Die schwedischen Fab Four

Robert Scotts Buch über das Werk ABBAs ist eine beeindruckende Reise durch das Werk einer nicht weniger faszinierenden Band

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Spricht man von den Fab Four, meint man natürlich die Beatles. In deren Schatten hat sich in den 1970er Jahren in Schweden ein weiteres Quartett gegründet, das den internationalen Pop in ähnlichem Maße prägen würde, wenn auch mit deutlich weniger Kritiker-Wohlwollen versehen. ABBA galten lange Zeit als Inbegriff der seichten Popmusik, des Bubblegum-Pop, der die 70er Jahre verklebt hat mit seinen süßlichen Melodien, seinen unerträglich weichgespülten Texten, den schönen Gesichtern seiner Stars und ihrem albernen Gehopse. Anfang der 90er Jahre gab es dann ein ABBA-Revival, ausgelöst durch eine der ersten international erfolgreichen Coverbands überhaupt, Björn Again, aber auch durch die sehr campige ABBAesque-EP der damals enorm erfolgreichen Sythiepop-Band Erasure sowie durch den bahnbrechenden Erfolg der ersten umfassenden ABBA-Hitkompilation des CD-Zeitalters, ABBA Gold.

Letztere lud dazu ein, sich endlich einmal – zwischen den beliebten Grunge-Platten von Bands wie Nirvana, Pearl Jam oder Alice In Chains, die man damals als seriöser Musikfreund, der sich nicht ganz dem Mainstream entkoppelt hatte eben so hörte – ernsthaft mit dem Oeuvre der Schweden vertraut zu machen, dass man häufig nur von den Mixkassetten der Eltern kannte. Und festzustellen, dass das Songwriting von Benny Andersson und Björn Ulveaus dem von John Lennon und Paul McCartney nur in wenig nachstand.

Und so ist es nur konsequent, dass mit Robert Scotts ABBA: Alle Songs und ihre Geschichten endlich mal ein pophistorisch relevantes, gut recherchiertes, gewitzt geschriebenes und vor allem überraschend objektives Buch auf den Markt gekommen ist. Was bei anderen Musikern, von den Beatles gar nicht zu sprechen, zumindest im englischsprachigen Raum ganz normal ist – nämlich deren Werk im Sinne einer kulturgeschichtlichen Spurensuche zu betrachten – war im Falle von ABBA überfällig. Zumal Scott mit seinen Einschätzungen tatsächlich zur Essenz des Schaffens der Band vorstößt. Dass er dabei durchaus aus der Perspektive, wenn nicht des Fans, so doch der des Bewunderers schreibt, ist in der Popgeschichtsschreibung nichts Ungewöhnliches.

Interessant ist aber, wie er nicht nur auf die naheliegenden Running-Gags eingeht (die schrecklichen Klamotten, die seltsamen Auftritte), sondern auch auf die teilweise scheußliche Musik und die unterirdischen Texte, die sich in den untiefen gerade früher ABBA-Alben nun mal finden. Köstlich etwa, wie er den von Ulveaus gesungenen Track „Does Your Mother Know?“ – einen der wenigen unerträglichen ABBA-Welthits – als sabbernde Altmännerfantasie seziert, die heute aus moralischen Gründen so auf keiner Platte mehr landen würde. Auch mit vielen Songs der Frühphase, gerade mit denen, die in den Untiefen der Alben vergraben sind, geht er nicht gerade pfleglich um.

Diese Kritik beflügelt den Autor jedoch, umso hymnischer von den Meisterwerken zu schwärmen. Seine seitenlange Analyse des großartigen Songs „Super Trouper“ sei hier ebenso genannt wie seine Verbeugung vor dem nicht weniger wunderbaren „The Winner Takes It All“, vor „Knowing Me Knowing You“ oder „The Name Of The Game“. Und wer es noch nicht wusste, lernt eine Menge über die künstlerische Entwicklung der Band, was primär daran liegt, dass Scott sich wie bei jeder ernstzunehmenden Band an den Alben als Meilensteine entlangschreibt und nicht an irgendwelchen populären Ereignissen oder Hitsingles. Und auch wenn Scott letzteres unterlässt, kann man auch hier (wie bei so vielen großen Künstlern) Analogien zum Werk der Beatles finden: Nach dem künstlerischen Befreiungsschlag Arrival, dem Revolver ABBAs sozusagen, folgte mit ABBA – The Album eher der Versuch eines Sgt. Pepper mitsamt Mini-Oper, der leider (trotz „Thank You For The Music“) missglückte. Voulez Vous ist dann eine Art Weißes Album, eine Sammlung an heterogenen Songs, in diesem Fall eine Konzessionsentscheidung in Richtung Disco-Trend, aber auch mit unerträglichem Schmalz („Chiquitita“) gezeichnet, das „Obladi Oblada“ ABBAS, sozusagen. Super Trouper ist dann jedoch die Vollendung der Band, ABBA in Perfektion. Hier ist alles gesagt, nun konnte man abtreten.

Tat man aber nicht, sondern veröffentlichte ein Trennungsalbum wie Let It Be, das den Namen The Visitors trug und reichlich seltsam war. Hier endet die Analogie zu den Beatles, denn The Visitors ist ein düsteres, komplexes Werk, ein Album, das völlig aus dem Rahmen fällt. Nur noch selten drängen die himmlischen Melodien durch, wie etwa auf „Head Over Heels“, das aber auch kein großer Hit mehr wurde. Auch Scott kann die Frage nicht gänzlich klären, wie die Band plötzlich ein solches Album aufnehmen konnte. Aber das gehört zum Mysterium um The Visitors ebenso dazu wie das bedrückende Coverfoto und der seltsame Titel.

Und dann als Nachtrag, auf einer Abschieds-EP (vielleicht hätten das die Beatles auch machen sollen?), das beste Lied, das ABBA jemals geschrieben haben: „The Day Before You Came“, dessen wirklich überzeugenden Text Scott analysiert wie ein klassisches Gedicht. Selbst die verschrobene Progressive -Rock-Legende Peter Hammill sagte einst in einem Interview, „The Day Before You Came“ sei einer der besten Songs, die je geschrieben wurden. Das muss Grund genug sein, mit Hilfe dieses Buches das Werk der künstlerisch unterschätzten Band mal etwas eingängiger zu studieren.

Titelbild

Robert Scott: ABBA. Alle Songs und ihre Geschichten.
Koehler im Maximilian Verlag, Hamburg 2020.
176 Seiten , 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783782213622

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