Schreiben und persönliche Freiheit

Mit der „Kopenhagen-Trilogie“ erlebt das eindringliche Frauenporträt Tove Ditlevsens eine Renaissance

Von Johanna ItterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johanna Itter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Schreiben heißt sich selbst auszuliefern“, hat Tove Ditlevsen einmal gesagt, „sonst ist es keine Kunst. Man kann das verschleiern, aber letzten Endes schreibt man doch immer über sich selbst.“ Im Feuilleton wird die dänische Autorin allgemein als Vorläuferin von Autorinnen wie Annie Ernaux und Rachel Cusk bezeichnet – Grund dafür ist die ähnliche literarische Selbsterkundung.

Die gerade erschienene Erst- bzw. Neuübersetzung von Ditlevsens Kopenhagen-Trilogie durch Ursel Allenstein macht diese lang unterschätzte Autorin nun zum ersten Mal vollständig erfahrbar. Tove Ditlevsen war zu Lebzeiten vor allem bei einem weiblichen Publikum in ihrem Heimatland literarisch erfolgreich und wird nun, auch international, wiederentdeckt und verstärkt gelesen. Dabei treffen ihre bereits bejahrten Texte den Nerv unserer Zeit, in der autofiktionales Schreiben Hochkonjunktur hat. Während bei anderen AutorInnen, wie etwa Karl Ove Knausgård, dieses Sich-Selbst-Ausliefern jedoch in ein Detailreichtum unüberschaubaren Ausmaßes mündet, findet Ditlevsen einen Weg, in drei schmalen Bändchen über sich und ihr – mit 58 Jahren früh selbst beendetes Leben – eindrucksvoll prägnant und reduziert zu schreiben.

Dass es sich hierbei nicht um eine reine Autobiografie handelt, markiert Tove Ditlevsen an kleinen Details. So ist die literarische Figur Tove Ditlevsen „am 14. Dezember 1918 in einer kleinen Zweizimmerwohnung in Vesterbro in Kopenhagen geboren worden“ – exakt ein Jahr nach der realen Autorin. Sie schöpft beim Schreiben aus ihrem Leben und ihren Erinnerungen und so wundert es kaum, dass man beim Lesen schnell in den für Autofiktion so typischen Sog des Voyeuristischen gerät. Dennoch hält sie die LeserInnen durch Zeitsprünge und Verdichtungen von Ereignissen und Figuren auf Distanz. Leerstellen bleiben bewusst.

Die ersten beiden Bände Kindheit und Jugend, welche bereits 1967 verfasst wurden, erzählen aus der Perspektive des Kindes und der jungen Frau, während sich der dritte Band, Abhängigkeit, den Abgründen in Tove Ditlevsens späteren Leben und Ehejahren widmet.

Toves Kindheit ist geprägt von dem ärmlichen, bildungsfernen Leben im Kopenhagener Arbeitermilieu der 1920er Jahre, dessen Ausweglosigkeit und Enge ihr besonders zu schaffen machen. Sie beschreibt ihre Kindheit als „lang und schmal wie ein Sarg, aus dem man sich nicht allein befreien kann“. Dieser Sarg bietet ihr zuerst Geborgenheit, wird jedoch schnell zum Sinnbild für ihr Gefühl des situativen Gefangenseins. Es sind Bilder wie diese, oft nur in Nebensätzen angedeutet, die von großer sprachlicher Präzision zeugen und die es möglich machen, auf wenigen Seiten viel über ihre Familienkonstellation, ihre körperliche Selbstbestimmung und über Politik zu schreiben – zur Zeit Ditlevsens noch Tabuthemen. Zuflucht findet sie schon früh in Gedanken und Geschichten, die sie in einem Poesiealbum niederschreibt. Hier kann sie ihre eigene Wahrheit, die Wahrheit ihrer Kindheit festhalten.

Schreiben ist für Tove Ditlevsen auch immer ein Mittel, um ihre Kindheit zu überwinden und ihr zu entkommen. Mit 18 Jahren möchte sie unbedingt ein eigenes Zimmer mieten, um dort ungestört schreiben zu können. Dass sie dafür auf fremde (männliche) Hilfe angewiesen ist, wird ihr schnell klar. Ihr eigener Vater kommt dieser Funktion nicht nach, er fördert zwar ihren Zugang zur Literatur und wirkt als Gegenpol zu ihrer Mutter, prägt sie jedoch ihr Leben lang mit der ernüchternden Aussage: „Bild dir bloß nichts ein. Ein Mädchen kann nicht Dichterin werden.“ Ab diesem Zeitpunkt wird das Schreiben für Ditlevsen etwas Heimliches, das sie vor anderen versteckt.

In Kindheit wird jedoch nicht nur ihr Aufwachsen als Mädchen beschrieben, sondern auch das Leben als Tochter einer kühlen, unberechenbaren Mutter. Tove passt sich immer ihren Launen an, versucht nicht aufzufallen und sucht doch ständig nach Zeichen der Liebe in ihr. Das Verhältnis von Erzählerin und Mutter bleibt durchweg schwer greifbar. Sowohl der Vater, der oft arbeitslos ist, als auch die Mutter, die durch die Perspektivlosigkeit ihres eigenen Lebens verbittert, halten sie klein und wollen sie so bald als möglich verheiraten.

Tove wird in Jugend untersagt, auf ein Gymnasium zu gehen, stattdessen tingelt sie von einer Arbeitsstelle zur nächsten. Erst mit der ersten Veröffentlichung eines ihrer Gedichte in der Zeitschrift Wilder Weizen und anschließend ihrem ersten Gedichtband beginnen für Tove eigenständigere, hoffnungsvollere Zeiten.

Menschen, speziell Männer, Arbeitsstellen und Wünsche kommen und gehen, manche werden von der Erzählerin fast rücksichtslos hinter sich gelassen, denn „Menschen wollen immer irgendetwas voneinander“ und benutzen sich für etwas. Doch nichts in ihrem Leben ist so stark wie der Drang, eine anerkannte Autorin zu werden. Dazu kommt in Abhängigkeit der Wunsch, Mutter zu werden, den sie mit ihrem Leben als Schriftstellerin in Einklang bringen muss. Ein Balanceakt scheint schließlich kaum noch möglich und die Selbstzerstörung nah, ab dem Moment, da eine dritte Komponente ihr Leben bestimmt: die Sucht. Wie von Männern wird sie auch von Drogen abhängig. Der Titel des Originals bringt diese Doppeldeutigkeit besonders drastisch zum Ausdruck: Gift kann im Dänischen sowohl mit „Gift“ als auch mit „verheiratet“ übersetzt werden.

Tove Ditlevsen gehört seit Jahrzehnten zu den angesehensten Schriftstellerinnen in Dänemark, auch wenn sie nie eine literarische Auszeichnung der dänischen Akademie erhalten hat. Eine Autorin, der es an Hingabe und Opferbereitschaft nicht mangelt, ist die Visionärin auch deshalb, weil bei ihr Leben und Schreiben stets Hand in Hand gehen. Auch Anfeindungen der Vertreter des aufkommenden Modernismus zum Trotz, die ihren subjektiven Stil für altmodisch und narzisstisch hielten.

Ihr Leben ist gepflastert von vier gescheiterten Ehen, Schwangerschaftsabbrüchen, Drogenmissbrauch und Psychiatrieaufenthalten. Es ist aber auch eine Aufstiegsgeschichte zu einer ruhmvollen Schriftstellerin. Schreiben und Leben bedingen sich bei ihr. Sie schreibt die ersten Sätze ihrer Kopenhagen-Trilogie 1967 während eines Psychiatrieaufenthalts und wieder einmal wird das Schreiben zur Flucht, aber auch zur Therapie und Lebensrettung.

Tove Ditlevsen beginnt an der Kopenhagen-Trilogie zu schreiben, da ist sie bereits über 50 Jahre alt. Die Texte entstehen also vor dem Hintergrund und mit dem Wissen um ihren Ruhm und ihre zahllosen Abgründe im Leben. Trotzdem holt sie Vergangenes nah an die Gegenwart, eben durch den unmittelbaren und aufgrund der radikalen Selbstzuwendung auch offenen Umgang mit ihren Themen, mit denen sich viele LeserInnen damals wie heute identifizieren können. So wird aus ihrem Schicksal als Frau und Dichterin ein universelles. Sie schreibt nah an dem Erlebten und das berührt, gleichzeitig wirkt es durch ihren lakonischen, nüchternen Stil nicht sentimental. Sprache ist für Ditlevsen ein Schutzschild, hinter dem sie sich geborgen fühlt, was ihrem Stil immer wieder anzumerken ist. Sich selbst durch ihr Schreiben auszudrücken und auszuliefern geht bei Ditlevsen so weit, dass sie ihren Selbstmord, den sie 1976 in die Tat umsetzt, bereits 1975 in ihrem Roman Wilhelms Zimmer ankündigt.

Um den einzelnen Bänden den Raum zu geben, den sie brauchen, um ihre Wirkungsmacht gänzlich zu entfalten, ist eine Lektürepause zwischen den drei Teilen empfehlenswert. Sie sind trotz der Zeitsprünge eng aneinandergeknüpft und die Übergänge so flüssig gestaltet, dass man sich schnell wieder in Toves Welt einfinden kann. Drei schmale Bändchen, die mit so viel Gegenwärtigkeit überzeugen, dass man ihre Lektüre nur nachdrücklich empfehlen kann.

Titelbild

Tove Ditlevsen: Kindheit.
Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein.
Aufbau Verlag, Berlin 2021.
120 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783351038687

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Tove Ditlevsen: Jugend.
Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein.
Aufbau Verlag, Berlin 2021.
154 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783351038694

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Tove Ditlevsen: Abhängigkeit.
Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein.
Aufbau Verlag, Berlin 2021.
175 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783351038700

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch