Die Spy Story als Familiendrama und politischer Roman

John le Carré erzählt Geschichten aus seinem Leben

Von Jochen VogtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Vogt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als britischer Gentleman alter Schule hatte er schon vor einem Jahr „all seinen Fans“ auf der Verlags-Website mitgeteilt, dass er derzeit leider keine persönlichen Zuschriften beantworten könne, da er ganz tief in die Arbeit an seinem „letzten Roman“ vergraben sei. Dies wäre dann der letzte von vierundzwanzig, in denen Mr. David Cornwell alias John le Carré uns seit 1961 die Krisen und Konflikte der Gegenwart erklärt und ganz nebenbei die angestaubte Spy Story als politischen Roman auf ein neues literarisches Niveau gehoben hat.

Manche mögen jetzt, da „ein neuer le Carré“ gleichzeitig auf Englisch und Deutsch erschienen ist, eine Art epische Summe erhofft oder auch einen nostalgischen Abgesang erwartet haben. Dies Buch ist nun aber keins von beiden, oder nur von jedem ein bisschen. Vor allem kein Roman – sondern ein „Strauß“, wie man früher wohl gesagt hätte, persönlicher Erinnerungen, „Memoiren“ im Wortsinn: „Geschichten aus meinem Leben“ und aus mehr als fünfzig Jahren Schreibarbeit, die le Carré zu einem der weltweit bekanntesten und, wie er ohne falsche Scham erwähnt, auch bestverdienenden Autoren der Gegenwartsliteratur gemacht hat.

Ungleich nach Umfang, Gewicht und Tonart sind diese 35 Kapitel, annähernd chronologisch, aber sehr locker aneinander gereiht. Von Episoden aus Familiengeschichte, Studium und der kurzen Laufbahn als diplomatischer Spion über allerlei Anekdoten und Slapstick-Szenen aus dem Literatur- und Filmbetrieb bis zu historisch-politischen Skizzen und freundschaftlichen Nachrufen reicht das Spektrum. Diese offene Form kann le Carré sich leisten, weil die meisten Leser/innen einige seiner Romane kennen dürften. Auch hat er – durchaus ein „Stratege im Literaturkampf“ (so einst Walter Benjamin) – die Anfertigung einer faktengesättigten Biografie längst delegiert; sie ist mit seinem Wohlwollen, seiner Kooperation und dem Untertitel „The Biography“ vom einschlägig versierten Adam Sisman verfasst worden und 2015 erschienen. Das sind 650 knochentrockene Seiten, nach denen alle, die durchgehalten haben, mit Sicherheit und in allen Einzelheiten wissen, was wir immer schon vermuteten (und der Meister hier oder dort angedeutet hatte). Zum Beispiel, dass er die Erhebung in den Adelsstand oder mindestens einen Orden abgelehnt haben muss (tatsächlich war das 1980). Dabei funktioniert die Arbeitsteilung etwa so: Sisman informiert über Daten und Teilnehmer der vorhergehende Luncheinladung bei Mrs. Thatcher, darf auch das höfliche Ablehnungsschreiben zitieren; der Meister selbst steuert jetzt mit Vergnügen kleine Bösartigkeiten zu den Tischsitten der Eisernen Lady bei.

Grundsätzlich gehören Sismans Biographie wie auch die Memoiren zu le Carrés Strategie einer Selbstkanonisierung als moderner Klassiker – wie zuvor schon der verblüffende Verlagswechsel von seinem Stammhaus Hodder & Stoughton zu Penguin Random House (nur ganz Bösartige sagen: zu Bertelsmann). Schon Sismann verfolgt im Einzelnen, wie le Carré bei wachsendem Erfolg Verlage und Agenten wechselt, nicht nur dem Lockruf des Geldes folgend, sondern auch in Sorge um seinen Ort im literarischen Feld. Er möchte, wie seine Scharmützel mit einigen Kritikern zeigen, nicht nur als Genreautor (und sei es der allerbeste), sondern als Romancier schlechthin akzeptiert werden.

Nun aber zurück zum Buch mit dem Titel Der Taubentunnel, der auch nach seiner Erläuterung ein wenig rätselhaft bleibt: Es handele sich da um den dunklen Mauer-Durchschlupf, durch den Tauben geschickt werden, um draußen „sportlich“ abgeschossen zu werden, und in den sie andernfalls „freiwillig“ zurückkehren. Eine Metapher für die Rolle der Geheimdienstler, die in einem Roman auch „Marionetten“ genannt werden? Oder ein quasi-shakespearesches Symbol für das menschliche Schicksal überhaupt?

Wie auch immer, der Erzähler des Verborgenen lüftet den Vorhang – nur ein bisschen. Dass sein kurzzeitigerer Dienst beim MI6 teils banal, teils skurril war – da er Deutsch kann, muss er schon mal die Nachwuchsdiplomaten aus Bonn in den Londoner Puff führen – mag man gerne glauben. Ernsthaft, ja scharf ist hingegen sein Blick auf die frühe Bundesrepublik und die Karrieren wendiger Altnazis, von Globke bis Gehlen, im neuen Westdeutschland. Überhaupt der BND! Auch Dr. August Hanning, der Chef von 1998 bis 2005, der den in Guantanamo gefolterten deutschen Bürger Murat Kurnaz lieber in die Türkei verfrachtet hätte als heim nach Bremen (le Carré hat eigene Gespräche mit Kurnaz im „Marionetten“-Roman 2008 verarbeitet), und der noch in der NSU-Affäre dubiose Äußerungen von sich gab, wird vom bestens informierten englischen Besucher in Pullach mit höflichem Moralismus abgefertigt.

All dies darf man nicht missverstehen, es ist nur die Kehrseite einer – unter Briten völlig ungewöhnlichen – Zuneigung zur deutschen Kultur. David Cornwells Studium der Germanistik in Bern um 1950 ist ebenso bekannt wie seine frühe Verehrung Thomas Manns, dem er dort einmal backstage begegnet, was in einem legendären Dialog endet: „Was wünschen Sie, junger Mann?“ „Ich würde gern Ihre Hand drücken.“ „Hier ist sie!“ Ein halbes Jahrhundert später sieht der britische Autor die „völlige Hingabe an die deutsche Literatur“ als sein entscheidendes ‚Bildungserlebnis’, ganz in Goethes Sinn, „und das zu einer Zeit, als für viele Menschen schon allein das Wort Deutsch ein Synonym für das Böse an sich war“.

Der Reportage nah sind einige Kapitel, die uns an die hot spots der letzten Jahrzehnte führen: nach Palästina und Beirut, nach Vietnam, nach Moskau und (fast auch) in den Kaukasus, nach Kenia, Ruanda und in den Kongo – und von der intensiven, auch gefährlichen Recherchearbeit des Siebzigjährigen berichten, die den späteren Romanen aus der Ära der Neuen Unübersichtlichkeit mehr Welthaltigkeit und Farbe verleiht als der frühen Kalten-Kriegs-Saga, die irgendwann im Grau-in-Grau erstarrte.

Erst spät, so scheint es zunächst, wagt der Memoirenschreiber sich an sein ganz persönliches Heart of Darkness, das traumatische Zentrum seiner Lebensgeschichte, also: die fast unglaubliche Beziehung zu seinem Vater. Ronald Cornwell, genannt Ronnie, ein Ausbund an Charme, ja Charisma wie an krimineller Energie, war ein Tausendsassa und Hochstapler, ein fast schon global operierender und mehrfach verurteilter Immobilienbetrüger, der alle, die ihn umgaben (seine Ehefrau, die Söhne, seine „Lovelies“ und den ganzen „Hofstaat“ von gutgläubigen Freunden) lebenslang erbarmungslos erpresste und ausbeutete. Und dies nicht nur finanziell, sondern – zumindest für David schlimmer – auch emotional. Vom Vater habe er seit Kinderjahren das Spionieren und Täuschen, das Verbergen und Lügen gelernt, wird er später schreiben. So jedenfalls stand es schon 2002 im New Yorker; und nun bewährt sich erneut die Arbeitsteilung mit Sisman, der Ronnies kriminelle Streifzüge samt Gefängnisstrafen in verschiedenen Ländern, minutiös ausbreitet. In einem Roman würde man all dies für völlig überdreht halten – das Vaterbild, das John le Carré in seinem Roman „Ein blendender Spion“ von 1986 zeichnet, ist denn auch sehr viel milder. Er selbst hat von der befreienden, ja therapeutischen Wirkung dieser Arbeit gesprochen, manche Kritiker halten das Buch für sein bestes, der amerikanischer Kollege Philip Roth gar für den „besten englischen Roman nach dem Krieg“.

Kurzes Fazit: Für le Carré-Leser/innen, Fans und Kenner sind diese Memoiren unterhaltsam wie das unverhoffte Wiedersehn mit einem guten alten Bekannten, vor allem wegen des persönlichen Tons; auch mag es zum Wiederlesen dieses oder jenes Romans anregen. Als Einführung ins Gesamtwerk ist es weniger geeignet. Aber die ist ja auch nicht nötig, wo jeder seiner Romane doch für sich spricht. Und überhaupt: Uns bleibt ja noch die aktuelle Verheißung der Website; aufgerufen am 16. August 2016: „Mr. John le Carré steckt zur Zeit so tief in der Arbeit an seinem letzten Roman, dass es ihm nicht möglich ist, auf persönliche Anfragen zu antworten. Dafür bittet er um Entschuldigung und möchte all seinen Fans für Ihre Unterstützung Dank sagen.“

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

John le Carré: Der Taubentunnel. Geschichten aus meinem Leben.
Aus dem Englischen übersetzt von Peter Torberg.
Ullstein Verlag, Berlin 2016.
384 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783550080739

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch