Die Ohren auf den Schienen der Lyrikgeschichte

„The Poets’ Collection“ bietet Highlights englischsprachiger Dichtung der vergangenen 130 Jahre

Von Maximilian MengeringhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maximilian Mengeringhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

So selbstverständlich es heutzutage als lingua franca unter den Poesiesprachen gelesen und gehört wird, so war der Stellenwert des Englischen zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch ein anderer. Eine spezifisch als modern begriffene Lyrik, die sich zur Mitte des 19. Jahrhunderts allmählich herausbildete und immer häufiger mit traditionell verbindlichen Form- und Sprachkonventionen brach, galt – nicht aus den schlechtesten Gründen – lange Zeit vor allem als Errungenschaft der französischen Dichtung. Charles Baudelaire, Arthur Rimbaud und Stéphane Mallarmé – sie stellten unangefochten die Gründervätertrias des modernen Gedichts dar, und dies wohl nicht nur für den Freiburger Romanisten Hugo Friedrich, dessen Studie Die Struktur der Lyrik seit ihrem Erscheinen 1956 ungebrochenen Einfluss genießt. Der Name eines anderen großen Innovators, nämlich der Walt Whitmans, fällt in Friedrichs Monographie lediglich ein einziges Mal und das auch nur am Rande, in einem Kapitel zum französischschreibenden Nobelpreisträger von 1960, Saint-John Perse, dessen Enthusiasmus von fern an Whitman erinnere.

Dabei lässt sich beginnend mit den Gedichten Walt Whitmans durchaus ein in seiner Wirkmacht zumindest ebenbürtiger Hauptstrang der Geschichte der modernen Lyrik, der englischsprachige eben, erzählen. Whitmans erste Leaves of Grass erschienen 1855, zwei Jahre vor Baudelaires Buchausgabe der Fleurs du mal. Die Unterschiede der beiden Hauptwerke, abgesehen von der Tatsache, dass es sich bei beiden um nahezu megalomane lyrische Großprojekte handelt, könnten größer nicht sein. Wo Baudelaire den lyrischen Bildbereich nachhaltig morbidisierte, Verfall und Ennui endgültig zu legitimen poetischen Sujets erhob und das Bild vom Dichter als kühl operierendem Arbeiter am Sprachmaterial prägte, wirkte Whitman ihm poetologisch gesehen genau entgegen: Das Gedicht ist die Stimme des Dichters – lebensbejahend, feurig und kraftvoll. Dass von Whitmans eigener Stimme eine Tonbandaufnahme erhalten ist, abgenommen wahrscheinlich von Thomas Edison höchstpersönlich, darf als medienhistorischer Glücksfall gelten.

Nachzuhören ist sie auf der ersten der 13 CDs umfassenden Anthologie The Poets’ Collection, die in einer schick in Grau und Orange designten Box und mit detailreichem Booklet versehen im Hörverlag erschienen ist. Die Herausgeber Christiane Collorio und Michael Krüger, die gemeinsam bereits eine kanonische Hörauswahl deutschsprachiger Gedichte verantworteten, haben 94 Stimmen der englischsprachigen Lyrik im O-Ton der Dichter versammelt. Die frühesten, wie die Lesung Whitmans, stammen aus dem Jahr 1889, die jüngsten sind 2016 aufgenommen worden. Nahezu 15 Stunden Lyriklesung stehen zu Buche, werden die Übersetzungen der Texte ins Deutsche mitgezählt, die zum Teil eigens für die Edition entstanden sind – andere stammen noch aus der Feder Fontanes – und von renommierten Schauspielern, aber auch profilierten Übersetzern wie Mirko Bonné, Jürgen Brôcan und Barbara Köhler eingesprochen wurden. Mit The Poets’ Collection steht ein Sammelsurium parat, das ein Füllhorn an Möglichkeiten offeriert, die verschiedensten Rezeptionslinien kreuz und quer durch die englischsprachige Lyrikgeschichte zu ziehen.

Was die Edition auszeichnet, ist, dass sie sich stets gegen den Strich vermeintlich vorgezeichneter Bahnen der Lyrikgeschichte lesen lässt und dabei auch manchen Gemeinplatz erfolgreich umkurvt. Die eine Geschichte der englischsprachigen Dichtung existiert nicht, vielmehr besteht diese Geschichte aus einer Vielzahl an Geschichten: Im makrologischen Sinne jenen des Kolonialismus, denn die englischsprachige Dichtung kommt ebenso aus den USA wie Kanada, aus Großbritannien, Irland, Australien und der Karibik. Vielgestaltiger noch wird das Panorama, wendet man sich den Lebensgeschichten der Dichter selbst zu, die im Zuge von gewähltem oder erzwungenem Exil, wie im Falle Charles Simics oder Joseph Brodskys, sich der Wahl- und eben nicht Muttersprache Englisch für ihre Dichtungen annehmen.

Gerade weil es sich zweifelsohne um ein Projekt der Kanonisierung handelt, wie es nicht anders von gedruckten Anthologien her bekannt ist, stellen sich naturgemäß alle etwaigen Problematiken von Kanonisierungsverfahren und -zementierung auch für The Poets’ Collection. So scheint das Urteil über ältere Texte verstorbener Granden weitaus sicherer im Sattel zu sitzen als jenes über die Gedichte jüngeren Datums. Obwohl die Menge auswertbaren Audiomaterials bei einem Dichter wie John Burnside sicherlich die Aufzeichnungsbestände Elizabeth Bishops oder Philip Larkins um ein Vielfaches übertrifft, sind die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geborenen Autoren eindeutig in der Minderheit: Entsprechend sind manche CDs Dichtern ein und desselben Jahrgangs verschrieben, so den 1926ern (denen sogar noch einige Namen hinzuzufügen wären), wohingegen jene die Anthologie beschließende Disc, die sich in die lyrische Produktion der unmittelbaren Gegenwart vorrobbt, über zwei Dekaden an Geburtsjahren zwischen 1941 und 1963 zusammenfasst. Wo es hingegen Entscheidungsspielraum bei der Frage gegeben hat, welche Lesungen eines Autors für die Kompilation ausgewählt werden, haben die Herausgeber durchaus in Kauf genommen, Erwartungshaltungen zu durchkreuzen. Ein gutes, erfrischendes Beispiel ist in diesem Fall Ezra Pound: Hier wurde wohl bewusst auf die gut bekannten Aufnahmen der Usura-Cantos oder auch von Canto LXXXI („What thou lovest well remains…“) zugunsten zweier eher unbekannter Cantos, III und XLIX, verzichtet. Man kann bekritteln, dass bei Pound leider kein frühes Gedicht in die Auswahl miteinbezogen wurde; von Sestina: Altaforte existiert eine voranpreschende, für den deklamatorischen Vortragsstil der Zeit aufschlussreiche Aufnahme. Fehlen wird stets etwas, einzelne Dichter wie Charles Olson oder John Berryman zum Beispiel, das liegt in der Natur der Auswahl. Michael Krüger selbst macht in seinem Vorwort darauf aufmerksam, dass „von den Englisch schreibenden Afrikanern“ Aufnahmen fehlen, dass man auch „den bedeutenden Dichter auf Jamaika“ übersehen haben könnte. Wenn Anthologien ein Stein des Anstoßes zu weiterer Beschäftigung sein sollen, kommt hier hoffentlich etwas ins Rollen.

Im Rahmen der Auswahl, auf deren Wiedergabe man sich geeinigt hat, herrscht hingegen Vielfalt. Neben Liebesgedichten und Rollenlyrik – mit Robert Browning, einem Zeitgenossen Whitmans, ist diesbezüglich ein weiterer Stichwortgeber der Moderne vertreten – finden sich auch politische Philippiken wie Archibald MacLeishs The Spanish Lie im Repertoire. Darüber hinaus bieten die verschiedenen Aufnahmesituationen, wie bei Hemingway in einem Café (ohne dieses besondere Setting wäre der Text gut verzichtbar gewesen), in Kongresshallen oder – fingiert? – auf einem Tenniscourt, wie im Falle von Roger McGoughs Love, willkommene Abwechslung. Die allermeisten O-Töne sind ohnehin über jeden Zweifel erhaben: So unterschiedlich Gertrude Stein, Dylan Thomas oder Robert Creeley ihre Texte selbst gelesen interpretierten – bei allen bleibt einem lauschend die Spucke weg. Beizeiten bewerkstelligen das auch die deutschen Übersetzungen, wie wenn Hanns Zischler mit James Joyces Anna Livia Plurabelle loslegt. En gros machen die deutschsprachigen Stimmen vieles richtig und werden gut eingesetzt: Les Murrays Bats’ Ultrasound wird im Deutschen, von der Schauspielerin Bibiana Beglau gelesen, zwar das Schalkhafte leicht genommen, die Anatomie von Tier und Gedicht aber kommt durch die präzise Betonung gestochen schärfer zum Ausdruck. Dass Michael Krüger als Herausgeber derweil insgesamt 21 der 94 Dichter in ihrer Übersetzung liest, mag von seinem Spaß an der Sache zeugen, ist vielleicht aber auch ein bisschen viel des Guten. Nicht, weil Krüger seine Sache als Vorleser schlecht macht, bei den meisten von ihm gelesenen Autoren ist Anerkennung für und ein tieferes Verständnis von deren Werk herauszuhören – nicht wenige hat er als Verleger seinerzeit selbst im Hanser Verlag veröffentlicht –, sondern weil die Stimmvielfalt durch seine breitgestreute Präsenz eingeschränkt wird.

Mit The Poets’ Collection liegt ein buntes Knäuel an Leitfäden der englischsprachigen Lyrik der Moderne vor, das zum Ein- und Wiederhören einlädt. In Zeiten – man darf dankbar für sie sein –, wo Online-Plattformen wie PennSound oder Lyrikline immense Archive an O-Ton-Dichterlesungen zusammengetragen haben, liefert die Höranthologie Anspieltipps, die weiterverfolgt werden wollen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Christiane Collorio / Michael Krüger (Hg.): The Poets‘ Collection. Englischsprachige Lyrik im Originalton und in deutscher Übersetzung.
Der Hörverlag, München 2018.
99,00€ EUR.
ISBN-13: 9783844521412

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