In geheimer Mission gegen Hitler

Mit „Die letzten Tage unserer Väter“ erscheint der Debütroman des französischsprachigen Schweizer Bestsellerautors Joël Dicker zum ersten Mal auf Deutsch

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ihr gemeinsames Ziel schweißt sie zusammen: nicht nur ihre jeweilige Heimat, sondern Europa und die Welt vom Faschismus zu befreien. Dazu nehmen sie die Trennung von ihren Familien, eine strapaziöse Ausbildung zu Geheimagenten und die Möglichkeit, in einem britischen Internierungslager zu landen, sollten sie sich letzten Endes als ungeeignet für den harten Job erweisen, in Kauf. In der SOE – der „Special Operations Executive“ –, einer „geheimen Einsatztruppe des britischen Secret Service“, sammeln sich Ende 1941 Männer und Frauen aus verschiedenen Ländern, die alle einen Beitrag zur Beendigung des Krieges leisten wollen. Das Schicksal von einem guten Dutzend Angehörigen der Sektion F (F steht für Frankreich) der SOE verfolgt der französischsprachige Schweizer Bestsellerautor Joël Dicker in seinem Debütroman aus dem Jahr 2010, der jetzt unter dem Titel Die letzten Tage unserer Väter zum ersten Mal auf Deutsch erschienen ist.

Dicker, Jahrgang 1985, wurde mit seinem Roman Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert (2013, das französischsprachige Original erschien 2012) schlagartig bekannt. Das mit zahlreichen Preisen geehrte und in mehr als 30 Sprachen übersetzte Buch wurde schnell zum Weltbestseller, sein Autor zum international gefeierten neuen Superstar aus der kleinen frankophonen Schweiz. Weil damit die Latte für die kommenden Werke dieses Autors außerordentlich hoch gelegt war, ist es verständlich, dass keiner der bis heute publizierten Folgeromane den Erfolg des Harry Quebert bei Kritik und Publikum zu wiederholen vermochte, obwohl sie alle zu Verkaufserfolgen wurden. Die Zeit, die Dickers deutsche Leser auf die Übersetzung von dessen aktuellem Roman L’Affaire Alaska Saunders (2022) noch warten müssen, überbrückt sein deutscher Verlag nun mit dem vorliegenden Band.           

Die letzten Tage unserer Väter erweist sich dabei als ein Roman mit allen Vor- und Nachteilen, die literarische Debüts in der Regel haben. Das weniger bekannte Kapitel aus der Geschichte der Résistance – die Unterstützung der Widerstandsbewegungen in den von Hitlerdeutschland okkupierten europäischen Ländern durch in Großbritannien ausgebildete und trainierte Agenten, die man vorher europaweit rekrutiert hatte – erzählt der bei Erscheinen des Romans erst 25-jährige Autor ebenso spannend wie routiniert. Es ist die Entwicklungsgeschichte eines Häufchens hauptsächlich junger Franzosen, die während ihrer Ausbildung an verschiedenen Orten in Großbritannien zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammenwachsen.

Im Mittelpunkt steht der junge Paul-Émile, von seinen Kameraden Pal genannt, der glaubt, nicht mehr untätig bleiben zu können angesichts der Tatsache, dass die Deutschen seine Heimat besetzt haben und die Freiheit ganz Europas und der Welt bedrohen. Schweren Herzens verlässt er über Nacht seinen Vater, dem er und der ihm in ganz besonderer Weise zugetan ist, seitdem ein Schicksalsschlag vor Jahren ihnen die Mutter bzw. Ehefrau nahm, und schließt sich in London dem von Winston Churchill ins Leben gerufenen, von den Guerillabewegungen inspirierten Dienst an. 

Um seine Zentralgestalt herum hat Dicker geschickt eine Reihe unterschiedlicher Charaktere platziert. Als an deren Ausbildungsende von den ursprünglich 21 Freiwilligen der Sektion F noch 8 Männer und eine Frau übriggeblieben sind, verfolgt der Roman ihre Schicksale weiter, indem er seinen Fokus mal auf die eine, mal auf die andere Figur richtet. Die gefährlichen Einsätze, zwischen denen man immer wieder nach London zurückkehrt, um sich neue Instruktionen zu holen, trennen die einzelnen Mitglieder der Gruppe häufig voneinander. Dennoch bleibt das Gefühl in jedem Einzelnen, zu einer ganz besonderen Gruppe zu gehören, die mehr miteinander verbindet als lediglich ihre zeitlich begrenzte gemeinsame Mission.

Der 19-jährige Pfarrer Claude, „sanft wie ein Mädchen“, Pals große Liebe Laura, der ungeschlachte, „Furcht einflößende Hüne“ Faron, der dem Essen mehr als zugeneigte Gros, so genannt seines Umfangs wegen, der Stotterer Prunier, der so wenig wie möglich spricht, um sich nicht zu verhaspeln, und der wegen seines fortgeschrittenen Alters von allen geachtete einzige Nicht-Franzose Stanislas, frankophoner und frankophiler Anwalt und ehemaliger Kampfpilot – der Roman führt sie von Bewährungssituation zu Bewährungssituation, präsentiert sie dem Leser als Kämpfer, Liebende, Freunde, Kameraden und Verräter. Und immer wieder kehren die Gedanken Pals zu seinem Vater zurück. Alleingelassen im besetzten Paris und im Unklaren darüber, auf welch gefährliche Mission sein Sohn sich begeben hat, ist er der Fixpunkt in dessen Welt. Den Vater will Pal nicht enttäuschen, für ihn hat er sich aufgemacht in eine ungewisse, gefährliche Zukunft, ihm möchte er so schnell wie möglich seine große Liebe Laura vorstellen – und um ihn zu schützen, wird er am Ende Schreckliches tun und sich selbst opfern.

Die letzten Tage unserer Väter ist nicht immer pathos- und kitschfrei. Sätze wie „Leutnant Peter und David, der Dolmetscher, standen abseits und weinten. Alle weinten. Ganz Schottland weinte“ muss man nicht mit der Lupe suchen, man findet sie nur allzu häufig. Und auch eine Figur wie der Deutsche Kunszer, Mitglied der Abwehr, also des militärischen Geheimdienstes der Wehrmacht, der voller Hass auf die Gestapo und ihre Methoden ist – „Nein, er mochte die Gestapo nicht, er mochte weder ihre Methoden noch ihre Offiziere, die oft ungebildet waren. Er mochte keine ungebildeten Menschen.“ – ist, wenn sie am Ende gar Sohnespflichten gegenüber Pals Vater übernimmt, nicht unbedingt glaubwürdig. Abgesehen von diesen für einen jungen Autor nicht untypischen Schwächen handelt es sich bei Die letzten Tage unserer Väter aber um ein durchaus vielversprechendes Debüt.

Titelbild

Joël Dicker: Die letzten Tage unserer Väter.
Aus dem Französischen von Amelie Thoma und Michaela Meßner.
Piper Verlag, München 2022.
432 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783492071383

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