Ein intellektuelles Schwesternpaar

Ein von Burcu Dogramaci und Günther Sandner herausgegebener Sammelband widmet sich Rosa und Anna Schapire

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit nunmehr 20 Jahren macht sich der von Britta Jürgs geführte AvivA Verlag durch seine regelmäßig erfolgenden Neuauflagen oder gar Erstausgaben von zu Unrecht vergessenen Werken deutschsprachiger Autorinnen aus der Zeit der Weimarer Republik verdient. Genannt seien hier nur Lili Grün, Ruth Landshoff-York und Alice Berend.

Weniger bekannt ist hingegen, dass er neben dem literarischen Programm gelegentlich Sach- und Fachbücher verlegt. So zuletzt einen Rosa und Anna Schapire gewidmeten Sammelband, der die Namen des Geschwisterpaars im Titel trägt. Das Buch wurde von Burcu Dogramaci und Günther Sandner herausgegeben. Seine zwölf Beiträge gehen auf einen im Mai 2016 durchgeführten Workshop am Center for Advanced Studies der LMU in München zurück. Vorangestellt ist dem Band ein einleitender Text der HerausgeberInnen, beschlossen wird er durch Bibliografien und tabellarische Biografien der beiden Schwestern, wobei das Schriftenverzeichnis Rosa Schapires beeindruckende 300 Titel aufweist. Dass dasjenige ihrer drei Jahre jüngeren Schwester ungleich weniger umfangreich ausfällt, dürfte deren frühem Tod anzulasten sein. Denn Anna Schapire verschied gerade einmal 34-jährig nach der Geburt ihres Sohnes. Ihre Schwester Rosa sollte sie um mehr als 40 Jahre überleben. Sie starb 1954 in der Londoner Tate-Galerie nahe der von ihr gestifteten Kunstsammlung.

Die 1874 beziehungsweise 1877 geborenen Schwestern stammten aus dem kleinen Städtchen Brody, das damals zu Galizien gehörte und heute in der Ukraine liegt. Beide studierten an verschiedenen Universitäten des europäischen In- und Auslandes: Anna Schapire Sozialwissenschaften, ihre Schwester Kunstgeschichte. Später promivierten sie: Anna Schapire in Bern, Rosa in Heidelberg. Ihren Lebensunterhalt bestritten beide über die Jahrzehnte hinweg als freie Autorinnen.

Anna Schapire zählte den HerausgeberInnen zufolge „zu den wenigen sozialistisch orientierten Feministinnen um 1900“, lehnte eine strikte Unterscheidung zwischen bürgerlicher und sozialistischer Frauenbewegung allerdings ab. Ihre Schwester wiederum gründete 1916 – also mitten im Ersten Weltkrieg – gemeinsam mit Ida Dehmel und Magdalena Pauli den Frauenbund zur Förderung moderner deutscher Kunst, dessen Anliegen es war, die zeitgenössische Kunst, namentlich den Expressionismus, „zu popularisieren, moderne Skulpturen zu erwerben und sie Museen zu stiften“. Schapire führte den Bund über Jahre hinweg als Vorsitzende. 1933 wurde ihr als Jüdin die Möglichkeit, zu publizieren oder Vorträge zu halten, weitgehend genommen. Kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs emigrierte sie nach London.

Schon 1897 waren die damals gewerkschaftlich engagierten Schwestern ins Visier der Politischen Polizei Hamburgs geraten. Nachdem Anna Schapire aus der Hansestadt ausgewiesen wurde, enthielt sich ihre Schwester Dogramaci und Sandner zufolge fortan der politischen Betätigung. Sich mit der Frauenemanzipation zu befassen, scheint den HerausgeberInnen somit nicht als politisch zu gelten, veröffentlichte Rosa Schapire ausweislich der im Anhang aufgenommenen Bibliografie doch noch im beginnenden 20. Jahrhundert zur Frauenbewegung. So etwa 1907 einen kurzen Text mit dem Titel „Lesefrüchte“ in der Zeitschrift Die Frauenbewegung. Revue für die Interessen der Frauen. Ein Jahr später publizierte sie im gleichen Organ über „Die Zulassung von Frauen an Kunstakademien“. Ebenfalls 1908 führte sie mit der Zeitschrift Neues Frauenleben „ein Gespräch über die Frauenfrage im 16. Jahrhundert“. Und noch zwei Jahrzehnte später rezensierte sie die Autobiografie der russischen Anarchistin Vera Figner. Alles unpolitisch? Offenbar aber sind die HerausgeberInnen nicht wirklich dieser Ansicht, formulieren sie doch an anderer Stelle ihres gemeinsamen Textes, nach 1897 sei „vor allem“ Anna Schapire „als feministische Autorin“ aufgetreten. Vor allem – das heißt aber eben nicht nur sie, sondern auch ihre Schwester Rosa.

Anna Schapire trat in ihren feministischen Schriften um und nach 1900 den überaus umtriebigen AntifeministInnen entgegen. Rosa Schapires Haltung zu geschlechtsspezifischen Fragen war hingegen keineswegs immer eindeutig feministisch, sondern, wie die HerausgeberInnen konstatieren, „durchaus ambivalent“. So sprach sie ihren Geschlechtsgenossinnen während eines 1905 gehaltenen Vortrags – wiederum den Herausgeberinnen zufolge – „eine schöpferische Kraft“ ab, weshalb Frauen „besser in der Kunstvermittlung tätig sein“ sollten. Das mag zwar „reaktionär“ sein, wie Burcu Dogramaci und Günther Sandner anheimstellen, unpolitisch ist aber auch das wohl kaum. Jedenfalls hielt sich Schapire selbst zeitlebens strikt an diese Maßgabe.

Die Beiträge des vorliegenden Bandes befassen sich zumeist mit dem Leben und Wirken beider Schwestern, wobei die den jeweils einer der Schwestern gewidmeten Texte in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. Einige der Aufsätze leuchten allerdings vor allem den politischen und zeitgenössischen, aber auch den familiären Hintergrund aus. Dabei lässt der Band jegliche Gliederung vermissen. So stehen Beiträge, die sich eher mit zeitgeschichtlichen Fragen oder mit Begriffsgeschichte befassen, in buntem Wechsel mit anderen, die sich der Biografie oder den Werken einer der Schwestern widmen. Zu letzteren zählt etwa Parvati Vasantas Aufsatz „Rosa Schapire und der Frauenbund zur Förderung deutscher bildender Kunst“.

Die beiden Texte von Leonie Beiersdorfs (sie ist die einzige, die mit zweien vertreten ist) gelten zum einen Rosa Schapires Publikationen und zum anderen der Bedeutung ihrer Kunstsammlung. In ersterem charakterisiert die Autorin Schapires bereits 1897 publizierten Aufsatz Ein Wort zur Frauenemanzipation als „rhetorisch geschliffene Philippika gegen die ‚bürgerlichen Frauenrechtlerinnen‘“, die sich insbesondere gegen Minna Cauer, Hanna Bieber-Böhm und Käthe Schirmacher, wie auch gegen Laura Marholm und deren Idee vom freien „Sichausleben des Weibes in seiner Geschlechtsindividualität“ richtete. Es sind dies ausnahmslos Aktivistinnen des radikalen Flügels der Frauenbewegung oder Abolitionistinnen gegen die Schapire Beiersdorf zufolge ihre Stimme erhebt. Die Akteurinnen des gemäßigten Flügels sind demzufolge ungeschoren davongekommen. Vielleicht schienen sie Schapire der Mühe der Kritik nicht Wert. „Schapire zufolge sei einzig die proletarische Frauenbewegung in der Lage die strukturelle Ungleichheit von Mann und Frau zu beheben“, fasst Beiersdorf die Kernaussage des Aufsatzes der jungen Sozialistin zusammen.

Dironna Oeschs biografisch orientierter Beitrag wiederum vergleicht „weibliche Lebensentwürfe und frauenpolitisches Engagement um 1900“ anhand von Anna Schapire und der von ihrer Schwester kritisierten Frauenrechtlerin Käthe Schirmacher.

Ela Hornung-Ichikawa stellt hingegen eher allgemeine „psychoanalytische Überlegungen“ zur „Schwesterbeziehung“ an, um „ausgewählte psychoanalytische Theorien zu Geschwisterbeziehungen vorzustellen und einige spezifische Fragen zu ihrer Schwesternschaft aufzuwerfen“, ohne sich allerdings an deren Beantwortung zu wagen. Auch hat sie zur konkreten Beziehung der beiden Schwestern „nicht viel“ zu sagen, da „zu wenig“ über diese bekannt sei. Ebenso wenig mag sie „versuchen, noch näher in ihre Biografien einzudringen, zu psychologisieren oder Ähnliches“. Entsprechend gering ist der Ertrag ihres Aufsatzes.

Ulrike Schneiders „historischer Überblick zur Situation jüdischer Studentinnen im Kaiserreich“ bietet ebenfalls nicht sehr viel Neues. Wirklich interessant aber ist ihre Vermutung, Anna Schapire könnte als reales „Vorbild für die Konzeption der Figur Therese Golowski in Arthur Schnitzlers Roman Der Weg ins Freie (1908) gedient haben. Nachdem Schneider einige Gemeinsamkeiten zwischen der Figur und der realen Person aufgezeigt hat, plausibilisiert sie diese Möglichkeit weiter, indem sie darauf hinweist, dass Schnitzler in seinen Tagebucheintragungen der Jahre 1902 und 1903 insgesamt vier Zusammentreffen mit Anna Schapiere vermerkt.

Johanna Gehmacher spannt einen über die Geschwister hinausreichenden Bogen, indem sie die zeitgenössische „Frauenfrage“ ins Zentrum ihres Interesses stellt und der Frage nachgeht, wie die damalige Frauenbewegung „Historisierung als politische Strategie“ betrieb. Als besonders erhellend erweist sich dabei, wie sie das „Paradoxon von Gleichheit und Differenz der Geschlechter“ aus „begriffsgeschichtlicher Perspektive“ entfaltet und anhand der Trias Frauenfrage, Frauenbewegung und Feminismus den „in historischen Deutungskämpfen und Historisierungsprojekten“ liegenden „Wurzeln“ bis in die Gegenwart hineinreichender „begrifflicher Unschärfen der Forschung“ nachgeht. So weist sie darauf hin, dass der noch heute allseits gebräuchliche Terminus „bürgerliche Frauenbewegung“ ursprünglich eine pejorative Schöpfung der Marxistin Clara Zetkin gewesen ist, die sie vermutlich erstmals 1896 in „einer polemischen Rede“ zur Ablehnung einer klassenübergreifenden Zusammenarbeit zwischen sozialdemokratischen Arbeiterinnen und ‚bürgerlichen‘ Feministinnen benutzte. Auch Rosa Schapire polemisierte während ihrer in diese Zeit fallenden orthodox-marxistischen Phase, die bürgerliche Frauenbewegung befasse sich mit der „Damenfrage“. Gehmacher spricht statt von bürgerlicher Frauenbewegung hingegen lieber und genauer von „liberalen Frauenbewegungsaktivistinnen“. Vermutlich wird es ihrem Begriff allerdings schwer fallen, sich gegenüber dem eingebürgerten durchzusetzen. Des Weiteren stellt Gehmacher verschiedene terminologische Definitionen dessen vor, was Frauenbewegung und Feminismus seien, wobei sie auf deren jeweilige Schwäche und sprachlichen Inkonsistenzen hinweist und bekennt, auch keine besseren Lösungen vorschlagen zu können. Das schmälert ihre erhellenden begriffsgeschichtlichen Darlegungen aber keineswegs.

Abschließend sei noch Günther Sandners „intellektuelles Porträt“ von Anna Schapire angesprochen. Der Mitherausgeber des vorliegenden Bandes bietet einen Abriss der ideologischen Entwicklung Schapires, die, wie bereits erwähnt, zunächst als orthodoxe Marxistin auftrat und das „Primat des Ökonomischen“ verfocht. Zugleich, so Sandner, habe sie aber auch „einen explizit frauenpolitischen, feministischen Ansatz“ vertreten. Die marxistische Orthodoxie hat sie später verworfen, wie der Autor nicht zuletzt anhand von Schapires Beschäftigung mit den Thesen Ellen Keys zeigt, deren Buch Mißbrauchte Frauenkraft Schapire 1898 einer „scharfen“ marxistisch inspirierten Kritik unterzog, die sie später in der Korrespondenz mit Key „relativierte“. Dies, insinuiert Sandner, könne zum einen taktische Gründe gehabt haben und zum anderen „auf Drängen“ von Schapires damaligem Freund und späterem Ehemann Otto Neurath erfolgt sein. Ob diese für Schapire nicht eben schmeichelhaften Annahmen zutreffen, mag dahingestellt sein. Jedenfalls machte sich Neurath in einem Schreiben an Key für die damals angehende Literatin Schapire stark, die ihre frühe Rezension in einem Zusatz zu Neuraths Brief als „Jugendsünde“ zu entschuldigen suchte. In einem wiederum etwas späteren, eigenen Brief an Key merkt Schapire noch einmal an, sie habe ihren damaligen „etwas starren marxistisch engherzigen Standpunkt verlassen“. Nun ist sicher nicht auszuschließen, dass in der Korrespondenz mit Key auch taktische oder opportunistische Gründe eine Rolle spielten. Ihre Abkehr vom Marxismus folgte allerdings gewiss nicht aus derlei Erwägungen, sondern aus besserer Einsicht. Auch wenn sie sich vom Marxismus abwandte, behielt Schapire Sandner zufolge Zeit ihres viel zu kurzen Lebens stets „eine gewisse Distanz zur bürgerlichen und besonders auch zur katholischen Frauenbewegung“. Nachdem sich Sandner zunächst Schapires Briefwechsel mit Ellen Key zugewandt hat, porträtiert er sie in weiteren Abschnitten als Schriftstellerin, Übersetzerin,  Literaturwissenschaftlerin, Sozialwissenschaftlerin und zuletzt als „frühe Feministin“.

Hinterlässt Sanders Aufsatz einen etwas ambivalenten Eindruck, so sind die Beiträge des vorliegenden Buches insgesamt selbst für einen Tagungs- respektive Workshop-Band von höchst unterschiedlicher Qualität. Seinem in der Einleitung der HerausgeberInnen dargelegten Anliegen, „viele bislang unbekannte Fakten über Leben und Schaffen der Schwestern Rosa und Anna Schapire zusammenzubringen“ und somit ein „zwar noch lückenhaftes, doch bereits viel deutlicheres Bild einer intellektuellen Doppelbiographie“ zu zeichnen, wird er dennoch gerecht. Besonders lesenswert aber ist zweifellos der bereits erwähnte Aufsatz von Johanna Gehmacher, auch wenn er sich kaum mit dem Wirken der Schwestern befasst.

Titelbild

Burcu Dogramaci / Günther Sandner (Hg.): Rosa und Anna Schapire. Sozialwissenschaft, Kunstgeschichte und Feminismus um 1900.
AvivA Verlag, Berlin 2017.
287 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783932338878

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