Wenn das Ich ein Beiwerk des Selbst ist
Luis Ruby gelingt eine großartige Neuübersetzung von Clarice Lispectors Roman „Die Passion nach G. H.“, in dem die Autorin tief in eine philosophisch-poetische Suche nach der menschlichen Identität eintaucht
Von Nora Eckert
Dieser Text ist eine Zumutung, ohne Frage, aber der Erkenntnisgewinn ist nicht unerheblich, so man sich auf ihn einlässt, sich ihm gewissermaßen ausliefert. Der Übersetzer Luis Ruby nennt ihn in seinen Nachbemerkungen einen krassen Gegenentwurf zu ideologischem Denken. Und es geht darin in der Hauptsache um das Denken, das ein Ich samt dem Selbst umkreist. Weshalb Ruby für sich die Aufgabe als Übersetzer so definierte: „Keine Interpretation liefern, vermeintlich oder auch real Verdautes, sondern, das dichte Gewebe und seinen Reichtum an Vektoren in unterschiedlichen Richtungen, möglichst genau und möglichst unbeschwert: das war mein Suchen und Finden.“ An enigmatischen wie poetischen Sätzen, an denen wir buchstäblich hängenbleiben und die uns zum Innehalten zwingen, hat es darin jedenfalls keinen Mangel. Sie tun es, weil sich in ihnen immer wieder unversehens weite philosophische Felder auftun. Rätsel, Verunsicherungen und Widersprüche sind die beständigen Wegbegleiter der Lektüre.
„—— ich bin am Suchen, am Suchen“, lautet der erste Satz,
[i]ch versuche zu verstehen. Versuche, jemandem zu geben, was ich erlebt habe, und weiß nicht, wem, aber ich will nicht behalten, was ich erlebt habe. Ich weiß nicht, was ich aus dem Erlebten machen soll, ich habe Angst vor dieser tiefen Unorganisiertheit. Ich traue dem nicht, was mir geschehen ist. Ist mir etwas geschehen, das ich nicht zu leben wusste und deshalb als etwas anderes gelebt habe?
Gut zweihundert Seiten später schließt die „Passion“ mit der Erkenntnis:
„Die Welt hing nicht von mir ab – das war das Vertrauen, zu dem ich gelangt war.“ Aber sie begreife nicht, was sie gerade gesagt hat und werde es nie begreifen. Denn wie könnte ich sagen, ohne dass das Wort für mich lügen würde? wie könnte ich sagen, wenn nicht schüchtern so: Das Leben ist sich mir. Das Leben ist sich mir, und ich verstehe nicht, was ich sage. Und da bete ich an ——.
Am wenigsten ist dieser Text ein Roman. Aber was ist er dann? Über weite Strecken ist er ein innerer Monolog, eine kritische Selbstbetrachtung, ein Selbstgespräch über Gott und die Welt, und dazu passagenweise eine Ansprache an eine nicht anwesende Person, an einen nicht näher beschriebenen Geliebten, der einfach nur Liebling genannt wird. Die Autorin beginnt mit einer Bemerkung „An mögliche Leser“, worin es heißt, sie sei froh, „wenn es von Menschen gelesen würde, deren Seele bereits geformt ist“ und von solchen Menschen, „die als Einzige ganz allmählich begreifen werden, dass dieses Buch niemandem etwas wegnimmt“. Die Figur G. H. habe der Autorin „eine Freude gegeben, die schwierig ist; aber man nennt sie Freude“. Auch das ist keine Aufklärung, eher ein weiteres Rätsel. Denn was könnte uns ein Buch wegnehmen? Gewissheiten etwa? Illusionen? Und was meint ‚schwierige Freude‘?
Auch gibt es so gut wie keine Handlung – es bleibt eine Art Ein-Personen-Stück und spielt in der engen, lichtdurchfluteten, magischen Kammer des Hausmädchens. Was darin geschieht, lässt sich ungefähr so beschreiben: Die Geschichte beginnt damit, dass das Hausmädchen gekündigt hat und die Wohnung verließ. Die Arbeitgeberin, nämlich die mit den Initialen G. H. benannte Frau, geht in jene Kammer, um aufzuräumen, aber es gibt dort nichts sauberzumachen, es gibt nicht die vermutete Unordnung. Stattdessen gibt es Entdeckungen wie etwa eine große Wandzeichnung, die in einfachen Umrissen eine Frau, einen Mann und einen Hund darstellt. Wer soll das sein? Lispector erzählt auf zweihundert Seiten von nichts anderem als von den Wahrnehmungen und Empfindungen, die G. H. in der Kammer macht, begleitet von Gefühlen, Erinnerungen, Mutmaßungen. Die Sonne und ihr grelles Licht spielen eine Rolle, ebenso ein Kleiderschrank und schließlich eine Kakerlake und über all dem vergeht die Zeit.
Die Geschichte, die keine ist, sondern ein wilder, ausufernder Denkfluss, eine Art Bewusstseinsprotokoll, beginnt mit dem Betreten dieser seltsam machtvollen Kammer und endet mit dem Verlassen. Neben den Spekulationen über die Wandzeichnung, die G. H. auf sich bezieht und ihr Gelegenheit gibt, über das Verhältnis zwischen ihr und der Angestellten nachzudenken, spielt eine Kakerlake eine ebenso wichtige Rolle. Sie taucht plötzlich mit dem Öffnen des Kleiderschranks auf. Vor Schreck wird die Schranktür zugeworfen und dabei das Tier zerquetscht. Auch das löst ungeahnte Gedankenspiele und befremdliche Handlungen aus.
Wer ist diese G. H.? Sie lebt allein und führt ein gutes Leben. Sie ist eine erfolgreiche Künstlerin, die Skulpturen anfertigt. Damit verbunden ist ein Ruf von gesellschaftlicher Bedeutung, der sie „in einem Bereich verortet, der gesellschaftlich zwischen Frau und Mann liegt. Was mir viel mehr Freiheit ließ, um Frau zu sein […].“ Gleichwohl nennt sie das Weiblich-sein eine „Gabe“ und ein „Vergnügen“, und ihr Zuhause sei „nichts als eine künstlerische Schöpfung“. „Dieses Bild meiner selbst in Anführungszeichen befriedigt mich […].“ Aber es habe da auch eine Flucht in die Zerbrechlichkeit gegeben mit dem Frausein als eine Ausrede. „Aber ich wusste wohl, dass nicht nur Frauen Angst haben, zu sehen, jeder hat Angst zu sehen, was Gott ist.“
Sie vermutet, sie selbst sei in der Wandzeichnung abgebildet. Jamair, das Schwarze Hausmädchen, habe G. H. aufgrund ihrer Position wohl als Mann wahrgenommen. In Jamairs Stummheit glaubt sie jetzt rückblickend „eine Missbilligung meines Lebens“ zu erkennen – wohl eines Männerlebens. Die Frage stellt sich sogleich: Wer hat wen mehr gehasst? G. H. erinnert sich dabei, wie unsichtbar Jamair in ihrer Kleidung gewesen sei. Diese Entdeckung löst einen Schauer in ihr aus, „dass ich bis jetzt nicht wahrgenommen hatte, dass diese Frau eine Unsichtbare war. Jamair hatte fast nur die äußere Form, die Striche, die im Inneren ihrer Form blieben, waren so sehr aufs Wesentliche reduziert, dass es sie kaum gab: Sie war flach wie ein Basrelief, gebannt auf einer Tafel.“
Unmöglich, hier die Fülle an Gedanken wiederzugeben, sie bleibt jedoch zu konstatieren. Jedenfalls ist es leicht, sich in diesem Text und seiner Sprache zu verlieren mit all dem Unerwarteten und Irritierenden darin. Nur einige Beispiele: „Der Irrtum ist eine meiner unvermeidlichen Arbeitsweisen.“ Was sie später so ergänzt: Beredt werde sie nur, „wenn ich mich irre, der Irrtum bringt mich zum Diskutieren und zum Denken“. Oder: „Durch die Erbsünde haben wir unsere Maske verloren.“ Oder „Ich wollte nicht tot sein, sondern auf ewig weiter sterben in einem Genuss aus höchstem Schmerz.“ Hier nennt die Autorin im Namen von G. H. das Leben eine „höllische Größe“: „Denn nicht einmal mein Körper begrenzt mich, die Barmherzigkeit bewirkt nicht, dass der Körper mich begrenzt. In der Hölle setzt mir der Körper keine Grenzen, und das nenne ich Seele?“ Was immer diese Hölle sei, für sie ist es das Höchste. Ein ziemlich bizarres Versprechen.
In den letzten Jahren gab es einige Neuauflagen und Neuübersetzungen von Clarice Lispectors Werken. Auch wenn sie nur für Ausschnitte aus einem umfangreichen Œuvre stehen, so ist es doch erfreulich, weil damit das Bewusstsein an eine der bedeutendsten Autorinnen des 20. Jahrhunderts wachgehalten wird. Zugleich bietet es eine Chance, einem jüngeren Lesepublikum literarische Entdeckungen zu ermöglichen und ebenso die Einsicht, dass Modernität über Moden und Stile hinweg vor allem eine Denkhaltung bedeutet. Bei Lispector – und das wird in „Die Passion nach G. H.“ besonders deutlich – geht es nicht um Katharsis, der offene Ausgang ist wichtiger. Und dazu braucht es wahrscheinlich den Mut einer Schlafwandlerin, wie es an einer Stelle heißt, die einfach losgehe und dabei erschafft, was ihr geschieht. Was immer das sei, es passt am Ende erstaunlicherweise zwischen zwei Buchdeckel.
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