Ein literarischer Mittler zwischen Russland und Europa

Zum 200. Geburtstag von Iwan Turgenjew

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Iwan Sergejewitsch Turgenjew (1818–1883) zählt mit Lew Nikolajewitsch Tolstoi (1828–1910) und Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821–1881) zum großen „Dreigestirn“ des russischen Romans in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. (Ein Begriff, der 1908 durch den deutschen Germanisten Richard M. Meyer (1860–1914) geprägt wurde.) Mit ihnen eroberte sich die russische Literatur einen Platz in der Weltliteratur. Doch anders als Tolstoi und Dostojewski oder zuvor Alexander Sergejewitsch Puschkin (1799–1837) und Nikolai Wassiljewitsch Gogol (1809–1852) war Turgenjew der weltoffene Europäer unter den klassischen Schriftstellern Russlands. Das war aber meist eine europäische (vor allem deutsche) Einschätzung; die russischen Leser dagegen sahen eher in Anton Pawlowitsch Tschechow (1860–1904) und vor allem in Nikolai Semjonowitsch Leskow (1831–1895) die dritte große Gestalt ihrer Nationalliteratur. Leskow, dem westeuropäische Einflüsse und Geisteshaltungen völlig fremd waren, wurde sogar als der russischste unter den russischen Dichtern verehrt.

Doch zurück zu Iwan Turgenjew, dessen 200. Geburtstag in diesem Herbst begangen wird. Er wurde am 9. November (jul. 28. Oktober) 1818 als Sohn eines Adeligen auf dem Gut Spasskoe im Gouvernement Orjol (Orel) geboren. Das alte Adelsgeschlecht besaß ausgedehnte Ländereien, zu denen Tausende Leibeigene gehörten. Der Vater hatte als ranghoher Husarenoffizier in der russischen Armee gedient. Iwan besaß zwei Brüder und eine Halbschwester. Zunächst wurden die Kinder von Privatlehrern unterrichtet, 1827 zog die Familie jedoch nach Moskau, um ihnen eine bessere Ausbildung in von deutschen Lehrern geführten Pensionaten zu bieten. Nach dem Schulabschluss studierte der junge Turgenjew Literatur in Moskau (1833/34) und Sankt Petersburg (1834–1837). Anschließend setzte er sein Studium in Berlin fort, wo er sich insbesondere mit der Philosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels befasste. Hier traf er auf Gleichgesinnte, die der jungen russischen Intelligenz angehörten, wie zum Beispiel den späteren Revolutionär und Anarchisten Michail Alexandrowitsch Bakunin (1814–1876), mit dem er die Studentenbude teilte. Sie verkörperten die „Westler“, die für Russland die Übernahme der europäischen Kultur anstrebten. In Berlin lernte Turgenjew auch Karl August Varnhagen von Ense, Alexander von Humboldt und Bettina von Arnim kennen. Letztere entfachte seine Begeisterung für Johann Wolfgang von Goethe. Die Auseinandersetzung mit dessen Werk sollte seine ästhetische Anschauung formen.

1834 war der Vater verstorben, sodass der junge Turgenjew in diesen Jahren finanziell von seiner herrischen und knausrigen Mutter abhängig war. Während seines Studiums hatte er bereits einige Gedichte und die Verserzählung Steno (1834/35) verfasst, die er selbst später als „eine sklavische Nachahmung des Byronschen Manfred“ bezeichnete. Nach seiner Rückkehr aus Berlin trat Turgenjew 1841 auf Wunsch seiner Mutter in den Staatsdienst ein, wo er bis 1845 im Innenministerium diente.

Das Jahr 1843 sollte für Turgenjew ein Schlüsseljahr, eine endgültige Wende zur Schriftstellerei werden – vor allem durch die Bekanntschaft mit Wissarion Grigorjewitsch Belinski (1814–1848), dem bedeutendsten Literaturkritiker Russlands zur damaligen Zeit. Belinski, der auch Gogol und Dostojewski zum literarischen Durchbruch verholfen hatte, lobte Turgenjews Verserzählung Parascha in einer längeren Rezension in den höchsten Tönen. Außerdem machte er ihn zum Mitarbeiter der wichtigen literarisch-politischen Zeitschrift Sowremennik (dt. Der Zeitgenosse), die Puschkin 1836 gegründet hatte. Neben Turgenjew waren auch Dostojewski, Tolstoi, Iwan Alexandrowitsch Gontscharow (1812–1891) oder Alexander Iwanowitsch Herzen (1812–1870) Mitarbeiter beziehungsweise Autoren des Journals. Neben Parascha und weiteren Gedichten entstand in diesem Jahr auch die dramatische, romantische Skizze Eine Unvorsichtigkeit (1843), der es aber an einem zeitgeschichtlichen Bezug fehlte. Auch später zeigte Turgenjew immer wieder Interesse für das Theater, aber ein größerer Erfolg auf diesem Gebiet blieb ihm versagt.

Auch privat wurde das Jahr 1843 für Turgenjew ein Wendepunkt. Er beendete eine längere Liaison mit Bakunins Schwester Tatjana (1815–1871). Neben dieser eher platonischen Liebe hatte er auf dem mütterlichen Landsitz eine Beziehung zu einer Lohnschneiderin, die im Mai 1842 die uneheliche Tochter Pelajega zur Welt brachte, die Turgenjew später in Frankreich und Deutschland aufziehen ließ. Nun, Ende Oktober 1843, lernte er in der Italienischen Oper von St. Petersburg während eines Gastspiels die frankospanische Sängerin Pauline Viardot-Gracia (1821–1890) kennen. Die Angebetete war jedoch bereits mit dem Kunst- und Literaturhistoriker Louis Viardot (1800–1883) verheiratet, der außerdem Leiter des Théâtre-Italien in Paris war. Mit beiden blieb Turgenjew lebenslang freundschaftlich verbunden. Pauline, immerhin Mutter von vier Kindern, sollte später auf allen großen Opernbühnen Europas triumphale Erfolge feiern. Wie Chronisten berichten, war sie keine ausgesprochene Schönheit, doch Turgenjew war von ihrer Erscheinung und ihrer Stimme so fasziniert, dass er sie Zeit seines Lebens anbetete. Fast täglich schrieb er Briefe an die regelrecht vergötterte Frau („Mein Gott, ich möchte mein ganzes Leben als Teppich unter Ihre lieben Füße, die ich 1000 mal küsse, breiten […]. Sie wissen, dass ich Ihnen ganz angehöre“.) und suchte stets ihre Nähe, was der Ehemann mehr als tolerierte. Über viele Jahre hinweg lebte das merkwürdige Trio in einer einträchtigen ménage à trois. Bis heute rätseln die Historiker, wieso der hochgebildete, gutaussehende und so umgängliche Adlige von hünenhafter Gestalt („ein sanfter Riese“) lebenslang auf ein eigenes Heim verzichtete und „am Rande eines fremden Nests“ lebte, wie er es selbst einmal formulierte.

Unter Belinskis Einfluss gelang es Turgenjew, die Romantik und die deutsche Philosophie zu überwinden und sich in zunehmendem Maße dem Realismus zuzuwenden. Trotzdem suchte er noch eine geraume Zeit nach der ihm gemäßen literarischen Form. So entstanden in den folgenden Jahren, in denen er sich häufig im Ausland aufhielt, neben der Verserzählung Das Gespräch (1845), dem Drama Geldnot (1846) und einigen Byron- und Goethe-Übersetzungen auch die ersten Prosaerzählungen Andrej Kolosow (1844) und Drei Porträts (1846). Aber erst mit den Aufzeichnungen eines Jägers, die ab 1847 über vier Jahre in der Zeitschrift Der Zeitgenosse veröffentlicht wurden, gelang ihm der literarische Durchbruch. Turgenjew wählte diesen harmlos klingenden Titel für seinen Novellen- und Skizzenzyklus, um die Zensur zu täuschen. Es ging jedoch nicht um irgendwelches Jägerlatein, Turgenjew beleuchtete neben dem bäuerlichen Russland vor allem das schwere Los der leibeigenen Bauern, die der Macht und dem Machtmissbrauch der Gutsbesitzer ausgeliefert waren.

In den Erzählungen durchstreift der Ich-Erzähler, ein naturliebender und jagdbegeisterter Adliger, meist in Begleitung seines Bediensteten die mittelrussische Landschaft und schildert als neutraler Beobachter seine Begegnungen und Gespräche mit der Landbevölkerung, durchsetzt mit farbigen Landschaftsbeschreibungen:

Die glänzenden Krähen und Dohlen blickten die Vorbeigehenden mit offenen Schnäbeln an, als flehten sie um Teilnahme; die Spatzen allein jammerten nicht und zwitscherten mit gesträubten Federn noch lauter als zuvor; sie kämpften an den Zäunen, flogen haufenweise von der staubigen Straße auf und schwebten als graue Wolken über den grünen Hanffeldern. Mich quälte der Durst. In der Nähe gab es kein Wasser; in Kolotowka, wie in den meisten Steppendörfern, trinken die Bauern in Ermangelung von Quellen und Brunnen einen flüssigen Schmutz aus dem Teich … Wer wird aber dieses ekelhafte Getränk Wasser nennen?

Durch ein Versehen der zaristischen Behörden erschien die Sammlung von 22 (insgesamt waren es wohl 30) Erzählungen 1852 in Buchform. Im März des Jahres verfasste Turgenjew einen Nachruf zum Tode Gogols (4. März 1852), der von der Zensurbehörde nicht genehmigt wurde, aber trotzdem in den Moskauer Nachrichten erschien. Daraufhin wurde er verhaftet und die Aufzeichnungen eines Jägers noch einmal gründlich unter die Lupe genommen. Mit dem Ergebnis, dass der verantwortliche Zensor, der zuvor die Druckgenehmigung erteilt hatte, entlassen wurde und Turgenjew für anderthalb Jahre auf sein Gut Spasskoe verbannt und unter Polizeiaufsicht gestellt wurde.

Die Aufzeichnungen eines Jägers begründeten nicht nur Turgenjews literarischen Ruhm, er hatte nun auch seinen eigenen poetischen Prosastil gefunden. Belinski bestärkte ihn ebenfalls darin: „Das ist Ihr richtiges Genre […]. Wenn ich mich nicht irre, liegt Ihre Berufung darin, die Erscheinungen der Wirklichkeit zu beobachten und darzustellen, indem Sie sie durch Phantasie hindurchgehen lassen; nicht aber, sich nur auf die Phantasie zu stützen.“ Als 1869 die siebenbändige Ausgabe seiner gesammelten Werke erschien, hatte Turgenjew diese Skizzen sogar an den Anfang gesetzt, was von nachfolgenden Editionen meist übernommen wurde.

Die Aufzeichnungen eines Jägers und die Erzählung Mumu, die während seines Arrestaufenthaltes in Spasskoe entstand, wurden häufig als russisches Pendant zu dem Roman Onkel Toms Hütte (1852) der amerikanischen Schriftstellerin und überzeugten Gegnerin der Sklaverei Harriet Becher Stowe (1811–1896) gesehen. Turgenjews Erzählung beruhte auf persönlichen Erlebnissen; so hatte er in der Figur der launischen Gutsherrin seine eigene Mutter dargestellt. Trotz dieser schriftstellerischen Erfolge geriet Turgenjew während seiner Spasskoe-Verbannung in eine ernste Schaffenskrise. Er wähnte sich sogar am Ende seiner Schriftstellerlaufbahn. Freunde und Leser erwarteten von ihm ein größeres Prosawerk, einen großen Roman. Der erste Versuch mit Zwei Generationen (1853) blieb unvollendet und auch von seinem ersten Roman Rudin (1855) war Turgenjew lange Zeit selbst nicht überzeugt.

Da Zar Nikolaus I. (1796–1855) während des Krimkrieges (1853–1856) ein allgemeines Reiseverbot erlassen hatte, konnte Turgenjew erst nach dem Tod Nikolausʼ I. und nach dem Ende des Krimkrieges in das von ihm innig geliebte Frankreich übersiedeln. In Paris, wo seine Aufzeichnungen eines Jägers 1854 in französischer Sprache erschienen waren, sah er nach sechsjähriger Pause seine geliebte Pauline wieder. Hier kam es auch zu einem Treffen mit Victor Hugo. In späteren Jahren verkehrte er nicht nur mit der Elite der französischen Literatur – Gustave Flaubert, Émile Zola, Guy de Maupassant, Prosper Mérimée, Alphonse Daudet oder die Gebrüder Goncourt –, sondern er hatte auch Kontakt mit anderen berühmten Schriftstellern und Schriftstellerinnen seiner Zeit (Henry James, Theodor Storm, Paul Heyse oder George Sand). Außerdem unternahm er zahlreiche Reisen, unter anderem nach England, Italien und in die Schweiz.

Nach der Schaffenskrise zu Beginn der 1850er Jahre begann Turgenjews wohl produktivste Phase als Schriftsteller. Ende 1856 erschien eine dreibändige Ausgabe seiner Erzählungen und Novellen, ein Jahr später der vielbeachtete Essay Hamlet und Don Quichote (wahrscheinlich angeregt durch Belinskis Betrachtung Hamlet. Deutung und Darstellung, 1838). In beiden Figuren sah Turgenjew zwei „ureigene, grundsätzliche Eigenschaften der menschlichen Natur verkörpert“. Literarisches Glanzstück dieser Jahre war jedoch der Roman Das Adelsnest (1859). Anhand einer zarten Liebesgeschichte schilderte Turgenjew darin den Zerfall des russischen Landadels. Der junge, reiche Gutsbesitzer Lavréckij heiratet die Generalstochter Varvára. Beide gehen nach Paris, wo sie ihn aber betrügt. Zurückgekehrt auf sein Gut, lernt Lavréckij die junge Liza kennen und zwischen beiden entwickelt sich eine tiefe Zuneigung. Als jedoch die totgeglaubte Varvára wieder auftaucht, geht Liza selbstaufopfernd ins Kloster; Lavréckij kann sich über moralische Konventionen nicht hinwegsetzen und ist zu eigenständigem Handeln nicht fähig. Der Roman endet in Resignation und entsprach Turgenjews Lebensgefühl in diesen Jahren. Neben der melodramatischen Geschichte begeisterte der Roman das Publikum (und die Kritik) auch durch viele einfühlsame Landschafts- und Naturbeschreibungen. Turgenjew sprach am Ende seines Lebens vom größten Erfolg, der ihm zuteilwurde: „Nach der Veröffentlichung dieses Romans galt ich als Schriftsteller, der die Aufmerksamkeit der Leserschaft verdient.“

In seinem dritten Roman Am Vorabend (1860) führte er mit dem emigrierten bulgarischen Revolutionär Insarow einen nichtadligen Intellektuellen erstmals in der russischen Literatur ein. Auch in seinem nächsten Roman Väter und Söhne (1862) (im Original Väter und Kinder) begegnete dem Leser mit dem Medizinstudenten Jewgeni Basarow eine revolutionäre Persönlichkeit. Dabei beginnt der Roman fast betulich, kommt geradezu „in Filzpantoffeln“ daher. Vor einem Gasthof an einer staubigen Chaussee wartet der Gutsbesitzer Nikolai Kirsanow mit seinem Kammerdiener Pjotr auf die Postkutsche. Mit ihr soll sein Sohn Arkadi eintreffen, der in Petersburg studiert hat. Während der Wartende mit untergeschlagenen Beinen dasitzt, breitet Turgenjew auf drei Seiten die Familiengeschichte aus. Erst dann setzt die Handlung ein. Der Sohn ist jedoch nicht allein gekommen, er hat seinen Kommilitonen Jewgeni Basarow mitgebracht, um gemeinsam auf dem Landgut seines Vaters und Onkels Pawel die Semesterferien zu verbringen. Während die adligen Kirsanows auf eine lange Familiengeschichte zurückblicken können, ist Basarows familiäre Tradition eher bescheiden. Und selbst diese verhöhnt er. Ein radikaler Nihilist, der keine Autorität anerkennt und alles Bestehende zerstören will. Er versteht sich als Repräsentant einer zukünftigen Gesellschaft; als angehender Arzt glaubt er, menschliche Dummheit und Niedertracht heilen zu können. Und so kommt es zu heftigen Streitgesprächen zwischen den Vertretern der alten Adelsordnung und eines „neuen“ russischen Menschen.

Doch dann lässt Turgenjew seinen aufbrausenden und spöttischen Materialisten straucheln: Basarow verliebt sich in die junge verwitwete, aber unerreichbare Gutsbesitzerin Anna Odincova, was er als eine unverzeihliche Narrheit, als eine Entgleisung seiner Prinzipien betrachtet. Als seine Gefühle nicht erwidert werden, offenbaren sich seine Schwächen: Einsamkeit und übertriebenes Selbstvertrauen. Schließlich infiziert er sich beim unvorsichtigen Sezieren eines an Typhus gestorbenen Bauern: „Basarow sollte nicht mehr aufwachen. Gegen Abend fiel er in vollkommene Bewusstlosigkeit, und am nächsten Tag starb er.“

Im Gegensatz zu Puschkins Eugen Onegin, Lermontows Petschorin oder Gontscharows Oblomow schuf Turgenjew mit Basarow einen starken, aber widerspruchsvollen Vertreter der revolutionären Jugend der 1850er Jahre. In dieser literarischen Auseinandersetzung der Generationen ist Basarow die zentrale Figur und „überhaupt eine der meistdiskutierten Gestalten der russischen Literatur im neunzehnten Jahrhundert“ (Hanjo Kesting). Er ist jedoch kein Verehrer der schönen Künste und erst recht kein Kämpfer für die Unterdrücker. Das Schicksal der Bauern ist ihm gleichgültig und die halten ihn für einen „Hanswurst“:

Basarow begab sich manchmal ins Dorf und fing dort nach seiner Gewohnheit in spöttischem Ton ein Gespräch mit dem ersten besten Bauern an. „Setz mir einmal deine Gedanken auseinander“, sagte er zu ihm; „man will behaupten, ihr bildet die Kraft und die Zukunft Rußlands, mit euch beginne ein neuer Abschnitt unserer Geschichte; ihr werdet uns unsere wahre Sprache und gute Gesetze schaffen.“ Der Bauer schwieg oder stotterte, wennʼs hoch kam, einige Worte wie: „In der Tat, wir könntenʼs wohl, weil überdies … nach der Vorschrift zum Beispiel, die wir haben.

Turgenjew hatte seinen Roman bewusst im Jahre 1859 angesiedelt, genau zwischen zwei fundamentalen historischen Ereignissen für Russland (der Niederlage im Krimkrieg (1856) und der Aufhebung der Leibeigenschaft durch Zar Alexander II. (1861)) – und damit in einer Phase zwischen Erniedrigung und Aufbruchsstimmung des Landes.

Nach dem Erscheinen des Romans wurde dieser selbst zum Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen und Turgenjew musste Kritik von vielen Seiten einstecken. Besonders aus dem linken Lager gab es scharfe Angriffe; viele Vertreter eines neuen Russlands sahen in dem Werk eine „Verleumdung der jungen Generation“. Und tatsächlich wurden die damaligen russischen Revolutionäre mit dem Etikett „Nihilisten“ versehen, was Turgenjew jedoch nicht beabsichtig hatte. Aufgrund der vielen, teilweise groben Angriffe wollte er sogar den Schriftstellerberuf aufgeben. Auch im europäischen Ausland wurde der Roman viel gelesen und diskutiert. Seine Zeitlosigkeit und Überzeugungskraft haben auch nachfolgende Generationen fasziniert und so gehört Väter und Söhne nicht nur zu den populärsten Werken der russischen Literatur, sondern auch zu den Klassikern der Weltliteratur. Erinnert sei an die Äußerung von Thomas Mann: „Wenn ich auf eine einsame Insel verbannt würde und nur sechs Bücher mitnehmen dürfte, so würden zweifellos Turgenjews Väter und Söhne dabei sein.“

1863 verließ Turgenjew Russland endgültig und kehrte nur in den Sommermonaten zurück. Er wählte Baden-Baden als seinen ständigen Wohnsitz. Nicht ohne Grund – in der „Sommerhauptstadt Europas“ hatte sich ein Jahr zuvor die Familie Viardot niedergelassen, nachdem sich Pauline von der Pariser Opernbühne zurückgezogen hatte. Turgenjew erwarb das benachbarte Grundstück und ließ dort eine Villa errichten, die er allerdings aus finanziellen Gründen verkaufen musste und nur als Mieter einzog. So war er nicht nur täglicher Gast der Viardots, in gemeinsamer Arbeit entstanden auch drei Operetten (Turgenjew als Librettist, Pauline Viardot als Komponistin), die auf einer privaten Opernbühne aufgeführt wurden – immerhin auch vor prominenten Zuschauern wie dem preußischen Königspaar, Clara Schumann oder Anton Grigorjewitsch Rubinstein. Übrigens war Pauline Viardot damit die erste Komponistin, deren Werk auf einer deutschen Bühne aufgeführt wurde.

In den Baden-Badener Jahren (unterbrochen von einigen Parisbesuchen) entstanden einige Erzählungen, unter anderem Gespenster (1864), Der Hund (1866) oder Eine Unglückliche (1869). In der weniger bekannten Novelle Ein König Lear der Steppe (1870) beschäftigte sich Turgenjew noch einmal mit einer Shakespeare-Figur, deren Schicksal er mit der russischen Geschichte verknüpfte. Mit seinem Roman Rauch (1867) setze Turgenjew der Stadt Baden-Baden ein literarisches Denkmal. Der mondäne Kurort war Aufenthaltsort vor allem für Aristokraten und politische Emigranten aus Russland, mit denen sich Turgenjew kritisch auseinandersetzte.

Mit dem Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges war es mit der Idylle Baden-Badens jedoch vorbei. Die Familie Viardot musste Deutschland verlassen und hielt sich vorübergehend in London auf. Erst nach Kriegsende konnte man nach Paris zurückkehren, wohin auch Turgenjew folgte. Gemeinsam erwarben sie 1875 eine Villa in Bougival bei Paris. Wenig später ließ sich Turgenjew daneben ein Sommerhaus mit Blick zur Seine bauen. Inzwischen fast 60 Jahre alt, kränkelte er häufig. Trotzdem unternahm er in diesen Jahren noch mehrere Russlandbesuche, wobei ihm 1879 von der Gesellschaft der Freunde der russischen Literatur und der St. Petersburger Künstlervereinigung die Ehrenmitgliedschaft verliehen wurde. Im selben Jahr ehrte ihn die Universität Oxford für seine literarischen Verdienste mit der Ehrendoktorwürde.

In den 1870er Jahren entstanden einige Erzählungen, ehe sich Turgenjew nach zehn Jahren mit Neuland (1877) noch einmal an ein Romanprojekt wagte. In seinem sechsten und letzten Roman, der während eines mehrmonatigen Aufenthaltes in Spasskoe entstand, setzte er sich mit der aktuellen Situation der russischen Gesellschaft, vor allem der Volkstümler-Bewegung, auseinander. Der uneheliche Sohn eines Adligen, Student und Mitglied einer Verschwörergruppe scheitert als Revolutionär und erschießt sich schließlich. Der Roman wurde ein Fehlschlag, wie Turgenjew sich selbst eingestehen musste: „Ich bin mit meiner Arbeit selbst nicht zufrieden“ und „Ich wurde niemals in den Zeitschriften so einmütig verurteilt.“ Er machte das lange Fernbleiben von seiner russischen Heimat dafür verantwortlich, deren Veränderungen und Probleme er nur als Außenstehender wahrgenommen hatte. Ein Urteil, das über ein Jahrhundert von den Kritikern übernommen wurde; erst in letzter Zeit erkennt man die literarische Qualität seines letzten Romans.

Turgenjews Gesundheitszustand verschlechterte sich zusehends. 1882 wurde er bettlägerig und die konsultierten Ärzte gaben zahlreiche Diagnosen ab; letztendlich soll es sich um Rückenmarkkrebs gehandelt haben. Im Januar 1883 musste sich Turgenjew einer Operation unterziehen, doch sein Zustand war hoffnungslos. Er hatte unerträgliche Schmerzen, sodass er zu Morphium greifen musste. Die letzten Monate sollen schrecklich gewesen sein: Turgenjews Geist war zerrüttet und Selbstmordgedanken plagten ihn. Stets umsorgt wurde er von Pauline Viardot, die im Mai ihren Mann verloren hatte. Am 3. September 1883 (jul. 22. August) wurde Turgenjew schließlich erlöst. Sein Sarg wurde mit der Eisenbahn nach St. Petersburg überführt. Hunderttausende begleiteten seinen letzten Weg zum Wolkow-Friedhof, wo er – wie er es sich gewünscht hatte – „bei Belinski“ beigesetzt wurde.

Der sprach- und sprachenmächtige Iwan Turgenjew war einer der bedeutendsten Schriftsteller in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Mit seinem Werk, das beinahe fast alle literarischen Genres umfasste, hat er der russischen Literatur erstmals europäische und Weltgeltung verschafft. Seine Prosawerke gehören zusammen mit den Romanen Tolstois und Dostojewskis zu den Höhepunkten des russischen Realismus. Doch verglichen mit deren gewaltigen epischen Werken war er ein Liebhaber der kleinen Form. Ein brillanter Erzähler, der den „poetischen Realismus“ entwickelte – ähnlich wie Theodor Storm in Deutschland. So verband Turgenjew seine Gesellschaftskritik stets mit Liebesbeziehungen, deren Protagonisten sich mit den unterschiedlichsten Intrigen und den eigenen Unzulänglichkeiten auseinanderzusetzen hatten. Obwohl mit Leib und Seele Russe, war Turgenjew ein Vermittler zwischen seinem Vaterland und der westlichen Zivilisation. Jedes neue Werk von ihm erschien damals fast zeitgleich in russischer, deutscher, französischer und englischer Sprache. Ein „Kosmopolit“ vor 150 Jahren.

Bereits zu Lebzeiten, von 1869 bis 1884, erschien bei E. Behre (Mitau) eine deutsche Sammlung Ausgewählte Werke, die von Turgenjew selbst autorisiert war – und so verwundert es nicht, dass jetzt zahlreiche Verlage seinen 200. Geburtstag zum Anlass nehmen, um einige Werke des Schriftstellers neu aufzulegen. Im Vordergrund steht dabei sein Roman Väter und Söhne, der im Deutschen Taschenbuch Verlag in einer Neuübersetzung von Ganna-Maria Braungardt herauskam. Der Hörverlag steuert eine historische Hörspielbearbeitung aus dem Jahre 1974 bei. Hier sind noch einmal die Stimmen von Gert Westphal (Erzähler), Gerd Böckmann, Siegfried Lowitz oder Horst Tappert zu hören.

Der Manesse Verlag hat sich dagegen für Turgenjews Roman Das Adelsnest entschieden, und zwar im Rahmen einer Neuübersetzung (Christiane Pöhlmann) unter dem Titel Das Adelsgut. In den editorischen Notizen wird die Abweichung von dem althergebrachten Titel mit der russischen Idiomatik begründet. Von der Slawistin Vera Bischitzky liegen gleich zwei neue Turgenjew-Übersetzungen vor: Aufzeichnungen eines Jägers (Hanser) und die Erzählung Erste Liebe (1860, C.H. Beck), in der Turgenjew am Beispiel der Verliebtheit eines 16-Jährigen zu einer fünf Jahre älteren Frau die Erfahrung der ersten Liebe beschrieb. Der Autor verarbeitete in diesem wahrscheinlich seine erste Liebe. In ihrem Nachwort vermutet Vera Bischitzky außerdem, dass er hier einige Hintergründe für sein selbstgewähltes Junggesellenleben preisgab.

Der Insel Verlag würdigt das Turgenjew-Jubiläum mit zwei Neuerscheinungen: einem Sammelband seiner Schönsten Liebesgeschichten und einer Betrachtung der unkonventionellen Beziehung Iwan Turgenjew und Pauline Viardot. Eine außergewöhnliche Liebe (erscheint voraussichtlich am 11. November). Dabei haben die beiden Autorinnen Ursula Keller und Natalja Sharandak neben den Erinnerungen der Zeitgenossen auch die biografischen Forschungen der letzten Zeit einfließen lassen, die das Verhältnis in einem ganz neuen Licht zeigen. Erwähnt sei auch das reich illustrierte Bändchen Iwan S. Turgenjew in Heidelberg von Roland Krischke, das bereits 2014 im Mitteldeutschen Verlag erschien. Während seiner Baden-Badener Jahre weilte Turgenjew häufig in der Stadt am Neckar, die auch in mehreren seiner Romanen eine wichtige Rolle spielt. Im heutigen Heidelberg sucht man allerdings fast vergeblich nach Spuren des russischen Schriftstellers.

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Iwan Turgenjew: Väter und Söhne. Roman.
Herausgegeben und aus dem Russischen übersetzt von Ganna-Maria Braungardt.
dtv Verlag, München 2018.
335 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783423281386

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Iwan Turgenjew: Väter und Söhne.
Hörspielbearbeitung von Hellmut von Cube.
Der Hörverlag, München 2018.
2 CDs, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783844530124

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Iwan Turgenjew: Erste Liebe. Neu übersetzt und kommentiert von Vera Bischitzky.
Verlag C.H.Beck, München 2018.
110 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783406727573

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Roland Krischke: Iwan S. Turgenjew in Heidelberg.
Mitteldeutscher Verlag, Halle 2014.
72 Seiten, 7,95 EUR.
ISBN-13: 9783954622351

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Iwan Turgenjew: Das Adelsgut. Roman.
Mit einem Nachwort von Michail Schischkin.
Übersetzt aus dem Russischen von Christiane Pöhlmann.
Manesse Verlag, München 2018.
379 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783717524489

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Iwan Turgenjew: Aufzeichnungen eines Jägers.
Mit einem Nachwort und Anmerkungen.
Übersetzt aus dem Russischen von Vera Bischitzky.
Carl Hanser Verlag, München 2018.
638 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783446260184

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Iwan Turgenjew: Die schönsten Liebesgeschichten.
Herausgegeben von Ursula Keller und Natalja Sharandak.
Insel Verlag, Berlin 2018.
426 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783458363583

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Ursula Keller / Natalja Sharandak: Iwan Turgenjew und Pauline Viardot. Eine außergewöhnliche Liebe.
Insel Verlag, Berlin 2018.
278 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783458177692

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