Der Seelenzergliederer Dr. Krokowski in dem vor 100 Jahren erschienenen Roman „Der Zauberberg“

Thomas Manns Auseinandersetzungen mit der Psychoanalyse

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Thomas Mann bescheinigte der Psychoanalyse 1929 in seiner ersten großen Rede über Sigmund Freud die Bedeutung einer „Weltbewegung“, von der „alle möglichen Gebiete des Geistes und der Wissenschaft sich ergriffen zeigten“. Die Psychoanalyse sei „einer der wichtigsten Bausteine, die beigetragen worden sind zum Fundament der Zukunft, der Wohnung einer befreiten und wissenden Menschheit.“ Solche Lobreden auf Freud und die Psychoanalyse finden sich bei Schriftstellerinnen und Schriftstellern des 20. Jahrhunderts zuhauf. Höchst umstritten war die Psychoanalyse unter ihnen gleichwohl.

Die literarische Moderne zeigte sich an der Psychoanalyse interessiert, seit diese existierte, zuerst in Wien, spätestens seit 1910 in allen anderen deutschsprachigen Zentren des literarischen Lebens, seit den zwanziger Jahren in ganz Europa und in den USA. Viele Autoren der Moderne waren durch ihre psychologische, medizinische oder psychiatrische Ausbildung für die Rezeption der Psychoanalyse geradezu prädestiniert: Robert Musil, Alfred Döblin (der sich selbst zeitweilig als einen „Psychoanalytiker“ bezeichnete) und vor allem Arthur Schnitzler. Andere kamen als Patienten mit der Psychoanalyse in engste Berührung: Hugo von Hofmannsthal, Hermann Hesse, Arnold Zweig, Hermann Broch oder Robert Musil.

Als 1930 in Frankfurt hinter den Kulissen heftig darum gestritten wurde, wer den Goethe-Preis erhalten sollte, war es vor allem den Repräsentanten der literarischen Moderne, namentlich Alfred Döblin, zu verdanken, dass Freud die Auszeichnung erhielt. Von erheblicher Bedeutung war, dass in der zweiten Sitzung der Jury ein Antrag auf Verleihung des Nobelpreises an Sigmund Freud verlesen wurde. Dreißig Schriftsteller hatten ihn unterzeichnet, auch Thomas Mann, obwohl seine persönlichen und literarischen Beziehungen zu Freud durchaus ambivalent waren. Die Lektüre von Freuds Essays Zeitgemäßes über Krieg und Tod hatte Spuren in der während des Krieges begonnenen Arbeit am Roman Der Zauberberg hinterlassen. Sogar jener Schlüsselsatz, der als einziger im Druck hervorgehoben ist, greift die Essays zum Teil wörtlich auf. „Wäre es nicht besser, dem Tode den Platz in der Wirklichkeit und in unseren Gedanken einzuräumen, der ihm gebührt“, hatte Freud geschrieben. Thomas Mann modifizierte den Satz im Zauberberg-Roman so: „Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.

Es geht hier um Herrschaftsansprüche und um deren Zurückweisung. Im Kontext des Schnee-Kapitels wie des ganzen Zauberberg-Romans gehören sie zu den Machtkämpfen zwischen antagonistischen Kräften im Subjekt. Tod ist dabei mit Sexualität eng assoziiert. Das Kapitel handelt von den „Kämpfen“ der „kontrollierenden Vernunft“ in Hans Castorp, dem Protagonisten des Romans, gegen den Wunsch, der Lockung des Todes in der „Winterwildnis“ nachzugeben.

Eine 1991 mit dem Titel Freud und die Psychoanalyse von Bernd Urban herausgegebene Sammlung von Thomas Manns Reden, Briefe, Notizen, Betrachtungen (so der Untertitel dazu) beginnt mit dem Nachdruck des „vermutlich 1915“ entstandenen Unterkapitels „Analyse“ aus Thomas Manns Roman Der Zauberberg. Dem widerspricht zunächst scheinbar eines der letzten in dem Band abgedruckten Dokumente, ein 1951, vier Jahre vor seinem Tod geschriebener Brief Thomas Manns an Joyce Morgan. Nach seiner Beziehung zur Psychoanalyse gefragt, formulierte Thomas Mann hier rückblickend einige vage, aber durchaus aufschlussreiche Erinnerungen: „Es ist eine Tatsache, daß ich noch zur Zeit des ,Zauberbergs‘, geschweige als ich den ,Tod in Venedig‘ schrieb, mit den Schriften Freuds direkt nicht in Berührung gekommen war. Ich habe Bücher von Freud, namentlich ,Totem und Tabu‘, das mir den stärksten Eindruck machte, die Traumpsychologie usw. erst nach dem ,Zauberberg‘ […] kennengelernt, also nicht früher als in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre.“ Die eigene Beschäftigung mit der Psychoanalyse schon vor dem Erscheinen des Zauberberg streitet er aber in den folgenden Sätzen nicht ganz ab: Er wolle „nicht beschwören, daß ich nicht schon vor dem ,Tod in Venedig‘ eine oder die andere psychoanalytische Schrift, die von Freud abstammte und die mir von den Autoren zugeschickt worden war, gelesen hatte.“ Und er konzediert dem Adressaten seines Briefes: „Sehr richtig bemerken Sie, daß ich für die Freudschen Lehren schon durch Schopenhauer und dann durch Nietzsche vorgestimmt war – nicht durch sie allein, sondern durch meine literarische Bildung überhaupt, denn die Psychoanalyse steht ja in engsten Beziehungen zur großen Literatur im allgemeinen.“

Aufgrund einiger Widersprüche in den Selbstäußerungen Thomas Manns über die Psychoanalyse bleiben einige Fragen offen. Ob er schon vor oder bei der Niederschrift der Erzählung Der Tod in Venedig (1912), die eine Vielzahl psychoanalytischer Interpretationen an sich zog, Freud gelesen hatte, ist umstritten. „Was mich betrifft“, so erklärte Mann 1925 in einem Interview für die Zeitung La Stampa, „so ist mindestens eine meiner Arbeiten, die Novelle Der Tod in Venedig, unter dem unmittelbaren Einfluß Freuds entstanden“. Mit einigen guten Gründen hat die Forschung dem Autor diese Aussage nicht ganz geglaubt, auch weil die erste Erwähnung Freuds bei Mann sich erst in einer Notiz von 1916 findet. Das vermutlich im Sommer 1915 entstandene „Analyse“-Kapitel im Zauberberg zeigt allerdings schon deutliche Lektürespuren von Freuds Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905). Dass Thomas Mann sie schon bald nach ihrem Erscheinen zur Kenntnis genommen hat, ist durchaus wahrscheinlich. Auch wenn dies nicht der Fall sein sollte, trifft doch seine spätere Bemerkung zu, psychoanalytische Fragestellungen und Gedanken hätten um 1910 in der Luft gelegen, und man habe von der Psychoanalyse beeinflusst werden können, ohne direkten Kontakt mit ihr zu habe.

Wie immer man die Äußerungen von Autoren der Moderne über die Psychoanalyse oder ihre literarischen Transformationen psychoanalytischen Wissens im Einzelnen angemessen bezeichnen mag, als widersprüchlich, ambivalent oder differenziert, in jedem Fall sind die erheblichen Diskrepanzen in ihren Einschätzungen bemerkenswert. Ein literarisches Beispiel dafür lieferte wiederum Thomas Mann. Als er Hermann Hesses Demian (1919) gelesen hatte, notierte er mit Bewunderung in sein Tagebuch (29. Mai 1919), „das psychoanalytische Element [sei] darin entschieden geistiger u. bedeutender verwendet […] als im ,Zauberberg‘“. Da unterschätzte er allerdings den eigenen Roman erheblich. Dieser ist einerseits in seiner durchgehenden Sexualsymbolik, in den Schilderungen von Träumen oder auch von Lachanfällen sowie in der literarischen Psychopathologie innerer Konflikte zwischen zivilisierter Selbstbeherrschung und anarchischen Leidenschaften eine Hommage an die Psychoanalyse. Der im Roman auftretende Psychoanalytiker Dr. Krokowski ist andererseits so dargestellt, dass die Psychoanalyse durch ihn einen partiell unsympathischen oder auch komischen Repräsentanten erhält.

Bei literaturwissenschaftlichen Untersuchungen zur literarischen Verarbeitung und Transformation psychoanalytischen Wissens lassen sich harte und weichen Indikatoren unterscheiden. Beide setzen eine mögliche Kenntnis der Psychoanalyse beim Autor voraus. Zu den harten Indikatorengehören alle expliziten Bezugnahmen auf Elemente psychoanalytischer Prätexte und der für sie konstitutiven Kontexte. Als ,explizit‘ können sie gelten, wenn literarische Texte in markierter Form (durch gekennzeichnete Zitate) oder auch in unmarkierter Form auf psychoanalytische Texte Bezug nehmen, wenn sie einschlägige psychoanalytische Termini verwenden oder wenn sie literarische Figuren einführen, die als professionelle Repräsentanten psychoanalytischen Wissens erkennbar sind. Zu den weichen Indikatoren gehören Bestandteile literarischer Texte, die ein hohes Maß an Übereinstimmung mit typischen Bestandteilen psychoanalytischer Diskurse aufweisen, zum Beispiel eine ähnliche Konzentration auf das Interesse an Nacht- und Tagträumen, Wahn- oder kollektiven Phantasiegebilden, ödipalen Figurenkonstellationen oder diversen Fehlleistungen.

Ein harter Indikator zur literarischen Verarbeitung psychoanalytischen Wissens im Zauberberg ist vor allem die Figur Dr. Edhin Krokowski. Nachdem der Protagonist Hans Castorp aus Hamburg beim Internationalen Sanatorium Berghof nahe Davos zum Besuch seines Vetters Joachim Ziemßen eingetroffen ist, stellt dieser ihm gleich im ersten Kapitel verbal den Assistenten des dortigen Klinikleiters Hofrat Behrens vor: „Dann ist da noch Krokowski, der Assistent – ein ganz gescheutes Etwas. Im Prospekt ist besonders auf seine Tätigkeit hingewiesen. Er treibt nämlich Seelenzergliederung mit den Patienten.“ Das Wort „Seelenzergliederung“ wird dem Dr. Krokowski zugeschrieben, der es selbst verwendet. Damit gleicht er dem deutschen Arzt, Psychoanalytiker und Psychosomatiker Georg Groddeck, der den Ausdruck schon 1913 in einer Publikation (Nasamecu) verwendete: „Bei der Psychoanalyse, der Seelenzergliederung, handelt es sich im wesentlichen darum, Krankheitserscheinungen aller Art, seelisch und körperliche, durch genaues Durchforschen der Schlupfwinkel des innersten Herzens auf starke seelische Eindrücke zurückzuführen, die den Kranken meist schon in früher Kindheit betrafen und die fast stets geschlechtliche Erlebnisse waren.“ Groddeck hob dabei hervor, dass dieses Erlebnis später „nur verdrängt“ wird, „sein Eindruck bleibt aber, wühlt im Inneren, Charakter, Gesundheit und Leben mit geheimnisvoller Gewalt gestaltend, und bricht immer und immer wieder in verwandelter Form hervor“. Ähnlich spricht Krokowski im Zauberberg-Kapitel „Analyse“ davon, dass „die unterdrückte Liebe […] nicht tot“ sei, „sie durchbreche den Keuschheitsbann und erscheine wieder, wenn auch in verwandelter, unkenntlicher Gestalt“. Groddecks Baden-Badener Sanatorium mit dem irreführend frommen Namen „Marienhöhe“, das die dortigen Patienten gerne auch „Satanarium“ nannten, wurde später von Otto Jägersberg, dem Herausgeber von Groddecks Werken, als „ein Zauberberg im Schwarzwald“ charakterisiert. Ähnlichkeiten zwischen seinem Sanatorium und dem Zauberberg in Thomas Manns Roman liegen in der Tat vor. Groddecks Verleger Georg Hirzel und Thomas Mann kannten sich. Und ein weiterer gemeinsamer Bekannter von Groddeck und Thomas Mann war der Schriftsteller Oscar Schmitz, der sich damals ebenfalls für die Psychoanalyse einsetzte.

Im Zauberberg reagiert Hans Castorp auf die Konfrontationen mit Krokowski mit Symptomen unkontrollierte Emotionen, die zu zentralen Gegenständen der Psychoanalyse gehören, zunächst mit Lachen und Tränen: „Was treibt er? Seelenzergliederung? Das ist ja widerlich!“, ruft er laut nach den Informationen seines Vetters. Und „nun nahm seine Heiterkeit überhand. Er war ihrer gar nicht mehr Herr, nach allem andern hatte die Seelenzergliederung es ihm vollends angetan, und er lachte so sehr, daß die Tränen ihm unter der Hand hervorliefen, mit der er, sich vorbeugend, die Augen bedeckte.“ Literarisch vorgeführt werden hier Bestandteile von Freuds Lachtheorie, die das Lachen als abrupte Freisetzung libidinöser Energien begreift, die sich der Kontrolle durch das Bewusstsein entziehen. „Er war ihrer gar nicht mehr Herr“ ist vermutlich eine Anspielung auf die berühmt gewordene Formulierung in Freuds Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1916/17) mit der Beschreibung der Kränkung, dass das Ich „nicht einmal Herr ist im eigenen Hause“. Wenn von den Tränen die Rede ist, die „ihm unter der Hand hervorliefen“, operiert der Autor weiterhin mit psychonalytischem Wissen über Symbolisierungen sexueller Inhalte. Mit Castorps Wort „widerlich“ liefert der Text darüber hinaus eine Illustration dessen, was Freud als „Widerstand“ gegen die Psychoanalyse beschrieben hat. Die Schilderung von Castorps unkontrollierbarem Lachen bestätigt die Annahmen jener Disziplin, gegen die Castorp sich zunächst wehrt.

Im nächsten Unterkapitel begegnet er Krokowski persönlich und wird von ihm gefragt: „Sie kommen zu uns als Patient, wenn ich mir die Frage erlauben darf?“ Castorp antwortet ihm, dass er „gottlob, ganz gesund sei.“ Und Krokowski reagiert darauf mit den Worten: „Aber dann sind Sie eine höchst studierenswerte Erscheinung! Mir ist nämlich ein ganz gesunder Mensch noch nicht vorgekommen.“ Und fügt skeptisch hinzu: „Sie werden hier also keinerlei ärztliche Behandlung in Anspruch nehmen, weder in körperlicher noch in psychischer Hinsicht?“ Auf Castorps Antwort „Nein, ich danke tausendmal!“ reagiert Krokowski ironisch: „Nun, so schlafen Sie denn wohl, Herr Castorp, – im Vollgefühl Ihrer untadeligen Gesundheit! Schlafen Sie wohl und auf Wiedersehn!“ Was darauf folgt, widerlegt die optimistische Selbsteinschätzung Castorps und bestätigt die Skepsis des Psychoanalytikers. Der müde Castorp schläft in der kommenden Nacht schlecht und träumt die ganze Nacht, „zwischen verschiedenen Gemütsbewegungen hin und her geworfen, bis der Morgen durch seine halboffene Balkontür graute und ihn weckte.“ So endet das erste Kapitel des Romans und kündigt damit etwas vom folgenden Zustand eines erkrankenden Castorp an.

Es geht dabei vor allem auch um psychische Konflikte, die schon im Tod in Venedig dargestellt wurden. Die Novelle spielt in einer Zeit der Kriegsgefahr, erzählt jedoch mit wiederkehrenden Vokabeln wie „Kampf“, „Sieg“ oder „Niederlage“ vom Tod eines zivilisierten, um seine Autonomie ringenden Subjekts. Der „Schauplatz“ der Geschehnisse in jenem furchtbaren Traum, den Aschenbach gegen Ende hat, ist „seine Seele selbst“. Sie wird zum Kriegsschauplatz, wenn es heißt: „Und sie brachen von außen herein, seinen Widerstand – einen tiefen und geistigen Widerstand – gewalttätig niederwerfend, gingen hindurch und ließen seine Existenz, ließen die Kultur seines Lebens verheert, vernichtet zurück.“ Der Zug des Dionysos im Kopf des Träumenden überwältigt den sich voller Angst dagegen wehrenden Geist: „Groß war sein Abscheu, groß seine Furcht, redlich sein Wille, bis zuletzt das Seine zu schützen gegen den Fremden, den Feind des gefaßten und würdigen Geistes.“ In der Kampfmetaphorik von Nietzsches Tragödienschrift gesprochen, kann sich in Aschenbach das „Kriegslager des Apollinischen […] gegen das titanisch-barbarische Wesen des Dionysischen“ (Nietzsche) nicht mehr behaupten.

Die frappierenden Parallelen der eigenen Novelle zu Wilhelm Jensens Novelle Gradiva legen nahe, dass Mann nicht nur diese kannte, sondern auch Freuds 1907 unter dem Titel Der Wahn und die Träume in W. Jensens Gradiva erschienene Interpretation dazu. Manfred Dierks (1991) hat dafür etliche Belege angeführt und auch im Zauberberg zum Teil wörtliche Übereinstimmungen mit Freuds Interpretation entdeckt. Sie betreffen vor allem die Schilderungen von Castorps Träumen. Aber auch die Metaphorik des Kampfes spielt in Freuds Analyse eine bedeutende Rolle. Was sich in Jensens Protagonisten „abspielt“, beschreibt Freud als „Kampf zwischen der Macht der Erotik und den sie verdrängenden Kräften; was sich von diesem Kampf äußert, ist ein Wahn.“

Solche Krankheitssymptome gleichen zum Teil denen, über die Krokowski im „Analyse“-Kapitel öffentlich berichtet. Zu seinem Publikum gehört dabei auch Castorp. Bei seinem Vortrag über Liebe illustriert der Psychoanalytiker, der „selbst in seiner Person den Kampf zwischen Keuschheit und Leidenschaft zu versinnbildlichen“ scheint, in der Metaphorik des Kampfes wichtige Bestandteile psychoanalytischer Theorie. Der „Kampf“ zwischen zwei „Kräftegruppen“, dem „Liebesdrange“ und dessen „gegnerischen Impulsen, unter denen Scham und Ekel besonders zu nennen seien“, werde „in den Untergründen der Seele geführt“ und verhindere „jene Einfriedung, Sicherung und Sättigung der irrenden Triebe, die zur üblichen Harmonie, zum vorschriftsmäßigen Liebesleben führe.“ Der „Widerstreit“ ende nur mit einem „Schein- und Pyrrhussieg“ der Keuschheit; denn die „unterdrückte Liebe“ erscheine wieder, wenn auch in verwandelter Form, nämlich in „Gestalt der Krankheit“.

Die sich in der Psyche abspielenden Kämpfe, deren Darstellung in der damaligen literarischen Moderne weit verbreitet war, betreffen nicht nur Krokowski und Castorp, sondern die ganze Zauberberg-Gesellschaft und auch die Konflikte zwischen den Personen in ihr. Antagonisten sind vor allem Settembrini als Repräsentant aktiver Aufgeklärtheit und der gegenaufklärerische Naphta, der ihn als Zivilisationsliteraten verspottet. Settembrini wiederum hat gegenüber Krokowski und der Psychoanalyse eine zwiespältige Einschätzung. Auf die Frage „Sind Sie schlecht auf die Analyse zu sprechen?“ antwortet Settembrini: „Sehr schlecht und sehr gut, beides abwechselnd“. Die Psychoanalyse sei gut als ein „Werkzeug der Aufklärung und der Zivilisation“, das „dumme Überzeugungen erschüttert“, „die Autorität unterwühlt“ und „Knechte reif macht zur Freiheit“. Sie sei schlecht, „insofern sie die Tat verhindert, das Leben an den Wurzeln schädigt, unfähig, es zu gestalten“. Weniger ambivalent ist Thomas Manns Einschätzung der Psychoanalyse und ihres Repräsentanten im eigenen Roman. Dr. Krokowski sei zwar „ein bißchen komisch“, erklärte er 1925 über Mein Verhältnis zur Psychoanalyse. „Aber seine Komik ist vielleicht nur eine Schadloshaltung für tiefere Zugeständnisse, die der Autor im Inneren seiner Werke der Psychoanalyse macht.“

Nicht komisch wirkt auch der im „Analyse“-Kapitel geschilderte Auftritt Krokowskis mit seiner Rede, die das Publikum beeindruckt. Am Ende sieht er „beinahe aus wie der Herr Jesus am Kreuz!“ Der Vergleich geht in den nächsten Sätzen mit einer wörtlichen Anspielung auf die Bibel weiter, in der Jesus sagt: „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid“. Im Zauberberg steht: „Es stellte sich heraus, daß Dr. Krokowski am Schlusse seines Vortrages große Propaganda für die Seelenzergliederung machte und mit offenen Armen alle aufforderte, zu ihm zu kommen. Kommet her zu mir, sagte er mit anderen Worten, die ihr mühselig und beladen seid! Und er ließ keinen Zweifel an seiner Überzeugung, daß alle ohne Ausnahme mühselig und beladen waren. Er sprach von verborgenem Leide, von Scham und Gram, von der erlösenden Wirkung der Analyse; er pries die Durchleuchtung des Unbewußten, lehrte die Wiederverwandlung der Krankheit in den bewußt gemachten Affekt, mahnte zum Vertrauen, verhieß Genesung.“

Nach dem Analyse-Kapitel spielt Krokowski im Zauberberg eine zunehmend seltenere Rolle. Doch gegen Ende des Romans, im drittletzten Unterkapitel mit dem Titel „Fragwürdigstes“, wird er wieder zu einer zentralen Figur – mit gewandelten Einstellungen. „Mit Edhin Krokowskis Konferenzen hatte es im Laufe der Jährchen eine unerwartete Wendung genommen.“ Seine Vorträge „handelten nicht mehr von verkappter Liebesbetätigung und Rückverwandlung der Krankheit in den bewußt gemachten Affekt, sie handelten von den profunden Seltsamkeiten des Hypnotismus und Somnambulismus, den Phänomenen der Telepathie, des Wahrtraums und des Zweiten Gesichtes, den Wundern der Hysterie“. Der Erzähler nimmt dabei Krokowski gegenüber seinen fragwürdigen Kritikern in Schutz, „weil wir es für unsere Pflicht halten, leichtfertige Geister zu beschämen, die wissen wollten, Dr. Krokowski habe sich nur aus der Sorge, seine Vorträge vor heilloser Monotonie zu bewahren, zu rein emotionellen Zwecken also, dem Verborgenen zugewandt. So sprachen Lästerzungen, an denen es nirgends fehlt.“

Nach der Veröffentlichung des Romans hat ebenfalls Thomas Manns Umgang mit Freud eine Wendung genommen. Motiviert wohl auch durch die abgeschlossene Arbeit am Zauberberg, beginnt Thomas Mann danach eine intensivere Lektüre von Freuds Schriften, schreibt über ihn immer mehr, wechselt mit ihm Briefe und gehört, wie schon erwähnt, 1930 zu den dreißig Schriftstellern, die einen Antrag auf Verleihung des Nobelpreises an Sigmund Freud unterschreiben. Freuds Position bei der Analyse der Kämpfe in der Psyche der Menschen entwickelt das Konzept eines integrativen, selbstreflexiven Ich, das die Ansprüche des Es, der Realität und des Über-Ich gleichsam pazifistisch auszugleichen versucht. Dem schließen sich Thomas Manns Aufsätze über ihn weitgehend an. Und auch schon Der Zauberberg steht ihm darin nah.

Hinweise: Der Beitrag greift auf meinen Vortrag zurück, der am 29. Juni 2024 mit dem Titel „Beziehung von Literatur und Psychoanalyse am Beispiel von Franz Kafka und Thomas Mann“ in der Akademie für Psychoanalyse und Psychotherapie München gehalten wurde. Eine erweiterte Fassung erscheint im Januar 2025 im „Zauberberg-Handbuch“, herausgegeben von Anke Detken, Tom Kindt, Kai Sina im Verlag J.B. Metzler (siehe https://link.springer.com/book/9783476059864).