Lost in Empathy

Phillip K. Dicks Science-Fiction-Klassiker Träumen Androiden von elektrischen Schafen bekommt als Blade Runner eine gelungene neue Übersetzung

Von Leon DoorlagRSS-Newsfeed neuer Artikel von Leon Doorlag

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit Ridley Scotts Blade Runner 1982 in die Kinos kam, muss die offizielle literarische Vorlage von 1968, Phillip Kindred Dicks Science-Fiction-Roman Do Androids Dream of Electric Sheep, um ihren schrullig-absurden Titel fürchten. Im Herbst diesen Jahres lief Denis Villeneuves späte und überragende Fortsetzung Blade Runner 2049 in den deutschen Kinos an. Aus diesem Anlass ist bei Tor, dem Science-Fiction-Fantasy Imprint des Fischer Verlags, Manfred Alliés aufpolierte Neuübersetzung des Klassikers ins Deutsche erschienen. Die poetisch-philosophische Frage des Romans an den Leser wird abermals in den Zweit- und Untertitel verdrängt. Verständlicherweise möchte man den Hype nicht verpassen, und ohne erzwungene Namensgleichheit liegt die Verbindung nicht wirklich auf der Hand. Blade Runner ist heute eine Marke, ein Franchise, und das Buch ist nur ein Teil davon. Wie der Film zu diesem Namen kam – nämlich über den Umweg von Alan E. Nourses ganz anders geratenen Roman Bladerunner von 1974 – ist eigene Nachforschungen wert. Nur so viel: Es ist ein echtes Missing Link der Literatur- und Filmgeschichte und schließt auch einen gewissen Screenplaywriter William S. Burroughs mit ein.

Leider ist es für eine Betrachtung oder Kritik von Träumen Androiden von elektrischen Schafen nicht ganz einfach, von der viel berühmteren Verfilmung abzusehen und nicht immer wieder in Gleichungen abzurutschen. Dank der Unübersichtlichkeit der vielen Einflüsse und Zitate aus Literatur-, Kunst-, Comic- und Filmgeschichte ist der Film von 1982 eine düster-atmosphärische, ästhetisch überladene, schwer fassbare und hybride Dark-Future-Stilikone (ganz zu schweigen von Villeneuves aktueller Re-Vision). Es soll hier aber nicht darum gehen, die doch recht verwischten Spuren des literarischen Vorbilds im filmischen „Gesamtkunstwerk“ aufzuspüren. Vielmehr soll auf die besonderen Reize des Romans und seiner Neuübersetzung aufmerksam gemacht werden, und zwar aus der Perspektive eines überraschten und verwirrten Erstlesers, der den Film durchaus kennt und liebt, die Dissidenz und Eigenständigkeit aber als so drastisch empfindet, dass er jedem Blade Runner Enthusiasten zurufen möchte: Sehen Sie die Filme! Schwelgen Sie in ihnen, mehrmals und so oft Sie wollen, aber lesen Sie auch einmal dieses Buch!

Lassen wir hier die atmosphärische Dichte der Einstellungen des Films nur kurz erstehen, sie begleitet die Lektüre des Romans sowieso: das wuselnde Leben im urbanen Super-Moloch Los Angeles, die bröckelnde Bausubstanz, die verregnete Glätte der Straßen, die in so vielen Details anwesende ökologische Katastrophe, das technische Funkeln, Knacken, Rauschen, der architektonische Größenwahn der Megakonzerne, der überall durchsickernde Neon-Tokio-Werbekitsch, die fliegenden Autos und, nicht zuletzt, die elektronische Musik von Vangelis. Dieser ganze Cyber-Punk-Weltuntergang in Endlosschleife, funkelnd-schön und schaurig-morbid, mag schon bei Philip K. Dick auratisch angelegt gewesen sein, ist nun aber endgültig nicht mehr von seinem Buch zu trennen. Davon einmal abgesehen, besitzt der Film eine recht gradlinige und überschaubare Handlung, wenig Charakterentwicklung und eher zurückhaltende Dialoge, was einem unbegreiflichen, aber produktionsbedingten Ignorieren der literarischen Vorlage gleichkommt.

Obwohl es stilistisch dem konventionellen Detektivroman verhaftet ist (Dick wurde in seiner amerikanischen Heimat auch als „Pulp-Kafka“ bezeichnet, teilweise soll er bis zu 60 Seiten am Tag geschrieben haben), strotzt der Plot von Twists, Dopplungen aller Art, skurrilen Wendungen, blödsinnig-lapidaren Sinngebungen und unangenehmen bis peinlichen Gesprächsverläufen. Diese Meta-Spielereien und auch manche sprachliche Ungereimtheit (Einstreuung deutscher Wörter und eigene Wortschöpfungen) sind prägnante Merkmale für den sarkastischen Unterton und das humorvoll verstörende Potenzial in Dicks Science Fiction, die Manfred Allié, auf bemerkenswerte Weise, mit einiger Konsequenz und manchmal sogar etwas schöner als das Original, ins Deutsche transportiert. Was zum Beispiel ist der ominöse „Kippel“, wie Allié das Dickʼsche „Kipple“ schlau übersetzt? „Die totale Kippelisation des Universums“ beschreibt eine im Buch geäußerte Theorie über die allmähliche und unaufhaltsame Vermüllung des Raums, durch die Anwesenheit des Menschen und seiner Kultur. Die im Buch auftauchenden Beschreibungen der leerstehenden Ruinenvorstädte, der verstaubten Appartements und der unendlichen Abfallwüsten unter radioaktivem Fallout verweisen kaum zugespitzt auch auf unser eigenes Elend zwischen Konsumwahn und Müllbergen. „Kipple“ findet man als lexikalischen Eintrag ausschließlich im Slang-Wörterbuch Urban Dictionary. Trotz der düsteren Szenerie wird bei Dick oft genug die Sinnlosigkeit zur Lächerlichkeit, die handelnden Personen zu drögen Schlaffis mit Allerweltsproblemen und biederen Ambitionen. Sogar die titelgebenden Androiden, also die synthetisch perfektionierten Ersatz-Menschen, sind nur verhalten kriegerisch und selten effektiv organisiert, sondern neigen zu unverhältnismäßiger Lethargie und einer schicksalsergebenen Berechenbarkeit, sobald sie mit ihrem Ende konfrontiert werden.

Androiden sind bei Dick keine Mensch-Maschinen-Utopie mehr, sondern eher Beispiele für extrem elaboriertes Bioengineering und für den Gipfel der künstlichen Intelligenzforschung, humanoide Roboter aus Fleisch und Blut mit serienmäßig verbesserten Gehirnen. Der im Buch ausschließlich vorkommende Nexus-6 Typ ist physisch, außer durch eine aufwändige Knochenmarksanalyse, nicht mehr vom Menschen zu unterscheiden. Man nutzt die „Andys“ als widerstandsfähige Sklavenarbeiter auf dem Mars und in den entlegeneren Weltraum-Kolonien. Für auswanderungswillige Erdenbewohner, die den verstrahlten und verwüsteten Planeten, die drohende Sterilität und die schleichende Degeneration ihres Erbguts hinter sich lassen wollen, bieten die kostenfreien Arbeitskräfte einen attraktiven Anreiz. Es ist den Androiden aber unter Todesstrafe verboten, die Kolonien zu verlassen, geschweige denn, die Erde zu betreten. Es gibt jedoch immer wieder rebellische Exemplare, die ihre Besitzer ermorden und zur Erde fliehen.

Der Tod ereilt sie dort durch Kopfgeldjäger, speziell ausgebildete Polizisten wie Rick Deckard. Handlung des Romans ist die mehrtägige Jagd Deckards auf fünf flüchtige Androiden und die mit ihrem Abschuss einhergehenden Veränderungen im Selbstverständnis des Jägers. Mit den Kopfprämien fürs „Ausschalten“ der „Andys“ hofft Deckard zunächst, seine gesellschaftliche Situation und die seiner Frau aufwerten können. Das heißt im postapokalyptischen Jahr 1992 in erster Linie eines: ein echtes, lebendiges Tier zu besitzen, das im „Sidney-Katalog für bedrohte Tierarten“ mit Preisliste aufgeführt ist, es aufs eigene Dach neben das Schwebeauto zu stellen, es zu füttern und von den Nachbarn bewundern zu lassen. Dort steht aber bisher nur das täuschend echte elektrische Schaf, zunehmend ein Dorn im Auge des unglücklichen Besitzers.

Nach dem Dritten Weltkrieg und dem Massenaussterben der Arten sind die kollektiven Bedürfnisse der Gesellschaft auf allumfassende Empathie ausgerichtet: Es gibt eine Art Verschmelzungs-Religion, das Mercertum, deren individuelle Ausübung und Auslegung die Handlung des Buchs auf mehreren Ebenen immer wieder pausiert und in Konkurrenz zur Dauerwerbesendung von TV-Guru „Buster Freundlich und seinen freundlichen Freunden“ zu verstehen ist. Persönliche Befindlichkeiten fangen die Menschen mit den hunderten Einstellungen der Stimmungs-Orgel auf und steuern sie zum Allgemeinwohl in die jeweils angemessene Richtung. Es gibt aber auch hier Unstimmigkeiten: Anstatt zum Beispiel Nr. 888 einzustellen, den „Wunsch fernzusehen, egal was gesendet wird“, bleibt Deckards Frau Iran trotzdem lieber im Bett liegen; ihre geheime Lieblingseinstellung: „Hoffnungslosigkeit“.

Die Androiden wiederum lassen sich nur noch durch ausgeklügelte Empathie-Tests entlarven, wie zum Beispiel mit der Voigt-Kampff-Apparatur, einer Mischung aus Turing-Test, psychologischer Befragung und Mikroreaktionszeitmessung. Deckard soll den Test auf seine Funktionalität in der Anwendung auf die neuen Nexus-6 Androiden prüfen und wird zu diesem Zweck in den Rosen-Werken mit einem Prototyp konfrontiert, Rachael Rosen, mit der er, trotz des positiven Testergebnisses, später eine Affäre beginnt. Der sich über die Voigt-Kampff-Apparatur entspinnende Dialog kann als besonders verschrobener Film-Noir-Flirt durchgehen und hat es auch fast unverändert in das Drehbuch von Blade Runner geschafft, als leider einziges Beispiel von direkter Textübernahme. Die Beziehung zu Rachael Rosen nimmt aber eine gänzlich andere Wendung als im Film, und dass sie eine Doppelgängerin unter den flüchtigen Androiden hat, macht die Sache nicht einfacher.

Zentraler Bezugspunkt vieler Handlungen und Dialoge sind die Tiere: als menschliche Statussymbole, anwesend-abwesendes Menetekel des menschgemachten Weltuntergangs und als schutzbefohlene Objekte ihres unbedingten Einfühlungswillens. Hier wird der Roman zum prophetisch-parodistischen Seitenhieb auf die zunehmende emotionale Verwicklung des modernen Menschen mit dem Tier in allen Bereichen (Medien, Spielzeug, Haustierdienstleistungen, Animal Studies, Umweltschutz), die man auch als „Lost in Empathy“ bezeichnen könnte, da sich am Leiden der Tiere trotzdem nichts Grundlegendes ändert. Konsequenterweise zeigt der Roman das Fehlen der Tiere hauptsächlich als Mangel des Menschen und wirft das Problem der Unterscheidung künstlicher Tiere von echten Tieren auf, was sich wiederum im Androiden-Problem spiegelt. Dementsprechend schwebende Kernfragen des Buchs sind: Was ist Leben? Was ist eigentlich menschliches Leben in Unterscheidung von nicht-menschlichem Leben? Und natürlich das Problem der Unterscheidung als solches und der Festsetzung von Wertigkeit.

Dieser Komplex wird noch weiter ausgebaut mit dem Auftauchen von degenerierten oder auch „speziellen“ und damit unterprivilegierten Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft, in der anderen Hauptfigur des Romans, des „Spatzenhirns“ J. R. Isidore. Hier wird jemandem das Menschsein von offizieller Seite abgesprochen, dessen Handeln aber durchgehend humaner ist als das der meisten. Außerdem wird ein zweiter Kopfgeldjäger gezeigt, Deckards Gegenbild, dessen Handlungen ein Fehlen von Mitgefühl implizieren, der sich trotz aller Bedenken dann aber doch noch als Mensch herausstellt. Es wird also zunehmend schwierig. Von dem geheimen Doppelgänger-Polizeipräsidium und Deckards Verhaftung unter dem Verdacht, selbst ein Androide zu sein, ganz zu schweigen.

Deckard (Descartes) besteht auf einer klaren Unterscheidbarkeit zwischen Mensch und Nicht-Mensch: zu Beginn, um seine Arbeit erledigen zu können und später, um seine Gefühle gegenüber weiblichen Androiden zu verdrängen. Am Ende wird er, so glaubt er, aufgrund seiner professionellen Unterscheidungsfähigkeit, Besitzer eines „echten“ Tieres sein. Man wird sehen.

Titelbild

Philip K. Dick: Blade Runner. Träumen Androiden von elektrischen Schafen? Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Manfred Allié.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2017.
272 Seiten, 14,99 EUR.
ISBN-13: 9783596297702

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