Dieses verdammte Leben
Han Kangs Roman „Menschenwerk“ erzählt anhand eines vergessenen Massakers von der Last, ein Mensch zu sein
Von Charlotte Neuhauss
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseBlutrünstige Träume, sexuelle Übergriffe, ein Selbstmordversuch vor versammelter Familie – das sind Szenen aus Han Kangs Debütroman Die Vegetarierin, der 2016 als literarische Sensation gefeiert und mit dem Man Booker International Prize ausgezeichnet wurde. Bereits hier ist die Gewalt allgegenwärtig und kann als direkte Antwort auf den Ablösungsprozess der jungen Protagonistin Yong-Hye verstanden werden, die sich zunächst weigert, Fleisch zu essen, und das Essen schließlich ganz einstellt, da sie sich entschieden hat, eine Pflanze zu werden.
In Kangs neuem Roman Menschenwerk, der diesen September in deutscher Übersetzung erscheint, geht die Autorin noch einen Schritt weiter, indem sie sich nicht länger fiktiver Brutalität widmet, sondern ein reales Massaker in ihrer südkoreanischen Geburtsstadt Gwangju als literarische Vorlage heranzieht. Nachdem am 18. Mai 1980 tausende Studenten und Arbeiter in Gwangju gegen die im Land herrschende Militärdiktatur demonstriert hatten, fielen in den darauffolgenden Tagen hunderte von ihnen der brutalen Verfolgung und Folter der Soldaten zum Opfer. Anhand von sieben Perspektiven versucht Kang, diese Zeitspanne einzufangen und das Unbeschreibliche in Worte zu fassen.
Sie tut das in der Manier, die auch schon für Die Vegetarierin charakteristisch war – mit schonungsloser, fast schon voyeuristischer Akribie. Detailreich werden geschundene Leichen beschrieben, beobachten die Verletzten und Gefolterten den eigenen körperlichen Zerfall. Hier findet sich auch der Bezug zum Fleisch wieder; es wird zum Sinnbild für den anfälligen, schutzlosen Körper, „ein Stück Fleisch in einer Masse von Fleisch“, der den Überlebenden selbst verhasst ist, erinnert er sie doch an die eigene Niederlage und Vergänglichkeit. Zugleich führt er ihnen unablässig vor Augen, dass sie noch am Leben sind, während zahllose Freunde und Mitstreiter den Tod gefunden haben. Eun-Suk, einer jungen Verlagsangestellten, vergeht über dieser Tatsache völlig der Appetit. Beim Essen überkommt sie Scham, und beim Geruch von gegrilltem Fleisch befällt sie heftige Übelkeit. Ihre Verzweiflung geht so weit, dass sie sich wünscht, „dieses verdammte Leben würde keine Sekunde länger dauern als nötig.“ Aus Yong-Hyes Wunsch, sich in eine Pflanze zu verwandeln, wird in Menschenwerk Todessehnsucht – der Wunsch, völlig zu verschwinden.
Überhaupt ist Menschenwerk vor allem ein Buch über die Hinterbliebenen und die Frage, ob und wie man weiterleben kann, nachdem man etwas wie das Massaker von Gwangju überstanden hat. „Ich kämpfe gegen die Schande, überlebt zu haben und immer noch am Leben zu sein. Ich kämpfe gegen die Tatsache, dass ich ein Mensch bin“, so formuliert einer von Kangs Protagonisten den zentralen Konflikt des Romans. Wobei jede der Figuren anders mit dieser Last umgeht. Der eine versucht, sie in Alkohol zu ertränken, der andere stürzt sich in die Suche nach einem Freund, den er insgeheim längst tot weiß. Aber es kommt auch zu kleinen Verzweiflungs- und Widerstandstaten, die beweisen, dass trotz des unermesslichen Leids noch ein Rest Lebenswillen vorhanden ist. So wird Eun-Suk nicht müde, sich bei der Verwaltung über den laufenden Springbrunnen zu beschweren, wo es doch wahrlich „nichts zu feiern gibt“; die Mutter des jungen Dong-Hos wiederum, der von Soldaten erschossen wurde, schließt sich mit anderen trauernden Müttern zusammen und lässt mit lauten Schreien ein Protesttransparent vom Dach des Krankenhauses herab.
Es sind die Unauffälligen, die Widerstand leisten, und sie geben sich dabei gegenseitig Halt. Sie schweigen miteinander in der Zelle, teilen sich trotz größten Hungers mit Würde das wenige Essen und stimmen beim gemeinsamen Prozess trotz rigorosen Sprechverbotes geschlossen die Nationalhymne an. Sie weigern sich, zu Opfern zu werden. Und werden doch zu Opfern der eigenen Erinnerung, kämpfen sie doch gleichzeitig mit dem Wunsch nach Vergessen und dem Bedürfnis, Zeugnis abzulegen – was ihnen wiederum unmöglich erscheint. Dieser Zwiespalt wird besonders eindrücklich aus Seon-Jus Perspektive geschildert, die nicht nur zögert, eine sterbenskranke Freundin im Krankenhaus zu besuchen, aus Furcht, die gemeinsamen Erinnerungen an das Massaker könnten wiederaufleben, sondern auch mit der Entscheidung ringt, ob sie einem Forscher einen dringend benötigten Zeugenbericht zukommen lassen soll. Wie soll sie die passenden Worte finden, um zu beschreiben, was sie durchlitten hat, kann sie nach der ausgedehnten Folter durch die Soldaten doch keine menschliche Berührung mehr ertragen? Ist das überhaupt möglich?
Anhand der politischen Geschehnisse in Gwangju tastet Han Kang somit auf beeindruckende Weise die Grenzen des menschlichen Seins ab. Können sich die brutal mordenden Soldaten unter General Chun Doo-Hwan noch Menschen nennen? Können es die körperlich und seelisch verstümmelten Hinterbliebenen, die sich selbst nur noch als leere Hülle empfinden? Der Mensch erscheint in Kangs neuem Roman noch barbarischer und fragiler als in Die Vegetarierin. Aber er wirkt auch widerspenstiger, zäher. Denn es sind eben nicht Kangs Protagonisten, die sich nach den erlittenen Qualen das Leben nehmen; von Suiziden wird nur berichtet. Die Figuren im Zentrum machen weiter, essen, arbeiten, trauern, leisten im Kleinen Widerstand. Und sorgen somit auf undramatische Weise dafür, dass die Taten der Toten und Überlebenden in Gwangju und überall auf der Welt nicht vergeblich waren. Denn wie es im Roman selbst heißt, hat es „unzählige Gwangjus gegeben, die niedergeschlagen wurden und die dennoch wieder auferstanden sind wie Phönix aus der Asche.“ Genau das tun auch Kangs Charaktere: auferstehen, trotz der starken Sehnsucht nach Tod und Vergessen. Und sie beweisen damit auf untrügliche Weise, dass sie Menschen sind.
Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz
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