Instrument, Methode, Erkenntnisform

Die Fotografien Pierre Bourdieus werden als integraler Bestandteil seiner Forschungen entdeckt

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der vor 20 Jahren verstorbene Pierre Bourdieu (1930–2002) gehört bis heute zu den einflussreichsten französischen Soziologen. Insbesondere seine große Studie Die feinen Unterschiede (La Distinction, 1979; dt. 1982), mit der er Klassenstrukturen in der modernen Gesellschaft aufzeigte, haben ihm bis heute einen Platz in der soziologischen Theoriebildung gesichert. Verhalten und Haltung gehen in Bourdieus Soziologie eine enge Verbindung mit den unterschiedlichen Kapitalformen ein, deren prominenteste wirtschaftliches und kulturelles Kapital sind. Sie bestimmen so soziales Handeln entscheidend mit.

Begonnen hat Bourdieu allerdings als Feldsoziologe, der sich intensiv mit der unter dem Einfluss der französischen kolonialen Herrschaft zerfallenden kabylischen Kultur in Algerien beschäftigte. Sein Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft (zuerst 1972; dt. 1976) stützte sich zwar auf die ausführliche Beschreibung und Auswertung von Strukturen einer traditionalen Gesellschaft, zeigte aber zugleich generelle Grundzüge sozialen Verhaltens und Handelns, die auch noch in anderen Gesellschaften Gültigkeit haben. Insofern beerbte Bourdieu mit seinem frühen Werk den Ansatz der Soziologen des 19. Jahrhunderts, etwa Emile Durkheims und Max Webers, die ethnologische Studien als Basis soziologischer Erkenntnis betrieben, die Engführung von Anthropologie und Soziologie also von vorneherein mit der Begründung der beiden Fächer betonten.

In der deutschsprachigen Rezeption Bourdieus war freilich nicht wesentlich, dass Bourdieu bei seinen Feldstudien ein umfangreiches fotografisches Portfolio angelegt hat, das seine Studien nicht nur illustrierte, sondern das er als „Instrument, Methode und Erkenntnisform soziologischer Forschung“ nutzte. 

Mit diesem klaren Statement überschreiben die Herausgeber des jetzt erschienenen Auftaktbandes der bei Transcript in Bielefeld erschienenen Bourdieu-Studien den Ansatz, mit dem sie die Verwendung der Fotografie bei Bourdieu bewerten wollen. 

Ein Portfolio von 3.000 Fotografien hat Bourdieu während seiner Feldstudien zusammengestellt. Etwa 1.200 sind mittlerweile ins Archiv der Fotografiezeitschrift „Camera Austria“ übergeben worden und sollen unter der Adresse www.bourdieu-photo-archive.com öffentlich zugänglich sein. Allerdings ist der Zugang derzeit passwortgeschützt; das Passwort muss angefragt werden. Der Zugang soll künftig aber wieder freigegeben werden. Zuvor ist bereits ein Band mit Algerien-Fotografien Bourdieus unter dem Titel In Algerien vorgelegt worden (2003 bei Camera Austria in Graz erschienen, 2009 beim Herbert von Halem Verlag, Köln, in der 2. Auflage).

Mit dem von Franz Schultheis und jüngst verstorbenen Stephan Egger herausgegebenen Band Pierre Bourdieu und die Fotografie wird eine Reihe von Bänden eingeleitet, die sich vier Aspekten in Bourdieus Werk annehmen, die für seine Verwendung von Fotografie relevant sein sollen: Habitat und Habitus, Geschlechterverhältnisse, Arbeit und Elend sowie Ungleichzeitigkeiten. Der erste der vier Bände hätte, wenigstens wenn man diesem Konzeptband glauben darf, zeitgleich mit ihm erscheinen sollen. Die Publikation steht allerdings zum jetzigen Zeitpunkt noch aus.

Anders als in Auftaktbänden zu anderen größeren Projekten sind große Teile der vorliegenden schmalen Publikation nicht der konzeptionellen, theoretischen oder methodischen Begründung gewidmet. Stattdessen werden auch Zeugnisse von Weggefährten, Kollegen und Begleitern Bourdieus abgedruckt, mit denen die enge Bindung Bourdieus an seinen Gegenstand betont werden soll.

Das ist zu begründen, allerdings auch rasch plausibel: Die kabylische Gesellschaft der Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg war einerseits einer ständigen eben auch destruktiven Dynamik ausgesetzt, die von der Kolonialmacht Frankreich ausging, unterlag andererseits aber auch durch den Krieg, den Algerien gegen die Kolonialherrschaft führte, massiven Veränderungen. Ende der 1950er Jahre, als Bourdieu seine Feldstudien in Algerien durchführte, befand sich das Land also in einer permanenten und zugleich höchst dynamischen Extremsituation, was den Status eines Repräsentanten der Kolonialmacht Frankreich, die unter diesen Umständen ethnologische Studien durchführte, geprägt haben muss.

Die Nähe Bourdieus zu Algerien und seine Distanz zur Kolonialmacht wird mithin in diesem Band nicht zuletzt deshalb betont, um die politische Problematik seiner Feldstudien weitgehend zu umgehen. Lediglich am Rande tauchen zudem die Risiken auf, denen sich Bourdieu dabei aussetzte, seine widersprüchliche Position als Franzose, der sich der Soziologie Algeriens widmete. 

Das ist in der Argumentation der Herausgeber aber nur nachrangig: Folgt man ihrer Argumentation, dann fokussiert Bourdieu auf eine bis dahin von einer traditionalen, von lange zurückreichenden sozialen Regeln bestimmten Gesellschaft, die er „einer neuen ökonomischen Verkehrsweise und Handlungslogik ausgesetzt sieht.“ Das liest sich, als ob Algerien erst im Laufe der 1950er Jahre der kolonialen Veränderungsdynamik ausgesetzt worden wäre und sich bis dahin weitgehend dem Einfluss der Kolonialmacht und ihrem Ausbeutungsregime habe entziehen können. Dies scheint angesichts der langen Kolonialherrschaft Frankreichs in Algeriens, nämlich seit dem frühen 19. Jahrhundert, wenig plausibel. Ein Blick auf die Reportagen Albert Londres‘ (1929, die deutsche Fassung erschien im selben Jahre bereits unter dem Titel Schwarz und weiß) lässt erkennen, dass das wohl ein Anachronismus ist, der sich – was zu klären wäre – wohl auch auf Bourdieus Arbeiten erstreckt.

Allerdings mag diese verkürzte Sicht darauf zurückzuführen sein, dass der Fokus der Herausgeber auf der Verwendung der Fotografie durch Bourdieu liegt, die er bei seinen Erhebungen begleitend einsetzte. Fotografie wird in diesem Zuge als Medium soziologischer Erkenntnis etabliert, allerdings zugleich auf ihre dokumentarische Funktion reduziert. Im Katalog der Funktionen der Fotografie führt Franz Schultheis neben der dokumentarischen Aufgabe als „Spurensicherung“ allerdings noch weitere Aufgaben auf, nämlich die des sozialen „Türöffners“ und eines Vermittlungsmediums mit den beobachteten sozialen Gruppen. Zudem habe die Fotografie dabei geholfen, die überbordenden Eindrücke zu bewältigen, Komplexität zu reduzieren und „die Haltung eines distanzierten Beobachters“ zu konservieren. Schließlich hätten die Fotografien dazu gedient, bei einer erneuten Durchsicht die Erträge der Feldstudien immer auch anders als durch die schriftlichen Aufzeichnungen zu bewerten. Sie hätten mithin über die Erinnerungsstütze hinaus deutlichen Einfluss auf das Werk gehabt.

Spätestens mit dieser Überlegung wird erkennbar, dass Fotografien eben nicht nur dokumentarische Aufgaben haben, sondern eine eigenständige und von der textlichen Bearbeitung abweichende Wahrnehmungs-, Darstellungs- und Erkenntnisform anbieten, die freilich immer der Auslegung bedarf. Immerhin klingelt im Hintergrund noch das Diktum Brechts, dass „eine einfache ‚Wiedergabe der Realität‘“ nichts „über die Realität“ aussage. Die Unterauszeichnung von Fotografien, deren visuelle Unmittelbarkeit mit heuristischer Uneindeutigkeit eingekauft wird, lässt sie also als Diskursform, wenn nicht ungeeignet, so doch wenigstens als schwierig erscheinen. Der „Visuellen Soziologie“, die die Herausgeber mit Bourdieus Fotografien vorzulegen beabsichtigen, droht die Gefahr, am Ende mehr als wohltönendes Etikett und weniger als belastbares Konzept dazustehen (was man allerdings abwarten darf, immerhin sollen vier Bände mit Ausführungen folgen). 

Die Problematik wird aber nicht zuletzt an den zahlreichen Fotografien erkennbar, die die Texte des Bandes glossenhaft begleiten, jedoch jenseits dessen, dass sie die Breite der fotografischen Arbeiten Bourdieus zeigen, kaum ein eigenständiges Narrativ entwickeln. Sie gehen stattdessen in ihrer – böse gesagt: dekorativen - Serialität auf.

Die diskursive Problematik der Fotografie macht zudem plausibel, warum sie, selbst wenn Bourdieu sie in seinen Feldstudien intensiv einsetzte, im späteren Werk mehr und mehr in den Hintergrund trat, wie sie ja in der soziologischen Diskussion und Theoriebildung heute als eher nachrangig anzusehen sind. Die Distanz der Soziologie zu Sozialreportage ist so gesehen nicht erst ein jüngeres Phänomen, wie die Herausgeber andeuten, ja, nicht einmal zu bedauern, sondern in der Komplexität der soziologischen Theoriebildung begründet, die sich fotografisch nicht umsetzen ließe. Was sich wohl am Ende gut begründen lässt. Dass das fotografische Portfolio Bourdieus gerade im Zusammenhang mit seinen frühen Arbeiten aber eine intensive Auseinandersetzung verdient, bleibt davon unberührt. Bleibt also abzuwarten, was die vier angekündigten Bände davon vorführen werden.

Titelbild

Franz Schultheis / Stephan Egger: Pierre Bourdieu und die Fotografie. Visuelle Formen soziologischer Erkenntnis. Eine Rekonstruktion.
Transcript Verlag, Bielefeld 2022.
136 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783837658736

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