Ein Gegner der Meinungsfreiheit
Über Goethes Gedicht „Rezensent“
Von Marcel Reich-Ranicki
Da hatt ich einen Kerl zu Gast,
Er war mir eben nicht zur Last,
Ich hatt so mein gewöhnlich Essen.
Hat sich der Mensch pump satt gefressen
Zum Nachtisch was ich gespeichert hatt!
Und kaum ist mir der Kerl so satt,
Tut ihn der Teufel zum Nachbar führen,
Über mein Essen zu raisonnieren.
Die Supp hätt können gewürzter sein,
Der Braten brauner, firner der Wein.
Der tausend Sackerment!
Schlagt ihn tot den Hund! Es ist ein Rezensent.
Alle Dichter schreiben schlechte Gedichte. Die guten Poeten unterscheiden sich von den schlechten nur dadurch, dass sie bisweilen auch gute Gedichte verfassen. Und wie ist es mit Goethe? Er genießt den Ruf, Deutschlands größter Lyriker zu sein. Das stimmt schon. Wenn es um die Poesie geht, kann ihm keiner das Wasser reichen. Aber natürlich hat auch er, der unverbesserliche Vielschreiber, zahlreiche mäßige oder schwache Gedichte produziert, gelegentlich sogar törichte. Doch das dümmste, das seiner Feder entstammt, ist wohl das Gedicht „Rezensent“, veröffentlicht im März 1774.
Über den unmittelbaren Anlass, der zu diesen Versen geführt hat, sind wir nicht informiert. Es mag sein, dass die Sache mit Christian Heinrich Schmid zusammenhing. Von diesem Gießener Professor der Dichtkunst und Beredsamkeit, der sich auch als Rezensent betätigte, hatte der junge Goethe offenbar keine hohe Meinung: Er sei – so in einem Brief vom 25. Dezember 1772 zu lesen – „ein wahrer Esel“ und obendrein ein „Scheiskerl“. Ob nun Schmid oder ein anderer – sicher ist, dass Goethe attackiert wurde und dass er kräftig zurückschlagen wollte. Dagegen bräuchte man noch nichts einzuwenden, wenn nur der Racheakt etwas intelligenter geraten wäre.
„Da hatt ich einen Kerl zu Gast …“ Hier stock’ ich schon. Warum hat jener, der hier berichtet – und wir können annehmen, dass es Goethe persönlich ist –, einen Kerl eingeladen, der einer von ihm verabscheuten Zunft angehört? Denn dass es ein Rezensent war, muss er gewusst haben. Die Selbstrechtfertigung lässt denn nicht auf sich warten: „Er war mir eben nicht zur Last …“ Eine auffallend dürftige Rechtfertigung: Seit wann lädt man jemanden, der einem nur „eben nicht zur Last“ fällt, zum Essen ein? Wollte Goethe gar den Rezensenten für sich einnehmen? Es scheint, dass diesen (doch naheliegenden) Verdacht der Hinweis entkräften soll, es habe keineswegs ein besonders üppiges Mahl gegeben, sondern bloß sein „gewöhnlich Essen“.
Worüber bei Tisch geredet wurde, erfahren wir nicht, stattdessen hören wir, der Gast habe kräftig zugegriffen und sich „pump satt gefressen“, was schwerlich als Vorwurf gelten kann. Indes habe er sich wenig später zu einem Nachbarn über das, was ihm vorgesetzt wurde, ungünstig geäußert. Das ist weder schön noch höflich. Wie aber, wenn die Suppe wirklich fad war und der Braten nicht knusprig genug und der Wein ein wenig sauer? Wie also, wenn – was wir nicht ausschließen können – der Unhöflichkeit der Mangel an Gastfreundschaft vorangegangen war? Hat vielleicht der Eingeladene einen Verstoß gegen die gesellschaftliche Konvention in Kauf genommen, um die Wahrheit sagen zu können? Ist es verwerflich, die Ehrlichkeit mehr zu schätzen als die Höflichkeit?
Die Frage erübrigt sich, weil wir es mit einem Gleichnis zu tun haben, und zwar mit einem solchen, das hinten und vorne nicht stimmt. Denn Goethe hat nichts anderes im Sinn als die Kritik. Aber der Rezensent, der sich der Arbeiten eines Schriftstellers annimmt, ist nicht von diesem hierzu ausgewählt und eingeladen worden und wird nicht von ihm bewirtet. Im Gegenteil: Er ist gehalten, das, was der Autor geleistet hat, zu prüfen und zu beurteilen und seine Meinung möglichst klar darzulegen, und zwar ohne sich darum zu kümmern, ob dies dem Betroffenen gefallen werde oder nicht.
Indem Goethe seine Leser auffordert, die Rezensenten totzuschlagen, entpuppt er sich als ein Anhänger der Todesstrafe und als ein Gegner der Meinungsfreiheit; überdies ist auch der Tatbestand der Volksverhetzung erfüllt. Und warum das alles? Kaum war das Gedicht „Rezensent“ gedruckt, da wurde Goethe öffentlich belehrt. Der Dramatiker Heinrich Leopold Wagner, den vor allem die Tragödie „Die Kindermörderin“ bekannt gemacht hat, publizierte ein Gegengedicht, das mit den Worten endet: „Schmeißt ihn todt, den Hund! Es ist ein Autor der nicht kritisiert will sein.“
Editorische und kommentierende Hinweise von Thomas Anz:
Diese Gedicht-Kritik von Reich-Ranicki ist zuerst im Rahmen der von ihm herausgegebenen Reihe „Frankfurter Anthologie“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 20. Januar 1990 (Bilder und Zeiten, S. 4) erschienen, 1991 dann in Band 14 der Buchreihe Frankfurter Anthologie (Gedichte und Interpretationen. Hg. von Marcel Reich-Ranicki. Frankfurt/M.: Insel, S. 29–32) und später u.a. in Marcel Reich-Ranicki: Goethe noch einmal. Reden und Anmerkungen. Stuttgart, München: Deutsche Verlags-Anstalt 2002 (Taschenbuch-Ausgabe München: dtv 2004), S. 127–130, sowie in Marcel Reich-Ranicki: Meine Geschichte der deutschen Literatur. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. von Thomas Anz. München: Deutsche Verlags-Anstalt 2014, S. 104-106. Carla Ranicki danken wir für die Genehmigung zur erneuten Veröffentlichung in literaturkritik.de.
Goethes 1773 oder 1774 entstandenes Gedicht ist zuerst ohne Titel im Wandsbecker Boten vom 9.3.1774, wenig später unter dem Titel „Der unverschämte Gast“ im Jahrgang 1775 des Göttinger Musenalmanachs und 1815 (etwas verändert) in der Rubrik „Parabolisch“ unter dem Titel „Recensent“ erschienen: in Goethe’s Gedichte (2 Bde. Stuttgart und Tübingen in der J. G. Cotta’schen Buchhandlung). In dieser Sammlung folgt dem Gedicht ein weiteres zum gleichen Thema: „Dilettant und Kritiker“. Es ist etwa zur selben Zeit entstandenen wie das andere. Verglichen wird hier der Kritiker mit einem Fuchs, dem ein Knabe (dilettantischer Leser im positiven Sinn) eine von ihm geliebte Taube (ein schönes Kunstwerk) zeigt. Der Fuchs bezweifelt ihre Schönheit, will sie nach seinem Geschmack verändern und zerfetzt dabei die Taube. Dem Knaben bricht das Herz. Das Gedicht endet mit den Versen: „Wer sich erkennt im Knaben gut, / Der sei vor Füchsen auf seiner Hut.“ Hier der vollständige Text:
Es hatt ein Knab eine Taube zart,
Gar schön von Farben und bunt,
Gar herzlich lieb, nach Knabenart,
Geätzet aus seinem Mund
Und hatte so Freud am Täubchen sein,
Daß er nicht konnte sich freuen allein.
Da lebte nicht weit ein Alt-Fuchs herum,
Erfahren und lehrreich und schwätzig darum;
Der hatte den Knaben manch Stündlein ergetzt,
Mit Wundern und Lügen verprahlt und verschwätzt.
„Muß meinem Fuchs doch mein Täubelein zeigen!“
Er lief und fand ihn strecken in Sträuchen.
„Sieh, Fuchs, mein lieb Täublein, mein Täubchen so schön!
Hast du dein‘ Tag‘ so ein Täubchen gesehn?“
„Zeig her!“ – Der Knabe reicht’s. – „Geht wohl an;
Aber es fehlt noch, manches dran.
Die Federn, zum Exempel, sind zu kurz geraten.“
Da fing er an, rupft‘ sich den Braten.
Der Knabe schrie. – „Du mußt stärkre einsetzen,
Sonst ziert’s nicht, schwinget nicht.“
Da war’s nackt – „Mißgeburt!“ – und in Fetzen.
Dem Knaben das Herze bricht.
Wer sich erkennt im Knaben gut,
Der sei vor Füchsen auf seiner Hut.
Zu Goethes Gegenüberstellung von ‚zerstörender‘ und ‚productiver Kritik‘ siehe den Beitrag von Dieter Lamping in dieser Ausgabe von literaturkritik.de.