Von Freundschaften, von der Bedrohung und von der Faszination am Berg
Fanny Desarzens und Angelika Waldis erzählen auf ganz unterschiedliche Weise von den Herausforderungen der Berge
Von Liliane Studer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEs ist das Licht, die körperliche Anstrengung, die einmalige Aussicht auf Viertausender, die die Menschen immer wieder in die Berge locken. Die einen suchen dort Erholung von einem eintönigen Alltag im Tal, die anderen das Unterwegssein mit Gleichgesinnten, die dritten brauchen die physischen und psychischen Herausforderungen. Von diesen besonderen Welten erzählen zwei Romane, die kürzlich erschienen sind, auf ganz unterschiedliche Weise. Da ist die junge Westschweizer Autorin Fanny Desarzens, 1993 geboren, die in ihrem Roman mit dem Titel Berghütte von der Freundschaft dreier Bergführer erzählt, die sich einmal im Jahr treffen, und zwar in der Baïta, der „Berghütte“, die von Paul, einem der drei Männer, geführt wird, seit er das Bergführen aufgegeben hat. Ohne sich zu verabreden, finden sie sich, Jules und Galel mit je einer Gruppe unterwegs und nun zum Übernachten in der Hütte, Paul als Hüttenwart oben, sie erwartend. Zur Begrüßung drücken sich Paul und Jules „sehr fest die Hand“, die Freude über das Wiedersehen spiegelt sich in den Gesichtern. Galel, der sich mit seinem ihm eigenen Pfiff angemeldet hat, scheut sich nicht, die beiden Freunde zu umarmen. Sie verbringen den Abend zusammen, essen für einmal nicht mit der Gruppe, sondern zu dritt etwas entfernt von den anderen, erzählen von der Wanderung, vom Wetter, von den Teilnehmer:innen. Zu vorgerückter Stunde, wenn sich die Wanderer:innen bereits in die Schlafsäle zurückgezogen haben, sitzen die drei Freunde noch lange draußen. Manchmal ist Josef, der Schäfer aus der Gegend, mit dabei, oder aber Vinciane, die ein paar Stunden entfernt ein altes heruntergekommenes Hotel führt, das innen wieder hergerichtet wurde. Geredet wird nicht viel, was man voneinander zu wissen braucht, weiß man, mehr ist nicht nötig. Sie sind glücklich, auch ohne Worte. „Sie trinken Wein, und man sieht ihnen beim Trinken zu. Man sieht ihnen zu, wie sie miteinander lachen, wie sie sich in einer Sprache unterhalten, die nur für sie zu existieren scheint, nur für sie in diesem Moment.“
Im Winter lebt Paul im Dorf im alten Bauernhaus seiner Eltern, das viel zu groß ist für ihn, das alte Pferd und die schwarze Kuh, die ihm geblieben sind, aber trotz allem günstiger, als wenn er in eine Wohnung ziehen müsste. Er arbeitet im Dorfladen. Jonas wohnt in einer kleinen Wohnung in der Stadt, auch er allein, und arbeitet fünf Tage die Woche in der Fabrik am Fließband. Die Geschichten der anderen sind bekannt, darüber zu reden wäre überflüssig. Das nötige Geld, um die Sommermonate in den Bergen verbringen, verdienen sich die drei Freunde im Winter im Tal.
Alles ändert sich jedoch, als Galel auf einer seiner Wanderungen einen Teilnehmer retten muss, der im Geröll den Halt verliert und nach unten stürzt. Erst viel später erzählt Galel den Freunden, dass etwas anders geworden ist, dass das Bein ihm nicht mehr gehorcht, ihn nicht mehr trägt. Dass der Arzt ihm geraten habe, mit den Touren in den Bergen aufzuhören, das Risiko sei zu groß. Alle sind überfordert. Paul und Jonas wissen nicht, wie sie sich gegenüber Galel verhalten sollen, Galel schämt sich, der Schwächere zu sein. Sie bewegen sich auf unbekanntem Terrain. Zum ersten Mal geht Jonas zu Paul im Winter in sein Bauernhaus, gemeinsam besuchen sie Galel im Krankenhaus nach dessen Knieoperation.
Ihnen ist unbehaglich, man sieht deutlich, dass sie sich nicht besonders wohlfühlen, und sie wissen, dass man es sieht. Aber es ist stärker als sie, sie finden, es ist so was von falsch, Galel so zu sehen. In diesem Moment wirken sie viel verletzlicher als er, dabei sitzt er auf dem Bett mit dem Krankenhaushemd und dem Loch im Knie. Paul gibt ihm die Blumen. Galel muss lachen, und das erleichtert sie. Dann wissen sie wieder nicht so recht, was sie machen sollen, keiner weiß, was man in so einem Moment sagt. Also flüchten sie sich in das, was ihnen am vertrautesten ist: das Schweigen.
Während zwei Tagen und zwei Nächten und ebenfalls in einem Berghaus (im Titel Berghau fehlt das S, da dem Pächter Sepp die Farbe beim Neuanstrich von Ziegen verschüttet wurde) spielt Angelika Waldis neuer Roman. Die Autorin mit Jahrgang 1941, die erst mit sechzig ihre erste Erzählung für Jugendliche veröffentlicht hat und seither regelmäßig und erfolgreich publiziert, erzählt, wie sich Menschen unter außergewöhnlichen Bedingungen verhalten und vor allem verändern. Mit dem „Berghau“ wollte sich Sepp einen Lebenstraum erfüllen, der sich jedoch zu einem Albtraum entwickeln sollte an dem Tag, als ein Bergsturz die Hälfte der Hütte unter sich begräbt. Zwar trifft das Unheil die Gruppe in diesem Moment völlig unvorbereitet, doch waren die Anzeichen, dass sich das Gelände infolge der Klimaveränderungen als zunehmend unsicher erwies, nicht zu übersehen. Das Wandergebiet ist von der Umwelt abgeschnitten, im einfachen Gasthaus treffen zehn unterschiedlichste Menschen aufeinander, die nur zwei Dinge verbindet: die Liebe zu den Bergen und die Flucht vor der immer noch drohenden Gefahr. Bald wird alles knapp: wärmende Decken sind rar, Wasser und Lebensmittel rasch aufgebraucht. Man möchte weg, und weil alle Wege ins Nichts führen, geht man sich langsam, aber sicher auf die Nerven. Die ungewollte Nähe stellt Paarbeziehungen vor große Herausforderungen. Oder die Risse, die schon länger spürbar waren, brechen definitiv auf. Doch ist es wirklich der richtige Moment, sich in dieser Ausnahmesituation auch noch das Scheitern einer Liebe einzugestehen? Andere wiederum drehen durch, etwa der Jüngste unter ihnen, Juri, der in seiner Verzweiflung handgreiflich wird, ausgerechnet gegenüber Sepp, der ihn jedoch ohne zu zögern überwältigt und in einer Kammer einschließt. Auf engstem Raum wird wahr, was immer vorausgesagt wird, dass Menschen in Extremsituationen alles, was sie einmal gelernt haben, fallen lassen und nur noch für sich und das eigene Leben kämpfen. Oder doch nicht? Ist da nicht auch Sepps Freundin Gret, die sich um die verletzte Japanerin kümmert, abwechselnd mit Amai, die sich völlig unerwartet von Sepp elektrisieren lässt, einem Mann, für den sie in ihrem anderen Leben nur Verachtung übriggehabt hätte, gegenüber dem jedoch ihr Freund Erwin, der Klimaaktivist, nur noch ein Langweiler ist.
Während sich Fanny Desarzens den drei Freunden behutsam annähert, deren Geschichten langsam und in Bruchstücken offenlegt und Freundschaft, die ohne Worte und über schwierigste Momente hinweghelfend Bestand hat, zum Wichtigsten in ihrem Roman macht, steuert Angelika Waldis zielgenau auf die große Explosion hin, ohne jedoch kurz davor noch schnell abzubiegen auf ein besseres Ende hin: das Auftauchen des rettenden Helikopters. Beide Autorinnen zeichnen sich aus durch ihre Sprache, die sie dem Inhalt gekonnt angepasst haben. Angelika Waldis wählt kurze schnelle Sätze, die staccatoartig wirken. Fanny Desarzens’ Sprache ist poetisch, mäandernd, sie lebt von den Antönungen, den Auslassungen, was auch in der einfühlsamen Übersetzung von Claudia Steinitz hervorragend zum Ausdruck kommt. Beide Romane erzählen überzeugend, wenn auch auf unterschiedliche Weise, von der Faszination der Berge, die immer auch mit großen Anstrengungen verbunden ist, denn sie lässt sich nicht vom Tal aus erleben, sie muss vor Ort und unter physischen und psychischen Herausforderungen erkundet werden.
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