Wenn die Kunst den Alltag sucht

Der französische Philosoph Jacques Rancière erklärt uns in „Emanzipation denken“, wo und wie Emanzipation entsteht und was die Künste zu einer egalitären Gesellschaft beitragen

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der 1940 in Algier geborene Philosoph und Kulturtheoretiker Jacques Rancière steht schon lange in der ersten Reihe unter Frankreichs Intellektuellen. Seine Produktivität ist mit etwa 40 Buchpublikationen mehr als beeindruckend. Sein Denken durchleuchtet zwei wesentliche Felder – die politische Philosophie (hervorzuheben ist das Schlüsselwerk „La Mésentente“ von 1995, deutsch „Das Unvernehmen“) und die Künste (und hier vor allem Film und Literatur), denen er sich mit Leidenschaft widmet.

Hier wie dort spielen Begriffe wie Revolution und Emanzipation eine bedeutende Rolle, doch seine Sympathie liegt klar auf Seiten einer emanzipativen Praxis, denn in Revolutionen erkennt er am Ende nur eine Art „Nullsummenspiel“. Sie würden uns nicht wirklich von Herrschaftsstrukturen befreien, sondern lediglich neue Hierarchien und Ungerechtigkeiten schaffen. So gesehen, ließe sich die Geschichte der Revolutionen mühelos als das große Buch des Scheiterns lesen, um Rancière in seinem fundamentalen Zweifel recht zu geben. Was freilich keineswegs bedeutet, dass Dinge sich nicht ändern müssten oder sich nicht zum Besseren ändern lassen, nur fängt der Philosoph mit der Emanzipation ganz unten an, nämlich beim einzelnen Menschen. Dass dieser Einzelne sich als politisches Subjekt begreife und daraus eine politische Aktion erwachsen könne, stelle jedes Mal die Gesellschaftsordnung in Frage.

Damit ist noch nicht gesagt, auf was diese anti-autoritäre Politik von unten schließlich hinausläuft. Gleichwohl erscheint Rancières Antwort auf das revolutionäre Scheitern mit seinem oppositionellen Plädoyer für eine anti-autoritäre Politik einleuchtend. Denn was wir in der jüngeren, bürgerbewegten Geschichte unseres Landes an sozialen Bewegungen erlebt haben, folgt ja mehr oder weniger diesem Modell. Nur behält Rancière ebenso recht, wenn er sagt, wir werden die Herrschaft nicht los. Was uns zugleich an Michel Foucaults omnipräsenten Begriff der Macht erinnert, die, wie im Wettlauf vom Hasen und Igel, den Igel mit seinem „Ich bin schon da“ permanent kopiert.

Die im Passagen Verlag gerade erschienenen Gespräche mit Rancière, geführt von dem Literaturkritiker Aliocha Wald Lasowski, lesen sich wie eine Einführung in die hier angeschnittenen Fragen – so beispielsweise, was dieses Ganz-unten-beginnen bedeutet. Bevor Emanzipation praktisch wird und unser Leben verändert, denken wir sie. Ohne das hier vertiefen zu können, so fällt doch eine gewisse Parallele zu Ernst Blochs antizipierendem Bewusstsein auf, einem Schlüsselbegriff in seinem Hauptwerk Prinzip Hoffnung. Rancière sagt, Emanzipation beginne in der Sprache. Neue Formen der Solidarität, des Handelns, der Identität und des Kampfes um diese neuen Formen, entstehen aus „Sprachereignissen“, und zwar aus solchen, in denen der Akzent auf Dissens liege. Denn Dissens öffne geschlossene Hierarchien und mache sie brüchig. So gesehen könne man letzten Endes Wörter als den „sinnlichen Stoff der Demokratie“ bezeichnen. Was übrigens auch an Hannah Arendts Feststellung erinnert, erst die Sprache habe den Menschen zu einem politischen Wesen werden lassen.

Aus einer gesellschaftlich zugewiesenen Kondition auszubrechen und damit aus an sie geknüpfte Seins-, Denk- und Handlungsweisen mag ihren Ausgang in der Erfahrung von Ungleichheit und Ungerechtigkeit haben, doch am Ende müsse Emanzipation eben durch Taten und Tatsachen beweisen, dass es diese neuen Formen des Zusammenlebens gebe. Im Alltag stellt sich damit stets die Konsens- und Macht-Frage. Doch das Gesprächsinteresse liegt mehr bei den Fragen des Beginnens und des Entwickelns. Dabei wäre die Praxis-Frage des „Was geschieht dann?“ vor allem mit Blick auf die aktuellen politischen Entwicklungen, wie wir sie in einigen westlichen Demokratien erleben, von besonderer Dringlichkeit. Denn die aus emanzipatorischen Bewegungen gewonnenen Freiheiten und Minderheitenrechte stehen, wie wir schockiert wahrnehmen, plötzlich zur Disposition. Also müsste es heute eher um Besitzstandswahrung gehen, um die Verteidigung des Erreichten, um Schadensbegrenzung und Sicherung von Persönlichkeitsrechten. Das sind allerdings Bereiche, die in den Gesprächen nicht vorkommen.

Wenn Rancière an einer Stelle anmerkt, Demokratie bedeute die Regierung, „die davon ausgeht, dass niemand von sich aus die Merkmale oder Ansprüche der Macht an sich hat“, dann wird zwar genau an dieser Stelle sichtbar, was Demokratie von autoritären und autokratischen Systemen wesentlich unterscheidet – dass es in ihr nämlich keine personalisierte, gottgesandte, privilegiert Macht gibt – dennoch bleibt das Dilemma bestehen, dass Demokratie mit demokratischen Mitteln gewissermaßen abgewählt und zerstört werden kann, um eine personalisierte Macht zu etablieren.

In der Hinwendung der Künste zum Alltag erkennt Rancière von Fall zu Fall ein gleichermaßen emanzipatives Movens. Er erkennt es beispielsweise im Fall von Flaubert, der zwar als „König des L’Art pour l’art“ gelte, der aber stets davon angetrieben war, „alles aus seiner Prosa herauszustreichen, was die Differenz zwischen Kunst und Alltäglichem betonen könnte“. Das war und ist zugleich das Kennzeichen der Moderne – nicht die Trennung von Kunst und Alltäglichem, sondern vielmehr ihre Verschmelzung. Das sei prägender als das Aufkommen von Abstraktion und Zwölftonmusik gewesen. In diesem Sinne favorisiert Rancière eine Kunst, die zu allen Menschen gehe, ohne allerdings im Gespräch zu erklären, inwiefern das wichtig für die soziale Emanzipation sei.

Kritisch – hier im Sinne von realistisch – fällt auch sein Urteil über die politische Rolle und Wirksamkeit von Kunst aus: „Kunst im Allgemeinen macht nicht freier. Schluss mit dem Bild des Künstlers als prinzipiell subversiver Figur!“ Was ihn freilich nicht hindert, der Kunst gesellschaftliche Relevanz beizumessen, aber eben nicht in einem instrumentellen Sinne, sondern eher in einer eigengesetzlichen ästhetischen Paradigmatik:

Die ästhetische Gleichheit – also die Tatsache, dass die Schwierigkeiten eines Farmers aus Wyoming der Kunst nicht weniger würdig sind als die metaphysischen Gemütslagen einer Großbürgerlichen aus den schicken Vierteln von Paris oder Rom – ist nicht etwa dafür verantwortlich, dass eine Geschichte dem politischen Kampf der Unterdrückten nützlicher ist als eine andere. Sie trägt auf ihre Art zu einer egalitären Welt bei, aber es ist eben nicht die eines Instruments im Dienst einer Sache.

Und so fällt auch seine Bewertung des Kinos aus: „[…] egalitär ist zunächst das kinematografische Dispositiv und nicht das, was aus dem Interesse des Kinos für Ungleichheiten und soziale Kämpfe resultiert.“ Um hier zur Literatur zurückzukehren, wichtiger seien eben grundsätzliche ästhetische Richtungsentscheidungen gewesen. So etwa, wenn der moderne Roman die Hierarchie von Fiktion und Realität, von regelloser Fantasie und seriöser Handlung aufgebrochen habe, indem er den Kausalzusammenhang durch eine eher schwache Verkettung ersetzt. Darin folgt er zugleich Virginia Woolfs Kritik an der „Tyrannei des Plots“, diesem „Zwang, die Wahrheit des Lebens in das Korsett einer Geschichte zu sperren“. Vielleicht eine banale Einsicht, aber Emanzipation funktioniert nicht nur stets von unten und damit auf eine elementare Weise, indem wir beginnen, sie zu denken. Zum Elementaren gehört, dass sie ebenso sicher von einem Dissens ausgeht. Rancière besteht jedoch darauf, dass Politik und Ästhetik je eigene Handlungsfelder bezeichnen mit ebenso eigenen Wirkungsmechanismen und -räumen. Als Einstieg in Rancières Denken ist dieser schmale Band gut geeignet und macht durchaus Appetit auf mehr.

Titelbild

Jacques Rancière: Emanzipation denken. Im Gespräch mit Aliocha Wald Lasowski.
Passagen Verlag, Wien 2025.
128 Seiten , 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783709206164

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