Die Implosion des sozialistischen Realismus

Zum Tod Andrej Bitows (1937–2018)

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Geboren in Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg, verbrachte Andrej Bitow die Zeit der Leningrader Blockade während des Zweiten Weltkriegs hinter dem Ural. Nach seinem Dienst in der Armee folgte ein Studium der Geologie, das Bitow erfolgreich abschloss. Seit Ende der 1950er Jahre begann Bitow, Erzählungen zu veröffentlichen. Er gehörte damit zu jener Generation von Autoren, die in der Folge einer halbherzigen Entstalinisierung schrittweise neue künstlerische Wege einschlugen. Bitow machte sich im Laufe der folgenden Jahrzehnte mit seinen Erzählungen, Essays, Reiseberichten und Roman einen Namen.

Auf unspektakuläre Weise sorgte seine Art, zu erzählen, für eine Implosion des „sozialistischen Realismus“, den die mächtigen Kulturfunktionäre der Sowjetunion nachdrücklich und unermüdlich einforderten. Bitows Prosa hob sich in ihrem Spiel mit experimentalen Formen von der offiziell eingeforderten Bevorzugung einer volkstümlichen Literatur auf deutliche Weise ab. Kein Wunder, dass sich der Autor 1979 mit der Herausgabe des Almanachs Metropol hervortat, der an der Zensur vorbei entstanden war und Autoren wie etwa Wassilij Axjonow, Jewgenij Popow oder Victor Jerofejew aufnahm. Der Zorn der Herrschenden stellte sich umgehend ein und der Band, der nicht erscheinen durfte, wurde von den Behörden beschlagnahmt und verboten.

Auch Bitows Hauptwerk Das Puschkinhaus konnte in der Sowjetunion erst nach fast 20-jähriger Verzögerung während Michail Gorbatschows Phase der „Glasnost“ (Offenheit) veröffentlicht werden. Spätestens mit diesem Roman nahm Bitow den Rang eines der bedeutendsten russischen Schriftsteller ein. Seine Erzählkunst erreichte hier ihre ausgereifte Form und begründete seine Meisterschaft eines postmodernen Erzählens. Oft konkurrieren Erzählstränge, die sich teilweise wieder zurücknehmen; in spielerischer Weise werden Szenen und Texte russischer Klassiker aufgegriffen und auf ungewöhnliche Weise zum Leben erweckt. Bitows Erzähler tastet sich zögernd voran, er verstrickt sich immer wieder in Reflexionen und Exkurse, um auf ganz unerwartete Weise den Faden wieder aufzunehmen. Auch zögert er nicht, seiner Hilflosigkeit Ausdruck zu verleihen, wenn ihm die entsprechenden Worte fehlen, um etwa innerste Gefühlsregungen, Gerüche und Momente der Überraschung auszudrücken. Eine Aufrichtigkeit, die zugleich als Stilmittel fungiert und für eine Verlebendigung des Textes sorgt.

Zum Glück für die deutsche Leserschaft hatte Bitows deutscher Hausverlag die renommierte Übersetzerin Rosemarie Tietze gewinnen können. Zu Ehren seines 80. Geburtstages war 2017 im Suhrkamp Verlag die erweiterte Neuausgabe seines Georgischen Albums erschienen. Der gepflegt aufgemachte Band ist zudem mit 18 Fotos des georgischen Fotografen Guram Tsibahashvili versehen.

In der abgedruckten Erzählung Der letzte Bär wird nur auf den ersten Blick von einem Zoobesuch mit der kleinen Tochter berichtet. Ganz in Bitows Manier gerät das erstaunte Nachdenken über Gott und die Welt unvermittelt zwischen die Zeilen: „Sowas, da erkundet man tagaus, tagein die Welt, um schließlich ein solch unwirkliches Alter zu erlangen!“

Am 3. Dezember 2018 ist der russische Schriftsteller Andrej Bitow im Alter von 81 Jahren in Moskau verstorben.