Ungewöhnliche Familienbande

Clara Dupont-Monod schreibt darüber, was es mit einer Familie macht, wenn ein Kind schwerbehindert zur Welt kommt – eine bereichernde Lektüre

Von Florian BirnmeyerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Florian Birnmeyer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Kind kommt auf die Welt – an sich nichts Ungewöhnliches. Doch was geschieht, wenn dieses Kind schwer behindert ist, nicht sprechen und nicht sehen kann und auch in seinen Bewegungen stark eingeschränkt ist? Clara Dupont-Monod widmet sich in ihrem Roman Brüderchen (frz. S’adapter) einprägsam und einfühlsam genau dieser Frage. Ihr Blick auf die Dynamiken einer Familie, die durch ein beeinträchtigtes Kind aus dem Gleichgewicht gerät, ist präzise, human und niemals respektlos.

Gleich vorweg: Dieses besondere Buch habe ich nicht unbeteiligt gelesen. Das Thema Krankheit berührt mich persönlich, da ich selbst Erfahrungen mit gesundheitlichen Einschränkungen gemacht habe. Vielleicht hat mich das Buch deshalb so sehr bewegt, dass ich es bereits zweimal gelesen habe: zuerst im französischen Original, später in der deutschen Übersetzung. Beide Versionen überzeugen gleichermaßen, auch wenn der Sprachrhythmus der französischen Ausgabe die ländliche Region der Cevennen, in der der Roman spielt, noch intensiver einfängt.

Die Handlung ist in einer abgeschiedenen Gegend in den Bergen angesiedelt, wo die Familie in einem kleinen Haus lebt. Das Besondere an der Erzählperspektive: Es sind die alten Mauern dieses Hauses, die uns die Geschichte berichten. Sie schildern, wie das Baby geboren wird, wie es Teil der Familie wird – und wie es von den einzelnen Mitgliedern aufgenommen oder abgelehnt wird. Während die Eltern sich mit der Anerkennung der Behinderung und den damit verbundenen administrativen Hürden auseinandersetzen, nimmt der ältere Bruder das hilflose Kind unter seine Fittiche. Seine Hingabe führt jedoch bei der Schwester zu Unverständnis und Trotzreaktionen, bis hin zu einer zunehmenden Distanzierung vom behinderten Kind. Als das „Brüderchen“ schließlich stirbt, schildert Dupont-Monod diesen Verlust ebenso behutsam wie einprägsam.

Die Autorin dringt immer tiefer in das Beziehungsgeflecht der Familie vor. Als ein Nachzügler geboren wird, soll er die Lücke füllen, die der verstorbene Bruder hinterlassen hat. Doch der nicht selbst erlebte Tod wird für das neue Kind zu einem unsichtbaren, aber ständigen Begleiter – ebenso wie für die gesamte Familie. Diese Dynamik erinnert stellenweise an Annie Ernaux’ Erählung L’autre fille (dt. Das andere Mädchen), in der der Verlust eines Geschwisterkindes ebenfalls prägend für die Familie ist.

Jedes der Geschwister trägt seine eigene Last: Trauer, Wut, Angst, Schuld und Scham prägen ihre Gefühlswelt. Dupont-Monod gelingt es, die gesamte Bandbreite menschlicher Emotionen einzufangen und auf kleinem Raum ein Panorama des (Gefühls-)Lebens zu entwerfen. Als Leser*in fühlt man nicht nur mit, sondern fiebert regelrecht mit den Figuren mit.

Gerade diese emotionale Nähe macht Brüderchen zu einem berührenden und bereichernden Roman, dessen Lektüre lange nachhallt. Der Roman besticht durch seinen natürlichen, respektvollen Umgang mit dem Thema Behinderung, der weder verharmlost noch dramatisiert. Mit gutem Grund wurde er 2021 mit dem Prix Goncourt des Lycéens und dem Prix Fémina ausgezeichnet. Clara Dupont-Monod zeigt in S’adapter Familienbande der besonderen Art – ein Werk, das uneingeschränkt empfehlenswert ist.

Titelbild

Clara Dupont-Monod: Brüderchen. Roman.
aus dem Französischen von Sonja Finck.
Piper Verlag, München 2023.
176 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783492320863

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