Zwischen Liebe und Unterwerfung, bürgerlicher Moral und Egoismus

Ein interdisziplinärer Sammelband analysiert Goethes Gretchen als „Dazwischen-Figur“

Von Torsten MergenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Mergen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Drama Faust ist nicht nur längst zum Theaterklassiker und zur schulischen Pflichtlektüre geworden, sondern gilt in der Germanistik weitgehend konsensual als Opus magnum in Goethes Œuvre. Umso überraschender ist der Befund, dass sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Dramenprotagonistin Margarete in „sehr engen Grenzen“ bewegt, wie das Fazit des kompakt-kundigen Vorworts im Sammelband Gretchen – Mörderin, Verführte, Unschuldige? lautet. Darin beschreiben die Herausgeber Denise Roth und Jost Eickmeyer den Forschungsstand zur weiblichen Hauptfigur und konstatieren eine Fokussierung auf das Motiv der „verführten Unschuld“ respektive auf das Thema „Kindsmord“. Die Kindsmordproblematik werde zudem häufig mit dem historisch-kriminologisch aufgearbeiteten Schicksal der Dienstmägde Susanne Margarete Brandt beziehungsweise Johanna Catharina Höhn abgeglichen, um vor diesem Hintergrund die literarische Figur Gretchen als sündige Kindsmörderin zu diskutieren.

Diese enge Perspektive auf die weibliche Hauptfigur in Goethes Drama intendierten die Gretchen-Tage 2015 im Faust-Museum/Faust-Archiv Knittlingen auf verschiedenen Wegen zu weiten. In acht Beiträgen und zwei Herausgeber-Paratexten zeigt der auf dieser Veranstaltung beruhende Sammelband, der in der Reihe „Beiträge zur neueren Literaturgeschichte“ des Universitätsverlags Winter erschienen ist, welche Chancen zur Neuinterpretation ein fokussierter Blick auf die „Welt der Kindsmörderin“, die Spezifik von „Goethes Gretchen“ sowie auf „Margarete performativ“ eröffnet. Die acht verschieden umfangreichen Beiträge zu diesen drei thematischen Blöcken beleuchten ebenso die soziale Lage historischer Kindsmörderinnen wie wesentliche ökonomische, ästhetische und poetologische Aspekte von Goethes Drama. Innovativ ist sicherlich, dass Praktiker aus Theater- und Opernwelt über dramaturgische und theaterpraktische Erfahrungen im Umgang mit dem „Fall Gretchen“ berichten.

Vorweggenommen sei an dieser Stelle einerseits die erkenntnisleitende Problemstellung des Sammelbandes: „Warum ist Margarete so häufig im Hintertreffen und wird auf wenige Schlagworte reduziert, obwohl doch der Text […] eine ganze Fülle von Deutungsmöglichkeiten bereit hält?“. Anderseits lautet das Fazit der beiden Herausgeber im Epilog des Bandes, „dass man aus dieser Figur [Gretchen] mehr herausholen kann, als die meisten Zuschauer oder Leser vielleicht denken“, da gerade Goethes Gretchen „zur Interpretation anregt“.

Was wird inhaltlich ‚herausgeholt‘ aus Gretchen? Einige Beispiele mögen die Zielsetzung des Bandes verdeutlichen. So widmet sich Manfred Ostens essayistischer Beitrag Fausts Liebesverrat an Gretchen unter Bezug auf das „rückhaltlose Erstauntsein durch die Liebe“, die eigentlich mehr als die schnelle Liebe eines in der „Hexenküche“ verjüngten ‚Jünglings‘ bedeute. Dies werde besonders in Faust II, genauer im fünften Akt, als einer Auflösung der Gretchentragödie deutlich: Faust werde dekonstruiert „als tragischer Protagonist der männlichen selbstzerstörerischen extremistischen Vernunft und Verräter der Liebe“, dessen prominentestes – aber keineswegs einziges – Opfer Gretchen sei.

Die Marburger Kulturwissenschaftlerin Marita Metz-Becker stellt die Kindsmordthematik in den größeren Kontext des Umgangs des aufgeklärt-modernen Staats mit Kindsmörderinnen am Ende des 18. beziehungsweise zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Anhand ausgewählter Fälle aus einem Konvolut von Kindsmordakten aus dem Marburger Staatsarchiv zeigt sie die Alltäglichkeit des Kindsmordes bei ledigen, aus der ländlichen Unterschicht stammenden Täterinnen, zumeist Dienstmägden oder Tagelöhnerinnen. Diese Gesellschaftsgruppe sei aus materiellen und psychologischen Notlagen in vielen Fällen zu der subjektiven Einsicht gelangt, sich nicht auf Mutterschaft einlassen zu wollen, da die Folgen von unehelichen Kindern das ohnehin labile Lebensgefüge weiter aus dem Lot gebracht hätte. Zugleich betont die Wissenschaftlerin plausibel die Spezifika der Kindsmörderin in Goethes Drama: Margarete werde als Tochter einer bürgerlichen Familie konturiert und habe vor allem aus bürgerlichen Tugenden wie Scham und Reue gehandelt, eine Gemeinsamkeit mit den historischen Kindsmörderinnen sei vorrangig der Versuch, ihre uneheliche Schwangerschaft und das folgende Mordverbrechen geheim zu halten.

Die sozioökonomische und somit sozialgeschichtliche Lesart der Gretchen-Figur wird im Beitrag „Am Golde hängt / Doch Alles.“ von Beate Laudenberg und Heike Knortz vertieft. Gestützt auf den Kapital-Begriff Pierre Bourdieus zeigen sie die schwierige, höchst ambivalente Situation, in der sich Gretchen als älteste Tochter persönlich, ökonomisch, sozial, kulturell und symbolisch befindet: „eine junge Frau ohne Nachnamen, Tochter ohne Vater, Schwester ohne Bruder(-liebe), […] Halbwaise ohne Erbrecht, Geliebte ohne Aussicht auf eine Ehe mit dem Kindsvater“.

Der Sammelband ist dem 2017 verstorbenen Gießener Theologieprofessor Wolfgang Achtner gewidmet. Dessen umfangreicher Beitrag beleuchtet „Fausts neues Religionsverständnis“: Er untersucht terminologisch wie theologisch fundiert die religiöse Prägung beziehungsweise Sozialisation Goethes vor dem Hintergrund der zeitgenössischen religiösen Landschaft und widmet sich der Leitfrage, was neu an Fausts Religionsverständnis ist: In Abgrenzung zu Pietismus, lutherisch-protestantischer Tradition und Pelagianismus sieht er Fausts Selbstentgrenzung als Erfahrung „von der eigenen inneren Göttlichkeit“, was zu einer neuen Religion des Gefühls führe, die er Gretchen gegenüber markant zum Ausdruck bringe: „Der Gott, der mir im Busen wohnt, / Kann tief mein Inneres erregen“. Insofern stelle die Faust-Figur mit ihrer expliziten, vitalistischen Gefühlsreligion einen (literarischen) Gegenentwurf zur religiösen Sozialisation Goethes dar.

Für Denise Roth kommt den erzählerischen Leerstellen in Goethes Faust eine bislang nur peripher bestimmte Rolle zu, das Drama ermögliche einen „intensiven Eindruck von Margaretes Charakter und Leben gerade durch die Abwesenheit der einzuführenden Figur“. Immer dann, wenn Gretchen durch Dritte beschrieben und charakterisiert werde, zeige sich, dass sie, die „eigentliche Gegenspielerin Mephistos“, für den Zuschauer beziehungsweise Leser ästhetisch durch eine „Gewissheit im Unbestimmten“ konzipiert sei. Schlüsselmomente des Dramas wie die Verabreichung des Gifttranks an die Mutter, die Liebesnacht von Faust und Gretchen sowie Gretchens Tötung des eigenen Kindes werden sukzessive und mosaikartig in den Dialogen eingestreut, um den „Lesern und Zuschauern wohldosierte Andeutungen zu übermitteln“. Roth zeigt höchst plausibel, dass diese „Lücken in der Gretchentragödie“ von Goethe genutzt werden, um in den Leerstellen vor dem Publikum das zu verstecken, was Gretchen im übertragenen Sinne „vor der Gesellschaft zu verstecken bemüht ist“. Auf diese Weise ermöglicht das Drama eine feinfühlige Identifikation des Publikums mit der weiblichen Hauptfigur im Allgemeinen und ihrer Tragik im Besonderen.

Mitherausgeber Jost Eickmeyer beleuchtet den Spiegel als Motiv des Dramas und hebt materialreich gestützt hervor, dass die Technik der (Zerr-)Spiegelung die Szenen „Walpurgisnacht“, „Dom“ und „Kerker“ prägen. Damit repräsentieren ‚Zerrspiegelungen‘ ein Strukturprinzip des Dramas.

Worin liegt nun der Reiz des dritten Teils des Sammelbandes, der „Margarete performativ“ übertitelt ist? Darin wird im Sinne von Best practice-Beispielen gezeigt, wie sich die Gretchenhandlung auf der Bühne inszenieren lässt. Besonders interessant sind unter anderem die Ausführungen zu der – zur Eröffnung der Knittlinger Gretchen-Tage vorgeführten – Performance Fall Gretchen / Gretchens Fall. Darin konterkarieren die Regisseure Susanne Hocke und Jürgen Larys, ausgehend von der Puppenspieltradition des Stoffs, die literarische Figur aus Goethes Drama mit dem historischen Vorbild Susanna Margaretha Brandt, indem sie ein Zwei-Personen-Stück präsentieren, das durch eine ungewöhnliche Rollenbesetzung – Gretchen und Mephisto werden durch eine Darstellerin verkörpert – und das unvermittelte Einflechten von Zeitdokumenten sowie eine explizite Montagetechnik Neugierde weckt.

Thomas Dietrichs Reflexionen der Regieerfahrungen im Passionsspielhaus Selzach liegt die Adaption des Gretchen-Stoffes in der Inszenierung von Charles Gounods Oper Faust zugrunde. Er betrachtet kritisch „Tendenzen der Überhöhung der Gretchenfigur“ und zeigt, wie das Theater zur Infragestellung von romantischen Verklärungen beitragen kann.

Resümierend betrachtet bietet der Sammelband ein interessantes Kaleidoskop verschiedener interdisziplinärer Perspektiven auf die Protagonistin in Goethes Drama, verbunden mit dem Plädoyer, sie als eigenständig handelnde Figur intensiver zu erforschen und kulturell zu interpretieren. Die fachkundig konzipierten Beiträge werden sicherlich einen Beitrag dazu leisten, dem Klischee von Gretchen als verführte Unschuld entgegenzuwirken und zu einer differenzierten Charakterisierung sowie Typisierung zu gelangen. Eine Hilfe für den Zugang zu der Thematik bietet der Sammelband auch durch ein umfangreiches Namensregister an. Der Band zeichnet ein facettenreiches Bild und ebnet im besten Sinne den Weg, um „neue Bedeutungsfacetten und Sinnschichten“ des Faust zu erschließen, wie dies Intention des Gesamtprojektes gewesen ist.

Titelbild

Denise Roth / Jost Eickmeyer (Hg.): Gretchen – Mörderin, Verführte, Unschuldige? Goethes Margarete in interdisziplinärer Perspektive.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2018.
255 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-13: 9783825365790

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch