, verweist auf die anhaltende Faszinationskraft dieser Gestalt.
Wie J. M. Coetzee erhielt auch der Portugiese José Saramago den Nobelpreis für Literatur. Während Coetzee sich erst nach Erhalt des Preises dem Nazarener zuwendete, verfasste Saramago bereits davor sein „Evangelium nach Jesus Christus“ (1991). Anstoß erregte das Buch aufgrund des methodischen Zugriffs, die Geschichte so umzuschreiben, dass die Familiengeschichte eine gänzlich neue Dramatik erfährt. Saramago geht es weniger um eine Illustration der ethischen Proklamation Jesu als vielmehr um ein fiktives, zuweilen auch satirisch motoviertes Spiel mit dem literarischen Stoff der Evangelien. 1991 sorgte dieses Buch für einen gleichermaßen politischen wie kirchlichen Skandal.
Kafkaeske Erzählweise(n): Gestik des Ungewissen
Auf stärkere Ablehnung stieß auch J.M. Coetzee zunächst in seiner eigenen Heimat, nicht zuletzt deshalb, weil seine Romane einen kritischen Blick auf die Entwicklung Südafrikas nach der Apartheid lenken. Zugespitzt ließe sich mit Bezug auf die frühen Romane – wie Leben und Zeit des Michael K., Schande oder Warten auf die Barbaren – sagen, dass die Gewalt nicht einfach vorbei ist, sie hat sich nur andere Gesichter gesucht und versteckte Konturen angenommen. Ins Zentrum seiner Prosa rückte – ganz in der Manier Kafkas und Dostojewskis – die Verkettung von Schuld und Scham, die gesellschaftspolitisch nur schwer und bisweilen kaum eindeutig aufzulösen ist. Obwohl Coetzee seine Texte von Anfang an parabolisch anlegte, hat er sich nie stark in postmoderne Spielerein verstrickt. Einzig im dreistimmig angelegten Tagebuch eines schlimmen Jahres betritt Coetzee neue formale Pfade. Doch die Stärke seiner Prosa liegt in jener Gestik des Ungewissen, die zwischen Hoffnung und Trugbild oszilliert. Wie bei Kafka, über den Coetzee sowohl literarisch in Leben und Zeit des Michael K. als auch aus literaturwissenschaftlicher Perspektive arbeitete, verschließen sich den Rezipienten allzu klare Eindeutigkeiten. Dabei ist sein Stil traditionell realistisch. In dem Maße aber, in dem die Dialoge oft auf den Kern der Sache zusteuern, münden viele Handlungsstränge ins Dunkle.
Dabei kann ein solch kafkaesker Abstrahierungsgrad einen großen Kunstertrag einbringen, vor allem wenn es darum geht, konkrete politische oder existenzielle Geschehnisse mit einer übergeordneten Bedeutungsebene zu konfrontieren. Dadurch wirken die Figuren zwar zuweilen unsympathisch, aber niemals hölzern. Gerade diese Art von Literatur hat J. M. Coetzee nicht nur zu den international bedeutendsten Literaturpreisen (zweimal den Booker Prize: 1983 für Leben und Zeit des Michael K.“ und 1999 für Schande; Nobelpreis für Literatur 2003) verholfen, sondern auch in den Rang der meistgerühmten Gegenwartautoren gehoben.
Das Feuilleton wusste wenig damit anzufangen, als sich J.M. Coetzee im Spätwerk Jesus von Nazareth, der Zentralgestalt des christlichen Glaubens, zuwandte. Da passierten durchaus inhaltliche Fehler, als Kritiker, die mit dem Oeuvre Coetzees sonst vertraut sind, zunächst einleitend das Leben Jesu auf der biblischen Hintergrundfolie skizzierten und dabei feststellten, dass der zwölfjährige Jesus „mit seinen Eltern zum Osterfest nach Jerusalem pilgerte“. Das ist nicht nur falsch, sondern verkennt jüdische und christliche Zusammenhänge grundlegend. Aber um diese subtilen Nuancen geht es Autoren ja meistens. Nicht minder problematisch mutet der Befund an, dass Coetzee bei der Namenwahl des Protagonisten David auf der Schablone der eigenen Werkgenese (A Boy) eine „platte Allegorie“ wähle oder mit dieser gar eine „falsche Fährte“ legen würde. Demgegenüber verdeutlicht eine theologisch geleitete Lektüre, dass der Name David bewusst und klug gewählt ist, denn auf David beziehen sich die Evangelisten und wecken von Anfang an die Hoffnung, dass Gott einen Spross aus dem Hause Davids erwecken wird. Indem Coetzee diesen prophetischen Topos aufgreift, betreibt er ein subversives Rewriting biblischer Topoi, das die Handlung von Beginn an in eine Spannung versetzt, die durch die Namenwahl „David“ vom jüdischen Messianismus einerseits und durch den Handlungsstrang von einem weltlichen Universalismus andererseits getragen ist.
Coetzees jesuanisches Rewriting als Flüchtlings- und Waisengeschichte
Wesentliche Impulse für dieses Jesus-Projekt gingen erneut – wie eingangs mit Blick auf die Epochenschwelle um 2000 ganz grundsätzlich skizziert – von den Bereichen der Globalisierung und den Wirren einer zerklüfteten Welt aus. Klar sein dürfte aber auch, dass Coetzee an dem von Paulus und den Evangelisten in Gang gesetzten Narrativ viel liegt, nicht zuletzt deshalb, weil er – anders als andere Autoren – dieser Figur nicht lediglich eine Seitenepisode, sondern eine ganze Trilogie und damit knapp 900 Seiten widmet: Die Kindheit Jesu; Die Schulzeit Jesu; Der Tod Jesu. Warum eine so umfassende Jesus-Saga? Weshalb derart umfangreich? Vielleicht ist es Coetzees Vorliebe für Randfiguren, die nie abriss und ihn dazu motivierte, über Jesus zu schreiben. Dies allein mit einem Faible für Außenseiter – um die sich Jesus annimmt – zu begründen, würde zu kurz greifen, denn Coetzee reflektiert von der ersten Zeile des ersten Buches an über das Problem, sich überhaupt ein kohärentes Bild dieser Figur machen zu können.
Der Autor ist bekannt dafür, dass er die Handlungen in seiner Heimat Kapstadt verortet, um auf dieser topographischen Folie von politisch-gesellschaftlichen Missständen zu erzählen. Gleich im ersten Jesus-Buch, Die Kindheit Jesu, führt er die Stadt „Novilla“ (Neustadt; kein Ort) als kaum lokalisierbaren Bestimmungsort ein. Nicht nur sprachlich ist der Handlungsraum schwer zu eruieren. Auch die Identität der Protagonisten bleibt zunächst in der Schwebe: Der Junge und sein Vater treten als Flüchtlinge unbekannter Herkunft auf den Handlungsschauplatz und suchen eine Mutter. Der Vater ist nicht der Vater. Das Geschehen, das um einen hochbegabten und hyperaktiven Flüchtlingsjungen aufgezäumt ist, der sich gar nicht für Christus hält, sondern lediglich störrisch agiert, könnte man zunächst als moderne, in einer Hafenstadt angesiedelte Flüchtlingsgeschichte lesen. Hier wird nichts aufoktroyiert, es wirkt nicht verschnörkelt und auch die Linien laufen zwar kaum sichtbar, aber dennoch stringent auf Jesus zu. Gesteuert wird der Roman von einer personalen Erzählinstanz, die David im Rücken sitzt und kaum mehr weiß wie wir Leser. Stünde dem Textkonvolut nicht paratextuell „Die Kindheit Jesu“ voran, der Verdacht einer Jesusgeschichte würde sich nicht sofort und nicht ohne weiteres aufdrängen, da der Text zunächst vom Flüchtlingsnarrativ geleitet ist.
Was Coetzee demnach konstruiert, ist ein durchwegs realistischer, zeitgenössischer Romankosmos: Erst sukzessive tritt hinter der Fassade einer Flüchtlingsgeschichte ein immer sichtbarer werdendes Narrativ hervor, das Konturen des Leben Jesu erkennen lässt. Der gestrandete David muss gemeinsam mit den Zieheltern aufgrund einer angekündigten Volkszählung in die Provinz fliehen. Das wiederum stellt die Zieheltern vor eine doppelte Aufgabe: Sie müssen als Hilfsarbeiter den Unterhalt besorgen und sich zudem um die Schulbildung des Sohnes kümmern. David möchte sich nicht nur einer Ausbildung, die sich an rationalen Effekten orientiert, verweigern, er entwickelt zudem eine eigene Sprache, in der er Wörter mit einer neuen Bedeutungsebene signiert.
Der Kunstgriff der fiktionalen Transfiguration: Das biblische Narrativ auf der weltliterarischen Experimentierbühne
Tatsächlich schafft es Coetzee wie bisher kaum ein Autor, zahlreiche Register biblischer Motivbearbeitung zu ziehen, sodass die Geschichte zwar apokryphe und zuweilen auch neue Handlungspfade betritt, ohne dabei gegen das biblische Narrativ anzugehen. Dafür gibt es einige Gründe:
Erstens wäre in diesem Zusammenhang der Kunstgriff einer fiktionalen Transfiguration zu nennen, bei der zeitgenössische Figuren – wie das Flüchtlingskind David – sichtbare Züge einer historischen Person annehmen. So wirkt David stellenweise messianisch: wissbegierig, Wunder wirkend, schlichtweg besonders. Auch der Vater, von dem es heißt, er sei nicht der wirkliche Vater, fügt sich in die biblische Konstellation.
Bemerkenswert ist zweitens die Experimentierfreudigkeit, mit der Coetzee an den Jesusstoff in seinen Romanen herantritt. Diese ist, sofern es einen Bezug auf die jungen Jahre gibt, biblisch nicht nur begründet, sondern geradezu gefordert; da es sich bei den Evangelien um „Passionsgeschichten mit ausführlicher Einleitung“ (Martin Kähler) handelt und man vor allem hinsichtlich der Kindheit und Jugend Jesu von den verborgenen Jahren spricht, regt diese Zeit besonders dazu an, biographische Lücken mit fiktiven Handlungssträngen neu zu gestalten. Geholfen haben dürfte Coetzee dabei eine apokryphe, also geheime und damit nicht-kanonische, Sammlung von Sprichwörtern, das Thomas-Evangelium. In dieser kryptischen Sammlung kommen Passion und Auferstehung Jesu gar nicht vor, im Zentrum der zusammenhangslosen Sprichwörter steht vielmehr die Kindheit Jesu. Neben den Kindheitsmotiven konnte Coetzee aus dem apokryphen Thomas-Evangelium vor allem auch gnostische Lehren, wie etwa die Offenbarung geheimer Erkenntnisse, als fiktionalisierte Handlungselemente in seinen Roman integrieren.
Drittens erlaubt die fiktionale Transfiguration, den Roman fernab der biblisch-apokryphen Pfade als zeitgenössische Patchwork-Familiengeschichte oder als moderne Fluchterzählung zu lesen. Es gelingt Coetzee, Jesus aus dogmatischen Verkrustungen herauszulösen und ihn in zeitgenössischem Gewand zu präsentieren. Festgelegt auf die heutigen gesellschaftlichen Problemkonstanten, wird das Geschehen insbesondere im zweiten Romanteil aus der Sicht eines Hilfsarbeiters präsentiert.
Coetzee ignoriert viertens auch jene weltliterarischen Traditionsbildungen nicht, die Jesus intensiv rezipierten, sondern nimmt diese offen oder verdeckt auf. Zu nennen wären beispielsweise Dostojewskis Figurenarsenal (Aljoscha, Dimitri), Miguel de Cervantes, Rafael Alberti, aber auch die musikalischen Tonspuren von Johann Sebastian Bach. Sie alle sind samt Zieheltern und David auf eine zeitgenössische Bühne gestellt, auf der Coetzee über weite Strecken figurale Gedankenspiele betreibt, die zunächst undurchsichtig sind, sich dann aber sukzessive aufklaren. Am Ende des dritten Teils betritt Dimitri, der im zweiten Teil aus Leidenschaft zum Mörder wurde, erneut den Handlungsraum. Dieser Dimitri, der so etwas wie ein Bekehrungserlebnis hatte, streitet nach dem Tod Davids mit seinem Ziehvater Simón um das geistige Erbe Davids. War es zunächst eine unverkennbare Allusion auf Dostojewskis Dimitri aus „Die Brüder Karamasow“, so sind Dimitri nun gleichermaßen paulinische Züge eingeschrieben: Zum einen nämlich schreibt Dimitri mit wohlgefeilter Rhetorik Briefe. Zum anderen disputiert er, vom Saulus zum Paulus bekehrt, nach dem Tod Davids (Jesu) mit Simón (Petrus) um das Apostolat.
Zeitgenössische Figuren spiegeln sich in Figuren und Handlungsmomenten der Weltliteratur, sie werden aber auch biblisch vergegenwärtigt. Ebenso werden biblische Handlungsmuster im Geiste ihrer ureigenen Rezeption freigelegt: Die mysteriösen Zahlenspiele der Tanzschule verweisen auf die Bach’sche Musik einerseits und Platons Ideenlehre andererseits. Bei einer solchen Mehrfachcodierung bleibt immer auch ein Überschuss. Kaum ein Jesus-Projekt zeigt mit seiner Spiegelung biblischer Figuren in einer rezeptionsgeschichtlichen und zeitgenössischen Umgebung derart stark, dass Texte zugleich deutend und zu deuten sind. Coetzees Trilogie jedenfalls konfrontiert mit seiner höchst eigenwilligen Literarisierung der Jesusfigur die Theologie mit verstörenden Impulsen und die Literatur mit gesellschaftlichen Anliegen sowie kulturellen Folgen.