Thrakische Lektionen
Kapka Kassabova bereist in „Die letzte Grenze“ eine Landschaft am Rand Europas
Von Daniel Henseler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAls Kind mochte ich Karten und Atlanten. Mit ihrer Hilfe habe ich gelernt, wie die Länder und ihre Hauptstädte heißen, welche Umrisse die Staaten haben und wo sie liegen. Dieses Steckenpferd diente auch ein wenig als Ersatz für das Reisen, das in unserer Familie nicht ohne Weiteres möglich war. Gewöhnlich war auf der Karte jedes Land anders eingefärbt, so auch Bulgarien, Griechenland und die Türkei. Damals, in den1980er Jahren, herrschte in Bulgarien noch ein kommunistisches Regime, und an der Grenze zu seinen südlichen Nachbarn befand sich der Eiserne Vorhang. Betrachtet man lediglich den Verlauf der Grenzen, so hat sich in diesem Teil des europäischen Kontinents seitdem scheinbar nichts geändert. Könnte man meinen!
Karten prägen unsere Wahrnehmung der Welt entscheidend mit. Die bulgarische Schriftstellerin Kapka Kassabova weiß um unsere mind maps, wenn sie die Grenzregion zwischen den drei Ländern erkundet, „wo etwas wie Europa beginnt und etwas endet, das nicht ganz Asien ist“. Selbst wenn die Staaten auf den Karten auch jetzt noch verschiedene Farben aufweisen, bedeutet das nicht, dass die Differenzen zwischen ihnen immer so deutlich zu spüren sind. Und obwohl die Grenzen mitunter über lange Zeit Bestand haben, kann sich zwischenzeitlich etwas ändern: Die Grenzen werden durchlässiger, oder im Gegenteil, sie verfestigen sich.
Kapka Kassabova, die vorwiegend auf Englisch schreibt, hat mit Die letzte Grenze ein wunderbares Reisebuch vorgelegt. Sie entführt uns darin in eine Region am Rand Europas, von der viele Menschen aus der Mitte des Kontinents nur wenig wissen: Nach Thrakien, wo Griechenland, Bulgarien und die Türkei aneinanderstoßen. Kassabova betreibt denn auch zunächst einmal Aufklärungsarbeit im allerbesten Sinn: Es gelingt ihr vorzüglich, den Leserinnen und Lesern Geschichte und Gegenwart dieses Landstrichs näher zu bringen. Dabei lässt die Autorin uns immer wieder an menschlichen Einzelschicksalen teilhaben, die meist gleichzeitig für überindividuelle Erfahrungen stehen. Kassabovas thrakische Lektionen sind mannigfaltig und lehrreich.
Kapka Kassabova stammt selbst aus Bulgarien, hat das Land allerdings in jungen Jahren mit ihren Eltern verlassen. Geblieben sind manche Erinnerungen an ihre Kindheit im Heimatland. Darunter ist auch so etwas wie eine Urszene, mit der das Buch einsetzt: Als 10-jährige verbrachte Kapka die Ferien mit ihren Eltern an der bulgarischen Küste. Dort verguckte sie sich in einen blonden Jungen aus der DDR. Aus dieser zarten Sommerromanze wurde freilich nichts – alle reisten wieder ab, ohne sich wirklich begegnet zu sein. Später erfuhr Kassabova, dass dies keine unbelastete Region war, denn nicht weit vom Badestrand entfernt versuchten in jenen Jahren viele Bürger des Ostblocks, illegal die Grenze zur Türkei zu überschreiten, um von der kommunistischen in die „freie“ Welt zu gelangen. Manche haben es geschafft, die meisten aber wurden von Grenzwächtern erschossen oder gefasst und für viele Jahre ins Gefängnis gesteckt. Unter ihnen waren neben Bulgaren auch zahlreiche Ostdeutsche oder Tschechoslowaken. Damals ging das Gerücht um, die Grenze zwischen Bulgarien und der Türkei sei überwindbar.
Der Eiserne Vorhang ist schon lange verschwunden. Die mittlerweile erwachsene Kassabova hat sich in jüngster Zeit aufgemacht, die europäische Peripherie zu erkunden. In den vier Kapiteln ihres Buchs erzählt sie der Reihe nach vom Strandscha-Gebirge an der bulgarisch-türkischen Grenze, von Westthrakien in der Türkei, vom Rhodopengebirge in Bulgarien und Griechenland und schließlich noch einmal von der Strandscha am Schwarzen Meer. Insgesamt fasst die Autorin mehrere Reisen zusammen, die sich etwa über zwei Jahre verteilen. Dass Kassabova dabei unerwartet mit der Flüchtlingskrise von 2015 konfrontiert worden ist, hat ihren Aufzeichnungen zwar zusätzliche Brisanz verliehen, für den südlichen Balkan war das jedoch kein neues Phänomen: In der Vergangenheit war die Region wiederholt Schauplatz von Vertreibungen und Migrationsströmen gewesen.
Auf überzeugende Weise schafft es die Autorin, die Tagesaktualität mit einer historischen Perspektive zu verbinden. Hier liegt eine der Stärken des Buchs: Kassabova gelingen Beobachtungen und Einsichten, die sich wohltuend von der Erregtheit des Tagesjournalismus mit seinen breaking news abheben. Fast alle Einheimischen haben zum Thema Flucht selber Erschütterndes zu berichten, wenn sie die Geschichte ihrer Vorfahren erzählen. So wurden beim so genannten „Bevölkerungstausch“ als Folge des Lausanner Vertrags von 1923 Griechen aus Anatolien und Türken aus Griechenland in ihre neuen „Vaterländer“ umgesiedelt. Und noch kurz vor dem Ende der kommunistischen Herrschaft hat Bulgarien versucht, seine türkischstämmige Minderheit loszuwerden – über 300.000 Menschen wurden vertrieben. Dies – und manches mehr – ist in der Erinnerung der Bevölkerung immer gegenwärtig. Es ist eindrucksvoll zu verfolgen, wie die Ortsansässigen nun auf die Syrer oder Kurden reagieren, die sich nach Norden durchschlagen wollen. Die Geschichte scheint sich zu wiederholen.
Es ist unmöglich, alle Themen auch nur zu erwähnen, die in Kapka Kassabovas Reisebericht ihren Niederschlag finden. Man kann aber doch vier Bereiche identifizieren: Die Natur Thrakiens, dessen Geschichte, das Leben an und mit den Grenzen sowie schließlich die Einheimischen selbst – mit ihren individuellen und kollektiven Schicksalen. Auch wenn das zunächst recht abstrakt klingt, könnte man es auf einer poetischen Ebene vielleicht so angehen: Die Schriftstellerin erzählt von den vier Elementen Erde, Wasser, Luft und Feuer. Sie streift durch Gebirge, Höhlen und Ebenen und erforscht Grenzflüsse und Heilquellen. Sie erlebt den „weißen Wind“, der Thrakien bisweilen in ein milchiges Licht taucht, und lässt sich von Geistern berichten, mit denen die Menschen hier immer gelebt haben und noch leben. Kassabova begegnet den bulgarischen „nestinari“, Feueranbetern, die auf glühenden Kohlen tanzen. Sie erfährt von feuerspeienden Drachen und besucht einen alten Leuchtturm am Schwarzen Meer.
Archäologie, Anthropologie, Historie, Volkskunde, Ideologie, Religion und Mystik – das alles wird in diesem Buch thematisiert. Das Leitmotiv, zu dem die Autorin immer wieder zurückkehrt, sind aber die Grenzen mit all dem, was sie mit sich bringen. Die Menschen mussten stets einen Umgang mit ihnen finden. So begegnen wir bei Kassabova nicht nur Vertriebenen und Umgesiedelten, Republikflüchtigen, Exilanten und Heimwehgeplagten. Wir treffen auch auf Zollbeamte, Schatzjäger, Schmuggler oder Schlepper.
Die deutsche Übersetzung überzeugt leider nicht. Das Englische des Originals ist poetisch; selbst dann, wenn es um die tragischen Momente der Geschichte geht. Es ist eben diese Sprache, die Kassabovas Buch so angenehm von anderen Reisebeschreibungen abhebt. Davon ist in der spröden deutschen Fassung nur wenig übrig geblieben. Teilweise wurde auch nachlässig übersetzt: „multiple Belgians“ sind wohl nicht „multiple Belgier“, sondern „zahlreiche“, und „depressive Bulgarians“ sind – wenn es um die Wirtschaft geht – nicht „depressive Bulgaren“, sondern „Bulgaren, die unter der Wirtschaftskrise leiden“. Ärgerlich ist auch, dass bei den Übersetzungen vor allem der bulgarischen Orts- und Personennamen sowie weiterer Begriffe Wildwuchs herrscht: Manchmal wurden sie korrekt der deutschen Aussprache angepasst – offenbar dann, wenn es dazu einen Wikipedia-Eintrag gibt. Meist wurden sie aber in der englischen Schreibweise belassen. Das ist inkonsequent. Als Beispiel für den verunglückten, sperrigen Stil und Satzbau mag folgende Stelle genügen:
Um die Wende zum 20. Jahrhundert hob der russische Mikrobiologe Ilja Meschnikow, ein Pionier auf seinem Gebiet, nachdem er Bauern in Dörfern in den Rhodopen, wo man ewig lebte, beobachtet hatte, die mandras und die ledernen Satteltaschen, in denen Milch auf dem Rücken von Maultieren über die Berge transportiert wurde, als Schlüssel zur bemerkenswerten Langlebigkeit der Einheimischen hervor.
Hier ist jegliche Poesie verlorengegangen. Außerdem hieß der erwähnte Wissenschaftler „Metschnikow“, nicht „Meschnikow“. Man könnte gnädig darüber hinwegsehen, wenn es nicht auch ein wenig symptomatisch wäre: Wir verhalten uns der europäischen Peripherie gegenüber nachlässig, vielleicht sogar herablassend. Dabei bezweckt Kapka Kassabova doch gerade das Gegenteil: Ihr Reisebericht ist ein aufklärerisches Projekt, er soll unser Wissen erweitern und unseren Blick schärfen. Thrakien mag in geographischer Hinsicht am Rand Europas liegen. Aber mit seiner Geschichte und seinen Erfahrungen ist es mitten unter uns. Die letzte Welt ist ein instruktives, bereicherndes und beglückendes Buch. Es sollte zur Pflichtlektüre für alle diejenigen werden, die sich für Europäer halten. Wer kann, sollte das Buch allerdings besser im englischen Original lesen: Border. A Journey to the Edge of Europe.
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