Die Fiktion einer Fiktion

Sich gegenseitig in Frage stellende Dokumente, die Wahrheit einer Ehe im Zeichen des Börsencrashs von 1929: Hernán Díaz hat mit „Treue“ ein vielstimmiges Romanlabyrinth vorgelegt

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er gehört bis heute zum Fundament der amerikanischen Kultur: der Selfmademan, die Vorstellung vom großen Einzelnen, der es aus eigener Kraft bis ganz nach oben schafft. Hernán Díaz hat diesen Mythos bereits vor fünf Jahren in seinem Debütroman In der Ferne destruiert, der in der Ära des kalifornischen Goldrauschs spielt. Der neue Roman des in Buenos Aires geborenen, heute in New York lebenden Autors setzt dieses Zerstörungswerk fort, gibt ihm aber zugleich eine ironisch-feministische Pointe.

Auch Treue, so der etwas ungenaue Titel der deutschen Übersetzung (das englische „Trust“ steht für Vertrauen ebenso wie für Treuhandfonds), hat eine Phase kollektiver Manie als Hintergrund: die Goldenen Zwanziger mit ihrem scheinbar endlosen Börsenboom. Die Ähnlichkeiten dieser Epoche mit unserer Zeit der Finanzkrisen und Fake News werden spätestens dann deutlich, wenn im Roman ein kauziger Anarchist seine Tochter Ida am Ufer des Hudson vor der Verführungskraft des Geldes warnt:

(…) nicht vergessen: Geld ist eine Fiktion; Waren in rein phantastischer Form, ja? (…) Aktien, Anteile und all der andere Schrott sind nur Ansprüche auf zukünftigen Wert. Wenn also Geld eine Fiktion ist, dann ist Finanzkapital die Fiktion einer Fiktion. Damit handeln die ganzen Verbrecher: mit Fiktionen.

Doch bekanntlich handeln nicht nur Spekulant:innen mit Fiktionen, sondern auch Schriftsteller:innen. Díazʼ Roman Treue erzählt von einem erfundenen New Yorker Finanzmogul namens Andrew Bevel und dessen verstorbener Ehefrau Mildred. Als Magier der Märkte verdiente Bevel nicht nur am Boom der Zwanziger, sondern auch am Schwarzen Freitag von 1929 ein märchenhaftes Vermögen. Für die empörte Öffentlichkeit war der Investor sogar der Hauptschuldige dafür, dass Börse und Wirtschaft wie Kartenhäuser in sich zusammenbrachen. Bevels Frau, eine Förderin der Künste, starb bald nach dem Crash in einem Schweizer Sanatorium.

Um die Wahrheit dieser Ehe geht es in Díazʼ Roman; der Klappentext vergleicht seine verschachtelte Erzählkonstruktion mit einer Matroschka, einer russischen Puppe. Doch lässt sie eher an ein kubistisches Gemälde denken, das dem Betrachter mehrere Perspektiven zugleich bietet. Denn Treue besteht aus vier Romanteilen, die sich gegenseitig in Frage stellen: zunächst einem Roman im Roman, dann einer Autobiografie, gefolgt von einem Memoir und einem geheimen Journal. Jeder dieser Teile trägt einen anderen fiktiven Verfasser:innennamen und unterscheidet sich in Sprache und Stil völlig von den anderen.

Der erste Teil zum Beispiel, ein Schlüsselroman aus der Feder eines New Yorker Klatschreporters namens Harold Vanner, imitiert gekonnt den psychologisch subtilen, realistischen Stil von Henry James oder Edith Wharton. Man sollte diesen inhaltlich wie sprachlich überbordenden Teil als Köder verstehen, mit dem der 49-jährige Hernán Díaz seine Leser:innen in sein Romanlabyrinth lockt. Umso stärker der Kontrast zum folgenden Teil, der unvollendeten Autobiografie Andrew Bevels, deren mal bombastischer, mal gönnerhafter Ton mit diversen Platzhaltern für Ergänzungen durchsetzt ist:

Mildreds allzu kurze Zeit unter uns hat unauslöschliche Spuren hinterlassen. Mit ihrer Liebenswürdigkeit und Großzügigkeit berührte sie jeden. Beispiele. Und ich weiß, dass ihre gütige Hand noch künftigen Generationen helfen wird, wenn ich selbst schon lange fort bin.

Mit seiner Selbstbeweihräucherung will der Finanzmogul Harold Vanners unschmeichelhaften Schlüsselroman über Bevels Ehe überschreiben. Dass er mit seiner Autobiografie zugleich seiner verstorbenen Frau den ihr seiner Meinung nach angemessenen Platz zuweisen will, wird erst später klar. Denn erst der dritte Teil, das Memoir von Bevels Ghostwriterin Ida Partenza, entlarvt den selbstgefälligen Ton dieser Autobiografie als weibliches Produkt. Der vierte, Mildreds verschollenes Tagebuch, wird den Bevel-Mythos dann endgültig zum Einsturz bringen. In ihm finden sich ebenso rätselhafte wie aufschlussreiche Reflexionen wie diese: „Leerverkaufen heißt, die Zeit umkrempeln. Die Vergangenheit macht sich in der Zukunft gegenwärtig. Wie ein Krebsgang in der Musik oder ein Palindrom.“

Das Memoir von Ida Partenza, die sich im Alter schuldbewusst daran erinnert, wie sie als Zwanzigjährige zu Bevels Komplizin wurde, ahmt den rauen Ton des New Journalism nach. Die knappen Tagebucheinträge der krebskranken Mildred ähneln dagegen modernen Aphorismen. Hernán Díazʼ raffiniert konstruierter, brillanter Finanzroman ist also nicht nur ein weiterer Abriss eines amerikanischer Mythos. Sondern nebenbei auch ein origineller Gang durch die Literaturgeschichte.

Titelbild

Hernan Diaz: Treue. Roman.
Aus dem Englischen von Hannes Meyer.
Hanser Berlin, Berlin 2022.
411 Seiten, 27,00 EUR.
ISBN-13: 9783446273757

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