Die Kritiker und die Schriftsteller

Eine problematische Beziehung – Aus dem Nachwort zu einer Aufsatzsammlung über Martin Walser

Von Marcel Reich-RanickiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Reich-Ranicki

Thoas, der König der Taurier, belehrt in Goethes »Iphigenie« seine edle, doch etwas eigensinnige Gesprächspartnerin: »Man spricht vergebens viel, um zu versagen; / Der andre hört von allem nur das Nein.« Auf dieses oft zitierte Wort beruft man sich auch in literarischen Kreisen. Dann aber lautet es: »Man spricht vergebens viel, um zu verreißen …« In der Tat zeigt es sich immer wieder, daß die Kritiker, die sich menschenfreundlich bemühen, die bittere Pille des Tadels ein wenig zu versüßen, den betroffenen Autor nicht beschwichtigen können: Er führt alle Beanstandungen auf die Gemeinheit und Dummheit des Rezensenten zurück, wenn nicht auf dessen Bösartigkeit oder gar Sadismus. Und die anerkennenden, die rühmenden Äußerungen? Die habe er, erklärt der Autor ungeniert, doch verdient, es sei selbstverständlich, daß seine guten Leistungen entsprechend gelobt würden.

Was geht das uns an, uns Kritiker? Nicht für die Schriftsteller schreiben wir, nicht für die Erzähler oder Lyriker, sondern für die Leser. Schon wahr, aber so einfach ist das wieder nicht. Die Autoren und die Kritiker – sie leben von und für die Literatur. Sie sitzen im selben Boot. Sie ziehen denselben Wagen, wenn auch mitunter in verschiedenen Richtungen. Architekten und Apotheker, Maler und Mediziner, Kaufleute und Komponisten – sie alle sind uns als Leser unserer Arbeiten hochwillkommen. Aber wer versteht von Dichtung mehr als die Schriftsteller?

Sicher ist: Sie sind befangen. In vielen Fällen haben sie keinen Sinn für die schreibenden Zeitgenossen, die einen anderen künstlerischen Weg gehen als sie selber. Gern befürworten sie wackere, doch eher unbedeutende Autoren, solche also, die als ihre Konkurrenten nicht in Betracht kommen. Vor allem aber: In der Regel beschäftigen sie sich intensiv und leidenschaftlich mit ihren eigenen Werken und nur flüchtig (wenn überhaupt) mit den Büchern ihrer Kollegen. Dennoch drängt sich noch einmal die Frage auf: Wer ist empfänglicher für die Nuancen eines literarischen Texts als sie, die Schriftsteller? Und wer hat einfühlsamer und einsichtiger über Literatur geschrieben als Martin Walser?

In seinem Buch Vormittag eines Schriftstellers finde ich nicht wenige überaus schlichte Bemerkungen, die ins Schwarze treffen. Da heißt es: »Die Sätze, die ich lese, leben davon, daß sie in mir beantwortet werden. Beantwortet durch Erfahrungen, die von diesen gelesenen Sätzen geweckt, mobilisiert, bewußt gemacht werden.« In einem anderen Essay formuliert er einen ähnlichen Gedanken auf ganz andere Weise, doch nicht weniger überzeugend: »Wir schaffen doch, was wir lesen … Wenn im Buch Schmerz und Angst vorkommen, blieben Schmerz und Angst Papier, wenn wir sie nicht mit unserer Schmerz- und Angsterfahrung zum Leben erweckten … Die Begegnung mit Raskolnikow wird zur Selbstbegegnung … Im Buch haben wir ein Gegenüber, das zwar von außen stammt, aber doch nur durch uns existiert.«

Allerdings läßt sich Walser gelegentlich hinreißen, er geht zu weit – vielleicht um zu erkunden, wie weit man gehen kann. Er übertreibt. Das hat er mit den meisten Essayisten, vielleicht sogar mit den meisten Schriftstellern gemein. Und das ist gut so: Wer nicht übertreiben will, wer nicht überspitzen kann, der sollte lieber das Schreiben aufgeben. Doch auch den Übertreibern darf und sollte man bisweilen widersprechen. So erklärt Walser: »Wichtiger als das, was man liest, ist ja das, was mit einem, wenn man liest, passiert. Die Folgen. Die Wirkung. Man sollte überhaupt nicht über Bücher, sondern nur über ihre Wirkung sprechen.«

Gewiß, die Folgen sind schon höchst wichtig. Aber sollte man deshalb aufhören, über Bücher zu sprechen? Darf man sagen, nur auf die Wirkung komme es an und nicht auf das Werk, das sie nach sich zieht? Es bleibt doch oft die Wirkung trotz der Bedeutung des Werks gering, weil der Leser ihm nicht gewachsen ist. Ein Roman von Kafka und die Folgen, die er im lesenden Individuum auslöst – sind das denn überhaupt vergleichbare Größen?

Nein, das alles meint Walser zwar sehr ernst, aber wohl doch nicht so wörtlich. Häufig zwingt er uns, ihm zu widersprechen – und das macht ihm offensichtlich Spaß. Wie soll man denn ohne Widerspruch seine Behauptung hinnehmen, die Ausdrucksfähigkeit sei »geradezu mathematisch streng eine Funktion der Leidensfähigkeit«. Das ist eine kühne, eine geradezu aparte These. Aber ich halte sie für falsch, ja für beinahe indiskutabel. Denn es gibt viele Menschen, Frauen zumal, zu deren hervorstechendsten Eigenschaften eben die Leidensfähigkeit gehört. Nur ist es ihnen meist nicht gegeben, diese Leiden auszudrücken. Vielleicht ist die Lektüre seiner Essays so reizvoll und anregend, so verführerisch und so amüsant, weil Walser, mit welchen Themen er sich auch beschäftigen mag, kein Risiko fürchtet: Er liebt das Spiel mit Gedanken und Formulierungen, mit Einfällen aller Art – wenn sie nicht abgesichert sind. Es bereitet ihm Vergnügen, sich immer wieder auszusetzen – der Kritik seiner Gegner und dem Spott seiner Neider, der Dummheit seiner Feinde und den Angriffen seiner Konkurrenten. Was immer er schreibt – er arbeitet ohne Netz. Daß er einer der gescheitesten deutschen Schriftsteller nach 1945 ist, wurde schon oft gesagt. Aber man sollte hinzufügen: Er ist auch einer der mutigsten.

Man hat ihn einen Chronisten der Bundesrepublik genannt. Das ist nicht ganz richtig: Um ein Chronist zu sein, hat er zuviel Temperament und zuwenig Geduld. Gleichwohl ist der Zeitgeist in seinen Arbeiten unverkennbar, er ist stets gegenwärtig. Aber Walser hat keine Moden mitgemacht und wohl auch keine Moden geschaffen. Doch hat er, auf unsere Epoche punktuell reagierend, den Zeitgeist wie kaum ein anderer mitgeprägt. Als die Vereinigung der beiden deutschen Staaten noch nicht in Sicht war, als niemand, auch nicht der Schreiber dieser Zeilen, an sie glaubte oder sie sich vorstellen konnte, da hat Martin Walser unermüdlich von ihr gesprochen und geschrieben, er hat sie angestrebt, er hat mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln auf sie hingearbeitet. Das sollte man nie vergessen.

Zur Qualität seiner Prosa, zumal der essayistischen, trägt noch ein Umstand ganz anderer Art bei. Befragt nach seiner Arbeitsweise, gab Alfred Döblin – es war 1928 – die erstaunliche Antwort: »Ich schreibe rasch und glatt. Zögern bedeutet eine Hemmung. Schwäche der Eingebung, nicht volle Hingegebenheit … Vieles korrigiere ich gar nicht, weil ich festgestellt habe: der erste Fluß war schon gut.« Sollte dies auch für Walser gelten?

In der Tat schreibt er nicht nur schön und geistreich, sondern bisweilen – so will es jedenfalls scheinen – auch sorglos, ja sogar nachlässig. In einem der Essays seines Bandes Vormittag eines Schriftstellers ist mir ein interessanter Satz aufgefallen: »Was ich lesend erlebe bei Gogol, Dostojewski, Flaubert und Robert Walser, ist nicht die Bedeutung des Textes und nicht dessen Sinn; mich erlebe ich als jemanden, der vom Text nicht per Bedeutung, sondern sozusagen materiell bewegt wird.«

Was heißt das denn – sich erleben als jemanden, der vom Text nicht per Bedeutung, sondern sozusagen materiell bewegt wird? Ich kann es mir, zur Not, denken, ich ahne es. Aber ich verstehe es nicht. Vom Text materiell bewegt – das ist schlecht ausgedrückt. Walser wird es schon wissen, doch statt sich um eine genauere, eine verständlichere, kurz um eine bessere Formulierung zu bemühen, fügt er bloß ein unschönes Wort ein, das, glaube ich, auf sein in dieser Sache schlechtes Gewissen zurückzuführen ist – das Wort »sozusagen«.

Nichts liegt mir ferner, als Walser am Zeug zu flicken. Ob der zitierte Satz mehr oder weniger gelungen ist, darauf kommt es nicht an. Aber er ist typisch für jene Eigenart seines Stils, die sich als Unart auswirken kann, doch häufiger noch als nicht alltägliche Qualität. Denn was zuweilen nachlässig anmutet, zeugt oft von Unmittelbarkeit und Frische. Mehr noch: von Spontaneität und Souveränität. Walser erweckt den Eindruck, als könne er schreiben, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Das ist ungewöhnlich, das hat geradezu Seltenheitswert. Ob dies mit der Nähe zum Dialekt zu tun hat?

Wie auch immer: Die Sprache ist es, die den Schriftsteller Walser, ob er uns ein besseres oder ein schlechteres Buch beschert, so vertrauenswürdig macht. Die Anschaulichkeit des Ausdrucks wird selbst dann, wenn er seinen Kritikern antwortet – und das ist immer ein heikles Unterfangen – nicht beeinträchtigt. Nichts ist verständlicher als das Bedürfnis vieler Autoren, dem Kritiker heimzuzahlen. Günter Grass tut es eher selten (wenn ihm der Kragen platzt), Siegfried Lenz niemals (das Leiden an der Kritik macht er mit sich selber aus), Martin Walser immer wieder – und das hängt wohl mit seinem (übrigens höchst sympathischen) Temperament zusammen. Es hindert ihn, die Hiebe der Kritik schweigend hinzunehmen.

Ich kann mich nicht beklagen: Auf meine Äußerungen über seine Bücher reagiert er mit großer Regelmäßigkeit. Ich werde mich hüten, Walsers Erwiderungen nun meinerseits zu kommentieren. Nur soviel: Er hat mich oft amüsiert, mitunter betrübt, nie verletzt und gelegentlich verblüfft. Warum verblüfft? Ich will ein Beispiel geben, ein besonders charakteristisches.

Er habe die Erfahrung gemacht, sagte Walser in einem Interview, »daß jeder Leser sein Buch liest und nicht mein Buch. Jeder Leser schreibt sein Buch beim Lesen.« Das Aperçu läßt sich auf Kritiken anwenden: Auch sie werden oft mißverstanden, jedenfalls anders aufgefaßt, als sie gemeint waren, manche Leser finden in ihnen eben das, was sie erwartet haben – und manche Autoren ebenfalls. Natürlich muß jeder, der über Bücher schreibt, damit rechnen; immerhin kann er dem in Grenzen entgegenwirken, indem er hartnäckig maximale Klarheit anstrebt und sich bisweilen an den Wunsch des Mephisto hält: »Du mußt es dreimal sagen.«

Walser Roman Ohne einander habe ich, wie in diesem Band nachzulesen ist, skeptisch gesehen, dies und jenes glaubte ich beanstanden zu müssen. Aber in dem Buch schien mir auch vieles gut, ja sehr gut. Das Positive, das war sicher, durfte in meiner Kritik auf keinen Fall zu knapp geraten. Er sei, hieß es da, einer der intelligentesten Essayisten, der scharfsinnigsten Bürger und der originellsten Intellektuellen weit und breit. Ich zitierte einige schöne Passagen des Romans und erklärte mit aller Entschiedenheit: »So kann in Deutschland nur einer schreiben.«

Daß Walser meine Einwände, sogar die schüchternsten und vorsichtigsten, für überflüssig, wenn nicht empörend hielt, versteht sich von selbst. Aber er verkündete auch, diese Mischung aus Lob und Tadel sei ihm bestens bekannt: »Das ist die Technik des Westerns: Die prügeln einander, dann geht der eine zu Boden und wird mit Wasser überschüttet, daß er noch eine Runde durchstehen kann. So schüttet Reich-Ranicki immer wieder Kübel Wasser. Denn wenn er einen wegwischen würde…, dann hätte er ja beim nächsten Mal kein Opfer mehr. Das ist auch eine Art Katzeninstinkt den Mäusen gegenüber …«

Das mag scherzhaft klingen, gleichwohl ist es mit Sicherheit ernst gemeint. Glaubt Walser wirklich, ich möchte ihn »wegwischen«, also vernichten – und tue es nur deshalb nicht, weil ich weiterhin ein Opfer brauche? Ich gebe zu, ich kann es nicht fassen. Daß einer, der sich, wie Walser, für alles, was er tut, voll und ganz engagiert, auch auf die geringsten Beanstandungen heftig und gereizt reagiert – wen könnte dies wundern? Wer vom Schriftsteller gesteigerte Empfindlichkeit erwartet, der muß in Kauf nehmen, daß dessen Empfindlichkeit der Kritik gegenüber ebenfalls ungewöhnlich ist. Aber daß ein Autor, der meint, ein Kritiker behandle ihn ungerecht oder gar gemein, sich in der Rolle der Maus sieht, die von der Katze verfolgt wird, daß er glaubt, der Kritiker wolle ihn vernichten und tue es nur deshalb nicht, weil er weiterhin ein Opfer braucht – das habe ich resigniert zur Kenntnis genommen.

Im selben Boot sitzend, haben wir, die Schriftsteller und die Kritiker, das gleiche im Sinn – die Literatur. Doch sind es offenbar sehr unterschiedliche Gedanken, von denen sich die einen und die anderen bewegen und irritieren lassen. Die Antwort auf die Frage, wer von der Literatur mehr verstehe als die Schriftsteller, kann, ja muß sogar lauten: niemand. Und doch fehlt ihnen jene Distanz, die nötig ist, um Literatur zu beurteilen. Dies hat Friedrich Schlegel gemeint, als er schrieb, Goethe sei zu sehr Dichter, um Kunstkenner zu sein.

Aber unter Martin Walsers Reaktionen auf meine Kritiken seiner Bücher habe ich zugleich(auch in einem Interview) eine ganz andere Äußerung gefunden: »Reich-Ranicki kann sagen, was er will, er ist immer hilfreich. Verreißt er ein Buch, kaufen’s die Leute erst recht. Lobt er’s, kaufen sie’s trotzdem. So sind wir zum Glück eine blühende Symbiose.« Das ist bare Ironie, natürlich. Dennoch haben mich diese Sätze gerührt. In ihnen ist, bilde ich mir im Stillen ein, vielleicht doch ein Körnchen Wahrheit verborgen.

Anmerkungen der Redaktion: Der Beitrag ist eine etwas gekürzte Fassung von Marcel Reich-Ranickis Nachwort zu seiner 1994 im Ammann Verlag erschienenen und jetzt zunächst als Sonderausgabe von literaturkritik.de neu aufgelegten Aufsatzsammlung über Martin Walser. Sie erscheint aus Anlass seines 90. Geburtstags. Wir danken André Ranicki für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung.