Wie selbstbestimmt sterben?

Der von Wolfram Eberbach und Nikolaus Knoepffler herausgegebene philosophische Jahrbuchband „Mein Tod gehört mir“ versammelt multiperspektivische Positionen zur aktualisierten „Debatte um die Hilfe zur Selbsttötung“

Von Thomas MerklingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Merklinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 26. Februar 2020 kippte das Bundesverfassungsgericht die zum damaligen Zeitpunkt etwas mehr als vier Jahre alte Gesetzesregelung zur geschäftsmäßig vorgenommenen Suizidhilfe und hat damit die rechtliche Situation vor dem Ende 2015 eingeführten § 217 StGB wiederhergestellt. In der Begründung verwies das Gericht darauf, dass die vom Grundgesetz garantierte Selbstbestimmung des Menschen auch eine Entscheidung zum Suizid sowie die Inanspruchnahme von Suizidassistenz einschließe, die Umsetzung eines solchen Entschlusses durch das Verbot der geschäftsmäßigen Hilfe zur Selbsttötung aber de facto verunmöglicht werde.

Da es vor 2015 keine eigene gesetzliche Regelung gegeben hat, bleibt damit vorerst bestehen, dass Selbsttötung keine Straftat darstellt und damit auch die Beihilfe dazu grundsätzlich nicht strafbar sein kann. Im Gegensatz zur Tötung auf Verlangen sind es hierbei schließlich die Suizidwilligen, die eine letzte Entscheidung treffen. Es bleiben jedoch auch Unsicherheiten bestehen, wie im konkreten Fall mit Suizidassistenz umzugehen sei, da man sich in Garantenstellung oder bei unterlassener Hilfeleistung durchaus strafbar machen kann. Schon deshalb ist eine gesetzliche Regelung wichtig, um zu regeln, wem es unter welchen Bedingungen erlaubt sein sollte, bei einem Suizidwunsch zu assistieren.

Mit der Möglichkeit einer gewerbsmäßig (also wiederholt) ausgeübten Suizidhilfe ergibt sich aber auch die Gefahr, dass die Freiwilligkeit einer Suizidentscheidung durch äußeren Druck oder gefühlte Verpflichtung eingeschränkt würde, so dass dem Staat zugleich eine Schutzpflicht des Lebens zukommt. Das sieht auch das Bundesverfassungsgericht, mahnt jedoch an, dass das Freiheitsrecht, Suizidhilfe in Anspruch nehmen zu dürfen, prinzipiell gewahrt bleiben müsse. Die damit notwendig gewordene Neuregelung des § 217 StGB aktualisiert auch die Debatte zur Suizidassistenz sowie ganz allgemein die Frage, wie über den eigenen Tod entschieden werden darf.

Um darüber zu diskutieren, hat das Ethik-Zentrum der Friedrich-Schiller-Universität Jena sowie die Neue Thüringische Gesellschaft für Philosophie e.V. am 15. November 2021 zum Thüringentag für Philosophie eingeladen. Die multidisziplinären Beiträge aus medizinischer, psychotherapeutischer, juristischer, theologischer und philosophischer Sicht liegen nun mit dem von Wolfram Eberbach und Nikolaus Knoepffler herausgegebenen 23. Band des Kritischen Jahrbuchs der Philosophie unter dem Titel Mein Tod gehört mir. Zur Debatte um die Hilfe zur Selbsttötung vor.

Mit zwei auf- und auseinander folgenden Beiträgen setzt sich Wolfram Eberbach einerseits mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts sowie andererseits einer Übersicht und Kritik der dadurch notwendig gewordenen Gesetzesentwürfe zur Neuregelung des § 217 StGB auseinander. Dabei wird deutlich, wie schwierig es ist, einen Ausgleich zwischen Freiheitsrecht und Lebensschutz herzustellen. Das Bundesverfassungsgericht bietet Argumente für beide Positionen, verweist die Aufgabe, eine Konkordanz zu finden, allerdings an den Gesetzgeber mit der Vorgabe, nun eine realistische Möglichkeit zu schaffen, Hilfe zur Selbsttötung in Anspruch zu nehmen, die dem Selbstbestimmungsrecht Rechnung trägt. So folgt aus der Schutzpflicht des Staates zwar, dass ein Sicherungssystem eingerichtet werden dürfe, das die Ernsthaftigkeit und Selbstbestimmtheit eines Suizidwilligen prüft. Da der Sterbewunsch und die ihm zugrundeliegenden Motive aber, um autonom zu sein, keiner äußeren Bewertung unterworfen sein dürfen, ja nicht einmal begründet oder gerechtfertigt werden müssen, ergibt sich hieraus bereits das Problem, wie im Sinne des Lebensschutzes der anhaltende, ernsthafte und eigenständige Sterbewunsch objektiv geprüft werden kann.

Eberbach arbeitet die durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts benannten Spannungsfelder heraus und endet in seinem ersten Beitrag mit dem Ausblick, dass es „[a]bzuwarten bleibt, ob die Gesetzentwürfe für eine Neuregelung der hier behandelten Problematik angemessene Lösungen bieten.“ Das Ergebnis einer Sichtung der 2020/2021 vorliegenden Gesetzesvorschläge in seinem zweiten Beitrag fällt jedoch eher ernüchternd aus, da in den meisten Gesetzesvorschlägen hohe Anforderungen errichtet werden, die es erschweren, das Recht auf Suizidassistenz in Anspruch zu nehmen. Indem man in seinem Suizidwunsch auf die Hilfe anderer angewiesen ist, um das benötigte Medikament zu erhalten, ergibt sich zwangsläufig schon eine Einschränkung der Autonomie, die je nach Rigidität der auferlegte Sicherungsregelungen weiter minimiert wird. Hier stellt sich konkret die Frage, wieviel Selbstbestimmung man gesetzgeberisch zulassen möchte.  

Zuletzt liegt die prinzipielle Schwierigkeit, wie Eberbach resümierend anführt, in der gesetzgeberischen Notwendigkeit eines Ausgleichs, der im Falle der Frage von Leben und Tod zentrale, entgegenstehende Werte zu harmonisieren hat. Neben Selbstbestimmungsrecht und Lebensschutz gehe es auch um ärztliches Ethos und Familienbindungen. Die bundesverfassungsgerichtlich auferlegte Aufgabe, hier einen Kompromiss zu finden, ist gewiss schwierig. In den Gesetzentwürfen, die für eine erste Orientierungsdebatte vorlagen, sei dies allerdings noch nicht überzeugend gelungen.

Wie komplex die konkrete Sachlage ist, verdeutlichen jedoch nicht nur die Anmerkungen Eberbachs, sondern auch die Beiträge des Palliativmediziners Ulrich Wedding und der Klinischen Psychologin Ilona Croy. Dabei geht es zum einen um die Rolle der Medizin im Spannungsfeld politischer Wünsche, praktischer Kompetenz und dem beruflichen Ethos, das Suizidassistenz nicht unbedingt einschließt. Es stellen sich auch Fragen bei der Einschätzung eines echten Suizidwunsches. Im ärztlichen Erleben Weddings zeigt sich Suizidwilligkeit oft als hybride Gemengelage von Lebens- und Todeswunsch und hat vielfältige Ursachen, die in der Regel anderer Lösungen als der Selbsttötung bedürfen. Das Wissen um palliative Möglichkeiten könne häufig schon helfen.

Aus psychotherapeutischer Perspektive ergibt sich andererseits das Problem, dass Suizidalität an sich ein klinisches Phänomen ist: Der länger auftretende Suizidwunsch ist ohne die Abwesenheit psychischer Krankheitssymptome fast nicht denkbar. Wenn der Wunsch zu sterben als Ausdruck freier Willensentscheidung gesehen werden muss, schließt das eine psychische Erkrankung aus, die paradoxerweise aber sehr wahrscheinlich gerade dann gegeben ist, wenn ein dauerhafter Sterbewunsch vorliegt. So gibt Ilona Croy die Empfehlung, statt neutraler Überprüfung eines Suizidwunsches eher zu beraten und psychotherapeutische Unterstützung anzubieten.

Gemessen an den empirischen Daten aus Ländern, in denen Suizidassistenz erlaubt ist oder zumindest toleriert wird (vor allem die Niederlande, Belgien, die Schweiz und Oregon), zeigt sich, dass es bei der Suizidassistenz zahlenmäßig um einen relativ kleinen lebensweltlichen Bereich geht und sich Befürchtungen über sozialen Druck und Sterbewellen nicht erhärten ließen. Darauf weist Gian Domenico Borasio, Palliativmediziner in der Schweiz, in seinem Buch Selbst bestimmt sterben hin, woraus einige Teile aktualisiert und angepasst den Jahrbuchband eröffnen. Zwar wird Tötung auf Verlangen dort vorgezogen, wo sie erlaubt ist, da es offenbar leichter ist, durch fremde Hand zu sterben, die Institutionalisierung und geordnete Regelung der Suizidassistenz hat allerdings auch zu einem Ausbau der Palliativbetreuung geführt.

Zudem kann die Möglichkeit einer Hilfe zur Selbsttötung sogar suizidpräventiv sein, weil allein das Wissen um diese Option schon eine beruhigende Wirkung besitzt. Etwa ein Drittel der Suizidwilligen, die sich in Oregon qualifizieren, nehmen das tödliche Medikament am Ende nicht ein, hätten sich womöglich aber ohne das Programm auf andere Weise selbst getötet. Der Gesetzesentwurf, den Borasio zusammen mit Ralf J. Jox, Jochen Taupitz und Urban Wiesing verfasst hat, orientiert sich schließlich „bewusst“ am Modell Oregons, wo Beratung und Suizidhilfe in ärztliche Hände gelegt werden. Gleichzeitig weist Borasio aber darauf hin, dass Selbstbestimmung am Lebensende ganz entscheidend von einer besseren Pflege und palliativen Betreuung abhängt.

Dass eine Verbesserung der Pflege am Lebensende nötig ist, ist bei allen weltanschaulichen Differenzen auch unumstritten. Wie darüber hinaus allerdings grundsätzlich mit einem Suizidwunsch umzugehen sei, ist Gegenstand von Kontroversen, die sich in den theologischen und philosophischen Beiträgen des Sammelbands zeigen. Diese Texte sind teilweise aufeinander bezogen.

Innerhalb des theologischen Diskurses werden von Reiner Anselm sowie Peter Dabrock und Wolfgang Huber unterschiedliche Positionen vertreten, die sie bereits im Januar 2021 in FAZ-Beiträgen vorgebracht haben. Reiner Anselm führt (im Anschluss an seinen mit Isolde Karle und Ulrich Lilie verfassten Text in der FAZ) aus, dass der Suizid aus theologischen Gründen nicht prinzipiell abzulehnen sei, sondern als Möglichkeit zur gottgegebenen Freiheit des Menschen gehöre. Daher sollte sich das Augenmerk auf eine an ethischen Standards orientierte, das heißt ‚professionalisierte‘ Form der Suizidassistenz richten. Die Gegenrede von Dabrock und Huber – beide wie Anselm Professoren für Systematische Theologie – findet sich in dem Jahrbuch erneut abgedruckt und trägt grundsätzliche Argumente und Sorgen vor, die bei beiden christlichen Kirchen vorhanden sind.

Aus philosophischer Perspektive setzt sich Klaus-Michael Kordalle in zwei Beiträgen mit den christlichen Argumenten der Orientierungsdebatte im Bundestag am 21. April 2021 sowie dem FAZ-Text von Dabrock/Huber auseinander, während Nikolaus Knoepffler den unterschiedlich gefassten Begriff der Menschenwürde und Selbstbestimmung einerseits als Pflichtprinzip (christliche Theologie, Immanuel Kant), andererseits als Rechtsprinzip (Grundgesetz) herausstellt. Die gesetzgeberische Schwierigkeit, Selbstbestimmung und Lebensschutz miteinander zu vereinbaren, ergibt sich zuletzt auch aus weltanschaulichen Differenzen, so dass die Debatte darum, wie ein Kompromiss erreicht werden kann, für Knoepffler „gerade erst richtig begonnen“ hat: „Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist in diesem Sinn kein Abschluss der Debatte, sondern setzt einen neuen Anfang.“

Die prinzipiellen Konfliktlinien und Argumente hinsichtlich der Frage nach einem selbstbestimmten Tod haben sich durch das Urteil nicht geändert und werden durch den Text von Dabrock und Huber sowie die Erwiderungen von Kordalle deutlich. Jenseits dieser Argumente scheinen aber auch politische Erwägungen auf, insofern die lehramtliche Haltung der katholischen Kirche, wie sie in der päpstlichen Enzyklika Evangelium Vitae (1995) sowie dem Brief der Glaubenskongregation Samaritanus Bonus (2020) zum Ausdruck kommt, für die ökumenische Einheit sowie die Gewissensentscheidung katholischer Abgeordneter eine unverrückbare Position vorstellt, die stets mitzuberücksichtigen ist.

Zugleich können lebensverlängernde Maßnahmen „im medizinisch-technischen Komplex“ (Kordalle) auch ein Faktor sein, sich bewusst für einen selbstbestimmten Tod zu entscheiden. Die Diskussion um Sterbehilfe und Suizidassistenz ist damit nicht nur eng verzahnt mit der medizinischen Praxis, sondern auch mit ökonomischen Aspekten. Darauf weisen auch Dabrock/Huber hin. Vielleicht – das gibt Borasio zu bedenken – wäre es schon deshalb notwendig, die Frage der Suizidassistenz möglichst schnell gesetzlich zu regeln, damit sich die diskursive Energie von dieser Fragestellung auf grundlegendere ethische Probleme im medizinischen Bereich lenken lässt.

Die nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts neu entflammte Debatte um die Frage nach Suizidassistenz ist komplex, kontrovers und multiperspektivisch. Mit direktem Bezug auf die anstehende Neuregelung des § 217 StGB bietet der Jahrbuchband einen Einblick in zentrale Themenfelder und Positionen, zeigt aber auch, wie schwierig es werden wird, die Vorgaben aus Karlsruhe und die weltanschaulichen Differenzen gesetzgeberisch zu harmonisieren.

Titelbild

Wolfram Eberbach / Nikolaus Knoepffler: Mein Tod gehört mir. Zur Debatte um die Hilfe zur Selbsttötung.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2022.
162 Seiten , 40,00 EUR.
ISBN-13: 9783826077487

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