Als Rentnerin auf einem Frachtschiff
In ihrem eigenwilligen Briefroman „Die Concierge ist auf See“ stellt Magali Desclozeaux globalisierten Kapitalismus bloß
Von Michael Fassel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseNinon Moineau, ehemalige Concierge in Paris, schippert in einem Frachtcontainer über die Weltmeere. Angesichts ihrer dürftigen Rente scheint ihr die Gestaltung ihres Rentendaseins auf See lebenswerter als der Ruhestand in der französischen Hauptstadt. Denn auf dem Container, denkt sie, lässt es sich besser leben. Sowohl Unterkunft als auch Kost werden ihr gestellt. Dafür hat Ninon ihre kleine Rente dem ominösen Richard LeRoy geopfert, der sich als Finanzhai entpuppt.
Was eingangs vielleicht nach einem harmonischen Dasein in unbegrenzter Freiheit klingt, ist nichts weiter als ein Leben an einem Nicht-Ort. So versucht Ninon nach Jahren, brieflichen Kontakt zu LeRoy aufzunehmen, um wieder an Land gehen zu können. Dieser stellt sich jedoch tot. Ninon bleibt nichts anderes übrig, als Kontakt zu einer Beratungsstelle in Paris aufzunehmen. Als Ansprechpartnerin antwortet die wortkarge und unter Gedächtnisverlust leidende Clémentine Noisette auf die ausführliche Darlegung Ninons, dass sich der sogenannte Leibrentenvertrag nicht auflösen lasse. Auf ihre ausführlichen Briefe hin stellt Ninon fest, dass eine Rückkehr in ihr altes Pariser Leben keineswegs so einfach ist, wie sie es sich vorgestellt hat. Dies ist der Ausgangspunkt im Brief- und E-Mail-Roman der französischen Schriftstellerin Magali Desclozeaux, die es versteht, die Absurditäten eines globalisierten Kapitalismus eindringlich vorzuführen und das Leben auf einem Frachtcontainer literarisch in Szene zu setzen. Dies nimmt man ihr umso mehr ab, als sie selbst eine Reise auf einem Frachtschiff unternommen hat.
Fortan gerät die frühere Concierge in einen Strudel aus bürokratischen Fallstricken. Sie erhält aber auch hoffnungsvollere Briefe des hilfsbereiten Gärtners Aimé, der in Paris die Korrespondenz von Clémentine erledigt. Da die Briefschreiber wechseln und neben Ninon noch weitere kommunizierende Akteure auf den Plan treten, überzeugt der Briefroman in sprachlicher Hinsicht. Desclozeaux bedient sowohl den Sprachjargon der undurchsichtigen Finanzwelt als auch das bürokratisch-kapitalistische Vokabular. Der CHRO (Chef Human Resources Officer) der Reederei bezeichnet Ninon in seinen Mails als „Humanaktivum“ – der Wert sei ihm allerdings unbekannt. Zugleich gibt er an, dass seine Reederei „Werte der Menschlichkeit und Solidarität vertritt.“ Kevin, ein offensichtlich vertrauter Freund LeRoys, wie aus seinen informellen Briefen hervorgeht, benennt Ninon wiederum als „Spatz“, da sie lediglich eine „Spatzenrente“ bekomme. Nicht immer allerdings ist die Finanzsprache mit ihren Fachtermini direkt zugänglich. Insofern ist die Übersetzungsleistung von Merle Struve beachtlich.
In ihrer Fabulierlaune schöpft Desclozeaux Sätze, die die absurde Situation und das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen Finanzhai, Vermögensverwalter und dem menschlichen Spekulationsobjekt, Ninon Moineau, auf den Punkt bringen. Antworten seitens Initiators LeRoy bleiben aus, er stellt sich konsequent tot. Der Roman, unterteilt in vier Kapitel und einen Epilog, ermöglicht einen Einblick in verschiedene Perspektiven. Die Korrespondenz erweist sich angesichts des vermeintlich verstorbenen LeRoy vor allem im letzten Kapitel „Richard Papers“ als fragmentarisch, so dass die Figuren hinter den Briefen und E-Mails zum Teil verblassen.
Umso besser gelingt Desclozeaux der speziell-eigenwillige Humor, der oftmals über einzelne Sätze gekonnt und präzise transportiert wird: „Hoffentlich haben sie mich auf das richtige Schiff gebracht, hoffentlich haben sie mich nicht hinten bei den Tiefkühlwaren einsortiert […]“. Viele Sätze entfalten erst ihre komische Wirkung, wenn man sie laut liest.
Magali Desclozeaux schafft eine ungewöhnliche Situation in einer obskuren, vertrackten Finanzwelt. Eine allwissende wertende Stimme bleibt aus. Dass die Geschichte hinter dem Arrangement der Chronik aus Briefen und E-Mails folglich eine moralische Botschaft aussendet, ist aber bereits im Paratext auszumachen. Der Verlag gibt an, dass es sich um eine Fabel handelt, deren Charakteristikum sich u.a. durch eine moralische Botschaft auszeichnet. Der moralische Zeigefinger bleibt allerdings aus, obgleich die Botschaft nach der Lektüre eindeutig ist. Es sind nicht die wilden Haie, die hier den Passagier:innen auf hoher See gefährlich werden, es sind die globalisierten Finanzhaie, die Existenzen bedrohen, die sich durch Betrügereien bereichern und Menschen wie Ninon als Geldanlage betrachten.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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