Metamorphosen des Alltags
Der indische Lyriker Hemant Divate zwischen „Kafka-Mantel“ und „Welspun-Badetuch“
Von Sabine Haupt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseBeim Stichwort „zeitgenössische indische Literatur“ denken viele zunächst einmal an Arundhati Roy oder Salman Rushdie. Dass diese beiden aber, genau genommen, zur englischsprachigen Literatur gehören beziehungsweise angesichts ihres transkulturellen Hintergrunds (und der Übersetzungen ihrer Werke in zahlreiche Sprachen!) zum Kernbereich dessen, was man – guten Gewissens – als „Weltliteratur“ bezeichnen kann, spielt bei solchen Zuordnungen oftmals nur eine untergeordnete Rolle. Dabei gibt es sie durchaus – die indische Literatur oder korrekter im Plural: die indischen Literaturen. Mit über 80.000 Neuerscheinungen pro Jahr gehört sie sogar zu den produktivsten der Welt. Da diese in den 23 indischen Regionalsprachen verfasste Literatur in den indischen Metropolen aber auch heute noch als „provinziell“ gilt, wird sie nur selten übersetzt und ist, abgesehen von der klassischen Sanskrit-Literatur, außerhalb Indiens kaum bekannt.
Auch im deutschen Sprachraum gibt es nur wenige Verlage und ÜbersetzerInnen, die moderne indische Literatur zugänglich machen. Umso verdienstvoller sind die Bemühungen des Heidelberger Verlags Draupadi, dessen Verlagsname sich programmatisch auf eine Erzählung von Mahasweta Devi bezieht und der seit mehr als zehn Jahren jährlich drei bis fünf Werke der zeitgenössischen indischen Literatur publiziert. Allein im Frühjahr 2017 erschienen bei Draupadi drei aus den indischen Sprachen Tamil, Hindi und Marathi (beziehungsweise via Zwischenübersetzung aus dem Englischen) übersetzte Bände. Einer davon ist der aus verschiedenen Gedichtbänden zusammen gestellte Sammelband Eingenistet in meinen Gedanken von Hemant Divate.
Überraschend an Divates Lyrik ist die völlige Abwesenheit von Stereotypen. Das betrifft sowohl die formalen Aspekte seiner oftmals prosaisch spröden Verse wie auch die Themen und Motive des – abzüglich Einleitung und Glossar – knapp 100 Seiten starken Gedichtbandes. Wer hier fernöstliche Weisheiten, exotische Natur, Mythologie, Bollywood-Kitsch oder Dritte-Welt-Kulisse erwartet, wird enttäuscht. Im Vordergrund der Gedichte steht die unmittelbare, oft private bis intime, sinnliche Präsenz der Wirklichkeit, der indische Alltag zwischen Grillhühnchen, TV-Soaps und zuckrigem Knabbergebäck. Dabei wird das Gedicht selbst bisweilen zum – metaphorischen – Körper: „Ein Moment vom Leben/ ist stecken geblieben/ zwischen den Zähnen des Gedichts/ Er weilt in den Zwischenräumen“ oder umgekehrt: Menschen und Körper werden zu Gedichten: „Ich war nie fähig, eine Frau fließend/ zu lesen wie ein Gedicht“.
Auch in anderen Passagen ereignen sich diverse, oftmals komisch-surreale Verwandlungen in der Nachfolge Kafkas („Ich bin der Mann im Kafka-Mantel“), wobei es durchaus despektierlich bis derb-frech zugeht: „Wir haben gewettet, Kafka und ich –/ während derjenige, der zuerst pisst, gewinnt, wird/ der andere rennen müssen und ganz Prag vollpissen“. Mitunter verwandelt sich das Ich auch in die Gegenstände seines Alltags, nimmt die ironische Perspektive eines Markenprodukts an, wird zur „Whisper-Damenbinde“, zur „teuren Seife von Camay“, zu einem „Welspun-Badetuch“, zu einer Gabel, die „Maggi-Nudeln verschlingt“, oder zu einem „Godfrej Farm Fresh-Hühnchen“.
Doch wie nonchalant und flapsig sie auch daherkommt: Diese Magie des Alltags ist keineswegs harmlos. Denn ein Hauptthema der Gedichte ist die (implizite) Kritik an der sich krakenhaft über alle Kulturräume ausbreitenden globalen Mainstream-Ästhetik, das Erschrecken über die mit „Markenamen vollgestopften Gehirne“, in die „Scheiß-Cola“ und Konsorten mit ihren auf allen TV-Kanälen präsenten Werbesprüchen eindringen, während der Zuschauer verzweifelt versucht, die zerebralen „Löcher“ des allgegenwärtigen Entertainments „mit dem Gedicht/ den Worten zu stopfen“. Auch Tradition und Religion zeigen hier keinen Ausweg. Weder der „Mob der Gläubigen“ noch die Welt der „mythischen Schmarotzer“ bieten eine alternative, bessere „Lebensversicherung“ als der regelmäßig durchgeführte „computergesteuerte Gesundheits-Check-up“. Das altehrwürdige Mahabharata erscheint als sinnloses „Gemetzel“, als episches „Blutbad“ in „Rost und Ruin“, und von vielen der „erbärmlichen Götter in den Schaufenstern“ kann man eigentlich nur noch eines sagen: „Ein Discount-Label klebt an seinem Arsch“.
Überhaupt ist die Religion für den Sprecher dieser Gedichte nichts als „eine helle, aufgeblähte, brodelnde Beule“, die es gilt, möglichst couragiert aufzustechen. Und das ist das zweite große Thema der Sammlung. Die „Kämpfe mit imaginären Göttern“ – so der Untertitel von gleich zwei Kapiteln des Bandes –, das heißt die Auseinandersetzung mit den alten indischen Traditionen, den Heroen der westlichen Kultur oder den Schimären des Internets, zeigt vor allem eines: „Das Passwort zum Neustart“ ging offenbar verloren. Wie sinnlos die Sinnfrage geworden ist, unterstreicht die litaneihafte Wiederholung des Satzes „Das Leben beginnt, wenn du diesen Raum betrittst“. Während im selben Gedicht Religionen „wie Scheißhaufen in den Ofen tropfen“ und das Ich eher halbherzig versucht, etwas aus seiner Freiheit zu machen, dabei selbstironisch auch mal „zum Buddha“ mutiert, wird allmählich klar, wie gigantisch, ja unmenschlich groß das kulturelle und historische Projekt in Wirklichkeit ist: „Stell dir vor/ du musst/ ein ganzes Sprachuniversum zu Fall bringen“. Es ist gewiss eine der Stärken dieses Gedichtbandes, dass diese kulturkritische Dimension nur selten explizit dafür eher en passant, spielerisch ironisch, oder dann mit heftiger emotionaler Erregung vorgebracht wird.
In seinen Conjectures on World Literature hat der italo-amerikanische Literaturwissenschaftler Franco Moretti auf solche Zusammenhänge hingewiesen. Zwar ist der Einfluss der europäischen Literatur für die Konstitution der indischen Moderne von fundamentaler Bedeutung. Doch wird mit diesem Bezug nur ein Teil der Texte verständlich. Moretti beschreibt die Entstehung der außereuropäischen Moderne als eine Art Kompromiss zwischen den ästhetischen Tendenzen der europäischen Literatur und den in Indien, Brasilien oder China verbreiteten Traditionen. Die Verschränkung beziehungsweise der „Switch“ zwischen europäischer Moderne und indischer Tradition ist gewissermaßen literarischer Standard bei dieser Generation von SchriftstellerInnen. Spannend dabei ist vor allem dann die jeweilige oft höchst individuelle Art, in der dieser Kultur-Switch seine kreativen oder problematischen Potenziale entfaltet.
Beeindruckend ist auch, wie prägnant Divate private, zwischenmenschliche Gräben und Divergenzen beschreibt, zum Beispiel die schleichende Zerrüttung einer Liebesbeziehung, die sich schließlich in der Erinnerung an den Duft eines Parfüms mit dem kitschigen Markennamen „Pond’s Dreamflower“ kristallisiert. Ähnliche Fokussierungen auf Dinge und Symbole der Alltagswelt finden sich in fast allen Gedichten, beispielsweise wenn in Wenn die Frau nicht zuhause ist der Bewusstseinsstrom eines Ehemanns aufgezeichnet wird, der offenbar immer mehr in den Banalitäten seines Middle-Class-Lebens versumpft, oder wenn Divate in Krankheits-Gedichte die Wirkung beziehungsweise Nichtwirkung von Antidepressiva mit einer sprachlichen Kreisbewegung illustriert. Schonungslos wird der miese kleine Alltag in seine Bestandteile zerlegt, das „Fett von privaten, mediokren Lebensgeschichten“ ausgestellt. Die Liste der verschiedenen Leiden scheint endlos, die Befindlichkeiten ebenso kläglich wie lachhaft. Anflüge von sprachlichem Kitsch werden systematisch von einer schonungslosen, ja fast sadistischen Negativität beendet, das „traurige Lied der Sehnsucht“ wird im Keim erstickt, der „exquisite Schmerz der Sehnsucht“ höchstens ironisch gestillt.
Besonders radikal ist diesbezüglich das kurze Gedicht „Schmetterlinge“: „Im Garten des Wohnkomplexes herumschlendernd / bemerkte ich zu einem Freund nebenbei/ Diese kleinen tiefgelben Schmetterlinge/ sehe ich in letzter Zeit nicht/ Er sagte beiläufig/ Diese Marke wurde eingestellt.“ Pointierter kann man die Uniformisierung der Gesellschaft, die Verödung von Kultur und Natur, das immer gleiche Programm „monoton/ monotonal/ monototal/ total monoton“ und so weiter wohl kaum formulieren. Was bleibt, so heißt es sarkastisch, ist das „tränenerstickte Schluchzen von blauen und dunklen Proteinen und Kohlenhydraten“. Diese Momente einer harschen Kultur- und Zivilisationskritik werden immer wieder unterbrochen von sehr persönlichen kleinen Geschichten, die durch ihre oftmals ungewöhnliche Perspektive bestechen. Beispielsweise wenn in Heute ist der erste Juli und es ist beinahe zehn Uhr der geplante Kaiserschnitt aus der Sicht des vor dem OP-Saal wartenden Vaters geschildert wird, oder wenn sich das Ich in eine transhumane, software-gesteuerte Maschine verwandelt, die ihr Gehirnvolumen mit „Null“ anzeigt.
Divates Lyrik ist atmosphärisch dicht, bildreich narrativ, emotional, oft witzig bis sarkastisch. Sprachlich fehlt jedoch bisweilen eine klar erkennbare rhythmische und phonetische Struktur. Der Klang der Verse bleibt oft seltsam hölzern, ja unbeholfen. Geradezu ratlos machen Verse wie „Ich habe ein Gefühl, dass jeden Moment/ die faule Katze der Zeile, die ausgestreckt daliegt, um zu gähnen/ in meterlangen Sprüngen herumtanzen wird“. Was soll man sich unter einer „faulen Katze der Zeile“ vorstellen? Geht es vielleicht um das leise Schnurren des Ungesagten? Oder um den berühmten Tigersprung ins Vergangene? An solchen Stellen hilft auch der Respekt vor dem unübersetzbaren Anteil des fremdsprachigen Texts nicht weiter. Es wäre wohl die Aufgabe der englischen beziehungsweise deutschen Übersetzung gewesen, an solchen Stellen für sprachliche Prägnanz und gedankliche Klarheit zu sorgen. Doch insgesamt sind diese Gedichte ganz gewiss eine aufregende Entdeckung.
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